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Carmen

Carmen

Ina Klein

 

Verlag ModernLinePublishing, 2020

ISBN 9783969171509 , 164 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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5,99 EUR

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Carmen


 

I.


 

 

Ich schaute zu, wie meine Mutter ein schönes Kleid herauslegte. Dazu eine weiße Strumpfhose. Dann fing sie an, mich anzuziehen. So ein schönes Kleid hatte ich ganz selten an. Mama frisierte mir die Haare und machte mir einen Zopf. Die ganze Zeit schwieg sie und irgendetwas schien in der Luft zu liegen. Nachdem ich schön angezogen und hübsch frisiert war, setzte sie mich auf einen Sessel und steckte meine kleinen Füße in rote Stiefel. Zuletzt stellte sie mich auf den Boden, nahm den Mantel und zog ihn mir über. Dazu Mütze und Fäustlinge. Fertig angezogen stand ich da und wartete. Auch sie nahm ihren Mantel und zog Stiefel an. Sie nahm mich an der Hand, wir gingen hinaus und stapften durch den Schnee. Sie redete kein Wort und irgendetwas veranlasste auch mich zu schweigen. Wir gingen langsam die Straße entlang und plötzlich wusste ich, wohin wir gingen: zum Haus von der Oma. Ich freute mich darauf, denn da gab es immer irgendetwas Gutes. Als wir in die große Küche kamen, waren viele Leute da. Alle redeten nur ganz leise miteinander. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen und neugierig spähte ich hinein. Da kam ein Mann heraus, zu dem die Mama sagte:

»Grüß Gott, Herr Doktor.« Sie reichten einander die Hände und zu mir sagte der Mann:

»Uroma tut schlafen.« Und weg war er.

Mama hielt mich ganz fest an der Hand und langsam gingen wir ins Schlafzimmer. In einem großen Bett lag die Uroma. Sie hatte eine große dicke Decke, die gar nicht verknittert war. Über der Brust waren ihre Hände gefaltet. Gleichzeitig hielt sie damit einen Rosenkranz fest. Am Bettrand standen große Kerzenständer mit großen Kerzen darauf, die alle angezündet waren. Auch ein paar Blumen standen da. Das Gesicht der Uroma war ganz weiß. Fast wie die Tuchent. Aber sie schaute so schön aus. Immer wieder blickte ich auf dieses Gesicht. Und wie ruhig sie dalag. Ich frage Mama:

»Darf ich zur Uroma ins Bett? Ich möchte bei ihr schlafen.«

Mama schaute so seltsam aus, irgendwie so anders. Die anderen Leute blickten mich böse an, weil ich das gesagt hatte. Nur die Mama nicht. Sie hob mich hoch und sagte leise zu mir:

»Das geht nicht, die Uroma tut schlafen.«

Da sah ich eine Träne über die Wange rollen. Das hatte ich bei Mama noch nie gesehen. Ich legte meinen Kopf auf ihre Schulter und streichelte mit meiner Hand über ihre Wange. Ihre Haut war weich und warm. Ziemlich abrupt stellte sie mich wieder auf den Boden. Sie drehte sich um, ging und ließ mich einfach alleine stehen. Vorsichtig schaute ich mich um. So viele fremde Leute standen herum; flüsterten oder schwiegen.

Leise schlich ich mich zum Bett der Uroma. Ich wollte unter ihre Bettdecke schlüpfen. Gerade als ich die Decke ein bisschen anhob, packten mich große starke Hände und trugen mich in die Küche hinaus.

»Du bleibst jetzt da«, wurde streng gesagt. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Innen drinnen tat es so weh. Ich durfte nicht zu meiner Uroma. Ich wollte zu ihr, mich unter ihrer Decke verkriechen und ganz bei ihr sein. Aber ich getraute mich nicht mehr, ins Schlafzimmer zu gehen. Neben dem Ofen sah ich die Katze schlafen. Ich ging hin, setzte mich ganz nahe zu ihr und wartete. Tränen rollten lautlos über meine Wangen, doch die Katze ließ sich streicheln, immer wieder, immer wieder.

