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Frühförderung und Frühe Hilfen - Einführung in Theorie und Praxis

Frühförderung und Frühe Hilfen - Einführung in Theorie und Praxis

Manfred Pretis

 

Verlag ERNST REINHARDT VERLAG, 2020

ISBN 9783497613472 , 253 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz DRM

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38,99 EUR

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Frühförderung und Frühe Hilfen - Einführung in Theorie und Praxis


 

2    Arbeitsprinzipien und Schlüsselkonzepte früher Unterstützungssysteme

2.1   Menschenbildannahmen

Frühförderung und Frühe Hilfen kennzeichnet generell ein Menschenbild der Entfaltung, des Wachstums, der Veränderung, der eigenaktiven Aneignung und des Ausbaus von Potentialen. Durch diese generelle Resilienzorientierung (Pretis/Dimova 2019) unterscheidet es sich von einem – meist auf älteren medizinischen Modellen basierenden – Fokus auf Störungen (ICD 10), Abweichungen (die sich häufig in Definitionen im Rahmen von Behindertengesetzen finden), Beeinträchtigungen oder der Risikofaktorenforschung. Dieser Fokus auf „Resilienz“ bedeutet (in aller Unschärfe des Begriffes und einer gewissen Inflation seiner Verwendung), dass es darum geht, trotz schwieriger Umstände (neue) Fähigkeiten zu erwerben oder erlernte Mechanismen zu aktivieren, um eine möglichst gesunde Entwicklung unter belastenden bzw. risikoreichen Bedingungen zu ermöglichen (Rutter 1985; Petermann/Schmidt 2006). Kritisch angemerkt werden muss jedoch, dass die in diesem Kontext verwendeten Begriffe, inklusive der „Resilienz“ selbst, zwar im Regelfall emotional positiv besetzt, jedoch häufig sehr unscharf definiert sind. Es wird später (Kap. 3 und 5.7.) noch erläutert, dass es ohne Interpretationen/Assessments/Evaluationen/Bewertungen nicht geht, wenn auch in diesem Buch vornehmlich Bewertungen gemeint sind, die auf evidenzorientierten Indikatoren basieren, d. h. darauf, was wir beobachten können. Frühe Fördermaßnahmen müssen in der Regel solche Bewertungen, dass eine Kompetenz noch zu erwerben ist oder defizitär formuliert „Abweichungen vom typischen Entwicklungsalter“ vorliegen, berücksichtigen, da diese Interpretationen in der Regel notwendig sind, um frühe Förderleistungen (von staatlicher Seite unterstützt) zu erhalten. Auf privat in Anspruch genommene Unterstützungsleistungen, die in der Regel im mitteleuropäischen Kontext für Kinder mit Entwicklungsschwierigkeiten aufgrund hoher entstehender Kosten kaum in Frage kommen, soll hier nicht Bezug genommen werden.

Die zugrundliegenden Menschenbildannahmen der Selbstbefähigung, der Entfaltung, der größtmöglichen Teilhabe in relevanten sozialen Zusammenhängen etc. spiegeln sich auf konzeptioneller Ebene meist durch ableitbare Schlüsselbegriffe wie „Ressourcenorientierung“, „Ganzheitlichkeit“, Familienorientierung“ sowie „inter- oder transdisziplinärer Kooperation“ relevanter Akteure wider.

Durch die konzeptionelle Vieldeutigkeit dieser Begriffe besteht auch die Gefahr, dass diese zu „Leerformeln“ werden, da nicht ganz klar definiert oder operationalisiert (im Sinne von Messbarkeit/Beobachtbarkeit) ist, was genau darunter zu verstehen sei. Aufgrund dieser fehlenden Operationalisierung der Schlüsselbegriffe können in der Praxis damit auch unterschiedliche Handlungsweisen einhergehen (Pretis 1998). Guralnick (2005a) warnt sogar vor einer gewissen Gefahr der Willkür in der professionellen Umsetzung einzelner Konzepte, wenn damit nicht klar beobachtbare/messbare/schätzbare/kommunizierbare Handlungen verbunden sind.

 BEISPIEL 

In Familie A könnte aus der Sicht der Fachkraft X „Familienorientierung“ bedeuten, möglichst viele Mitglieder in die Förderung des Kindes einzubeziehen.

In Familie B könnte (aus der Sicht der Fachkraft Y) Familienorientierung bedeuten, die Mutter möglichst stark zu entlasten und die Förderung allein mit dem Kind durchzuführen, während die Mutter sich ausruht.

Trotz der Bezugnahme auf dasselbe Konstrukt „Familienorientierung“ könnten sich theoretisch zwei völlig unterschiedliche professionelle Handlungen ergeben. Damit droht der Begriff jedoch „willkürlich“ und inhaltsleer zu werden. Damit ist niemandem geholfen.

Dazu kommt, dass diese positiv besetzten Begriffe zwar über lange Zeiträume hinweg ein Alleinstellungsmerkmal früher Interventionen darstellten. Dies betraf vor allem die „Familienorientierung“. In der gegenwärtigen Auseinandersetzung würde jedoch kaum mehr eine Fachkraft aus dem weiten Bereich „bio-psycho-sozialer“ Interventionen bei Kindern äußern, „nicht familienorientiert“, „nicht ressourcenorientiert“ oder „nicht ganzheitlich“ zu arbeiten.

Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist somit verstärkt zu beobachten, dass jene ursprünglich als Alleinstellungsmerkmale verwendeten Arbeitsprinzipien der Frühförderung bei fast allen Fachkräften im Frühbereich „angekommen“ sind, wenn auch möglicherweise nur als Lippenbekenntnis: Kaum ein Ergotherapeut, Physiotherapeut, Logopäde, Arzt, Sozialarbeiter etc. würden heute – befragt in Bezug auf seine Arbeitsprinzipien – angeben nur „symptom“- bzw. „defizitorientiert“, „separierend“ allein mit dem Kind (unter Ausschluss der Eltern) oder spezifisch auf einzelne Körperfunktionen fokussiert zu arbeiten. Viele Arbeitsprinzipien der Frühförderung und Frühen Hilfen finden sich am Beginn des 21. Jahrhundert somit im Mainstreamverständnis benachbarter Unterstützungs- und Hilfsangebote. Das spricht zwar für die Bedeutung dieser Arbeitsprinzipien in der Förderung, Begleitung und Behandlung von Kleinkindern und deren Familien, könnte jedoch die Position der spezifischen Maßnahmen ein wenig „verwässern“. Erste Tendenzen sind dabei bereits in Österreich mit der verstärkten Sozialraumorientierung von Leistungen beobachtbar: Im Bereich von Familien mit verringerter Resilienz (ehemals als sozial benachteiligte oder marginalisierte Familien bezeichnet) wird kaum mehr zwischen den Interventionsformen bzw. -methoden einzelner Berufsgruppen unterschieden. Es besteht die Gefahr, dass letztendlich jede Fachkraft (ob Frühförderer, Sozialpädagoge, Psychologe) alles macht und selbstredend „familienorientiert“, „ganzheitlich“ etc. arbeitet. Dazu kommt, dass auch ein weiteres (historisches) Alleinstellungsmerkmal, und zwar die aufsuchende Arbeit im natürlichen Umfeld des Kindes, großen Veränderungen unterliegt, weil auch zu beobachten ist, dass – zwar regional sehr unterschiedlich – bis zu 60 % der (Früh-)Fördermaßnahmen an anderen Orten als der häuslichen Umgebung stattfinden, z. B. im Kindergarten oder im Förderzentrum. Am Beispiel Thüringen (Hartmann/Schu/Reber 2004) oder im Rahmen der bayrischen Franzl-Studie (Höck 2012) konnte dies empirisch erhoben werden. Dazu kommt, dass auch der Begriff der „natürlichen“ Umgebung des Kindes durch familiensoziologische Veränderungen wie z. B. der Berufstätigkeit der Frauen (dies betrifft vor allem den westeuropäischen Kontext) Veränderungen unterliegt. Viele Kleinkinder werden verstärkt institutionell außerhalb der Familie betreut. 2017 gaben 33 % der deutschen Eltern an, ihr Kind bis zu 30 Stunden pro Woche (außerhalb der Familie) in Kinderkrippen oder bei Tagesmüttern bzw. –vätern betreuen zu lassen (Statista 2020). Der Verweis auf westeuropäische Tendenzen ist deshalb wichtig, da im osteuropäischen Kontext (beispielsweise in der ehemaligen DDR) die außerfamiliäre Betreuung im Sinne flächendeckender Betreuungssysteme historisch sehr viel stärker verankert war.

Was bedeutet dies für frühe Interventionen? Gerade die Frühförderung – stärker als die Frühen Hilfen, die bevölkerungsstatistisch eine sehr viel größere Gruppe betreffen (Tab. 1), läuft durch die generelle soziale Erwünschtheit und eine tendenzielle inhaltliche Willkür der verwendeten Begrifflichkeiten Gefahr, ihren wichtigen Platz in der Begleitung und Förderung von Kindern mit Entwicklungsschwierigkeiten und deren Familien einzubüßen. Aufgrund einer zu beobachtenden verstärkten Liberalisierung von Leistungen (vor allem in sich entwickelnden Ländern im Osten Europas) ist auch ein starker Impuls von Seiten privater, (vornehmlich) profitorientierter Institutionen in Richtung Förderung, Behandlung oder Begleitung zu beobachten. Bei gleichzeitig erlebter Ressourcenknappheit der öffentlichen Hand werden etablierte Leistungsanbieter verstärkt daran arbeiten müssen, das spezifische Leistungsprofil oder die spezifische evidenzorientierte Wirksamkeit bzw. Effizienz von frühen Fördermaßnahmen hervorzuheben. Dabei unterscheiden sich die Frühen Hilfen und die Frühförderung deutlich: Durch die verstärkte Lenkung durch den Staat (über die allgemeinen sozialen Dienste) im Bereich Früher Hilfen betrifft dies v. a. die Frühförderung, da Lenkungs- und Steuerungsfunktionen bei letzteren dezentraler und weniger indikatorengestützt abzulaufen scheinen. Mit Ausnahme von Amtsärzten und Hilfeplanern, sofern vorhanden und sich dazu in der Lage sehend, wer schätzt zurzeit in der Regel die Wirksamkeit von Frühförderung extern ein? Wir...