Zu dieser Zeit war mir vom ganzen Tag der Abend am liebsten, weil dann Papa heimkam. Immer wenn er jausnete, durfte ich auf seinem Schoß sitzen. Meistens aß er Speck und Topfenaufstrich. Auch ich liebte den Speck, aber nur das magere Fleisch. Papa aß bereitwillig immer das Fette. Wenn ich auf seinem Schoß saß, fühlte ich mich so groß und sicher. Ich liebte Papa sehr. Er war mein Papa und in den Augenblicken auf seinen Knien spürte ich diese Liebe ganz stark. Ich glaubte, auch mein Papa war sehr glücklich darüber. Nur ich durfte das tun, niemals meine Brüder. Manchmal überlegte ich, ihn zu umarmen, ganz fest zu drücken, um ihm zu zeigen, wie lieb ich ihn hatte. Aber irgendetwas hielt mich davon ab.

Manchmal war ich verwirrt: Immer dann, wenn meine ältere Schwester da war, durfte sie auf seinem Schoß sitzen. Da war Papa auch ganz anders als sonst. Er lachte und scherzte mit Edith, wie er es mit mir nie tat. Dabei war es mit Edith ohnehin ganz seltsam. Sie sagte zwar, sie sei meine Schwester, aber sie war fast nie da. Sie hatte nämlich auch noch andere Eltern. Meine Tante Karin und Onkel Kurt waren ihre Pflegeeltern. Zu denen sagte sie Mutti und Vati. Aber zu meinen Eltern sagte sie Mama und Papa. Wer auch immer ihre richtigen Eltern waren, wenn sie bei uns zu Hause war, drehte sich alles um sie. Edith hin und Edith her. Um mich wurde nie so ein Griss gemacht, aber sie war ja etwas Besonderes. Ganz besonders wütend war ich, weil sie mir Papa wegnahm. Zudem durfte sie so vieles tun und sagen, das ich niemals gedurft oder mich auch nur annähernd getraut hätte. So sagte sie einmal zu Papa, er sei dick und fett. Als ich das hörte, fing ich an zu zittern und wartete, dass Papa zu schreien anfing oder Edith schlug. Aber nichts geschah. Er tat so, als hätte er es gar nicht gehört, und sagte zu ihr, sie sei seine besondere Tochter. Ich wünschte mir, dass sie bald wieder zu ihrer Mutti und ihrem Vati verschwand. Dort war sie das einzige Kind. Da musste sie mir wirklich meinen Papa nicht wegnehmen. Und ich musste ohnehin meine Eltern schon mit vier Brüdern teilen. Das war doch wahrlich genug. Sie passte auch gar nicht in unsere Familie.

Wenn es Streit gab zwischen Edith und mir, so bekam ohnehin immer ich die Schuld. Ganz besonders schlimm erlebte ich, wenn sie etwas angestellt oder irgendwelche Bauwerke von meinen Brüdern kaputtgemacht hatte, sie sich zu Mutti und Vati vertschüsste.

»Ich muss jetzt heim«, sagte sie nur und war weg. Ich musste dann ausbaden, was sie angestellt hatte. Das war wirklich voll unfair. So, als könnte ich etwas dafür. Aber ich hatte ja keine Mutti und keinen Vati, wo ich hingehen konnte. Bei Mama oder Papa brauchte ich mich gar nicht beklagen, denn die standen ohnehin immer auf ihrer Seite.

Schwester zu sein und so etwas Besonderes, das passte für mich nicht zusammen. Oft fragte ich mich, wie Edith es schaffte, etwas so Besonderes zu sein. Sie ging schon zur Schule und hatte lauter Einser. Vielleicht war es das, was sie so viel besser machte als mich. Aber ich konnte noch keine Einser haben, denn ich ging noch nicht zur Schule. Oder war es vielleicht, weil sie so zierlich und zart war? Ich war pummelig und schwerer als sie. War es das vielleicht? Ja, ich war einfach ein hässliches und fettes Kind. Aber wenn ich versuchte, so zu werden wie sie, vielleicht war ich dann auch so beliebt? Da beschloss ich, nichts mehr zu essen. Doch der Hunger kam ganz schnell wieder und dann musste ich einfach essen, es ging nicht anders. Aber vielleicht konnte ich so klug werden wie sie?

Ich beschloss, Edith und auch meine älteren Brüder zu bitten, mir zu zeigen, was sie in der Schule lernten. Meine älteren Brüder lachten mich nur aus und meinten, ich verstünde das noch nicht. Edith schrieb mir Rechnungen auf einen Zettel und sagte mir, ich solle sie rechnen. Aber ich hatte keine Ahnung, wie das ging. Dann sagte sie mir, ich sei zu blöd, um es zu lernen, und ich solle weiterhin mit meiner Puppe spielen. Wenn alle sagten, dass ich zu blöd sei, dann würde es wohl auch stimmen. Ich, das blöde, hässlich Mädchen, das Papa nur dann bei sich haben wollte, wenn er sein kluges, schönes Mädchen nicht hatte, weil sie ja bei Mutti und Vati war.

Edith lebte dort ganz gut. Sie hatte ein eigenes Zimmer und so viele schöne Kleider und Schuhe. Viele Paare in den schönsten Farben. Ich durfte sie nur anschauen, denn mir passten sie angeblich nicht. Für Edith gab es dort sogar eine Frau, die den Haushalt besorgte, die ihr kochte, Wäsche wusch und für sie sorgte. Auch wenn Edith mir oft erklärte, sie sei meine Schwester, so konnte das nicht sein. Nein, ihre Welt war eine ganz andere als meine. Nie und nimmer konnte es das geben.

Manchmal blieb sie lange bei ihrer Mutti, bis sie wieder einmal zu uns kam. Es war seltsam: Wenn sie nicht da war, ging sie mir irgendwie ab. Die Brüder waren oft unausstehlich und ich stellte mir vor, wie schön ich mit einer Schwester spielen könnte. Doch wenn Edith da war, dann hasste ich sie. Wenn sie mit mir spielte, nahm sie sich immer, was sie wollte. Wenn ich mich wehrte, sage sie mir:

»Gut, ich gehe nach Hause.« Deshalb gab ich halt nach und sie hatte wieder die schönsten Sachen zum Spielen, während mir nur der Rest übrig blieb. Aber noch wütender machte mich die Art, wie sie mit Mama umging. Sie schaffte an und Mama tat. So, als wäre Edith eine Königin und Mama die Dienerin. Da konnte doch etwas nicht stimmen. Sobald Edith bemerkte, dass sie den Bogen überspannt hatte, sagte sie nur: »Ich muss jetzt heim«, und schon war sie weg. Oft blieb ich ganz verwirrt zurück. Mama war sauer auf mich, schrie mich an, ich solle mich ordentlich benehmen oder meine Sachen wegräumen oder sonst irgendetwas. Wieder musste ich für Edith die Zeche bezahlen. Wie sehr ich sie doch hasste, bewunderte und beneidete.

Manchmal, wenn ich bei Papa auf dem Schoss saß, fing er an, mich zu ›bartln‹. Da fuhr er mit seinem Gesicht über mein Gesicht. Seine Bartstoppeln kratzten über meine Wangen, Lippen und Nase. Er machte das gerne und sagte dabei immer:

»Komm, Papa tut dich bartln, das ist gut, ganz viel bartln.« Dabei kratzte er immer wieder ganz fest über mein Gesicht. Ich mochte das überhaupt nicht und sagte immer wieder: »Nein, nein!«. Aber gleichzeitig kitzelte dieses Kratzen so sehr, dass ich dabei lachen musste. Es machte Papa mehr und mehr Spaß, wenn ich nein sagte und lachte....