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Kindern mit FASD ein Zuhause geben - Ein Ratgeber

Kindern mit FASD ein Zuhause geben - Ein Ratgeber

Reinhold Feldmann, Martina Kampe, Erwin Graf

 

Verlag ERNST REINHARDT VERLAG, 2020

ISBN 9783497613427 , 140 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz DRM

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21,99 EUR

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Kindern mit FASD ein Zuhause geben - Ein Ratgeber


 

2 Diagnostik

„Mit der Diagnostik, das ist so eine Sache: Auf der einen Seite hoffen wir natürlich, dass da was festgestellt wird, dann wüssten wir endlich, warum sie so ist. Auf der anderen Seite haben wir aber auch einfach nur Angst davor – FASD, das ist so endgültig!“

Nach einer Untersuchung der Universitätskinderklinik Münster werden in Deutschland pro Jahr etwa 2000 Kinder mit dem Vollbild der Alkoholschädigung (FAS) geboren. Die Zahl der von FASD betroffenen Kinder ist etwa dreimal so hoch (Feldmann / Noppenberger 2019, S. 35).

Viele dieser Kinder werden zudem in sehr schwierige Familienverhältnisse hineingeboren. Teilweise haben die Eltern eine chronische Alkoholproblematik, häufig beherrschen Überforderung und Vernachlässigung den Alltag. Vier von fünf Kindern mit FASD können deshalb nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen und müssen in Pflegefamilien oder Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht werden. Die Münsteraner Studie kommt zu dem Ergebnis, dass etwa 23 % aller Pflegekinder von FAS betroffen sind (Feldmann / Noppenberger 2019, S. 35).

Auf den ersten Blick sieht FASD häufig aus wie ADHS, eine Bindungsstörung oder auch Autismus. Allerdings ist eine Differentialdiagnostik bei FASD heute gut möglich. Im Vergleich mit den genannten anderen Störungsbildern gibt es immer Symptome beziehungsweise Symptombereiche, die sich zu FASD deutlich unterscheiden. So wirken beispielsweise bei ADHS-betroffenen Kindern Token-Systeme in der Regel gut, auch sind diese Kinder anders als von FASD betroffene zeitlich und räumlich gut orientiert.

In entsprechend qualifizierten und auf die Diagnostik von FASD spezialisierten Einrichtungen kann die Diagnose FASD somit zuverlässig gestellt werden.

Verdacht auf FASD – was tun?

„Unsere beiden Pflegekinder sind uns als zwei gesunde Kinder vermittelt worden. Schon in der ersten Nacht waren die Schwierigkeiten dann aber riesig!“

Nur selten wissen die zukünftigen Pflegeeltern schon bei der Aufnahme des Kindes von seiner Beeinträchtigung. Häufig gibt es aber doch Hinweise auf den Alkoholkonsum der leiblichen Mutter während der Schwangerschaft oder zumindest auf einen hohen, eventuell leichtfertigen Alkoholkonsum in der Herkunftsfamilie des Kindes (z. B. Kindsvater alkoholkrank, Mutter trinkt unter sozialem Druck mit, „… ein Glas schadet doch nichts …!“).

Sofern diese Hinweise und die daraus (eventuell) resultierenden Folgen vom betreuenden Jugendamt gegenüber den künftigen Pflegeeltern offen kommuniziert werden, erleichtert dies den weiteren Weg der aufnehmenden Pflegefamilie erheblich.

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Unbedingte Transparenz in der Zusammenarbeit zwischen Jugendamt und Pflegeeltern sollte schon im Interesse des Kindeswohls von Anfang an selbstverständlich sein.

Ohne entsprechendes Hintergrundwissen werden Auffälligkeiten und Einschränkungen der von FASD betroffenen Kinder, die in der Pflegefamilie sichtbar werden, nicht selten erst einmal als Folge von Traumatisierung, Bindungsstörung, ADHS oder Autismus interpretiert. Erschwerend kommt hinzu, dass auch Fachkräfte aus dem medizinischen, psychologisch-therapeutischen oder pädagogischen Bereich häufig noch große Wissenslücken haben, wenn es um das Thema FASD geht. Pflegeeltern machen hier leider immer wieder die Erfahrung, auf der Suche nach einer Erklärung für die Besonderheiten ihres Pflegekindes auf sich allein gestellt zu sein und im Extremfall gar nicht ernst genommen zu werden. Dadurch ist es oft ein langer Weg zur Diagnose FASD.

Im Interesse des Kindes sollten Pflegeeltern und die sie betreuenden Fachkräfte in ihren Überlegungen trotzdem nicht stehen bleiben bei „Es könnte sein, dass …“, sondern unbedingt eine Differentialdiagnose anstreben.

  

TIPP

Liegt also der begründete Verdacht auf eine Alkoholschädigung vor, sollte das Kind auf jeden Fall in einer FASD-Fachambulanz (z. B. in Walstedde bei Münster oder im Klinikum Charité in Berlin) oder einem auf die Thematik spezialisierten Sozialpädiatrischen Zentrum (z. B. in Ludwigsburg, Leipzig, München oder Erlangen) vorgestellt werden.

  

Viele Pflegeeltern sind jedoch unsicher, ob die Diagnose tatsächlich sinnvoll und notwendig oder nicht doch eher ein Stempel ist, den sie ihrem Kind aufdrücken. Hierzu ein paar Gedanken:

Da im Umgang mit von FASD betroffenen Kindern übliche Erziehungsmethoden (z. B. Erklärungen, Konsequenzen) und auch herkömmliche Therapien kaum greifen, beginnen die Pflegeeltern häufig, an sich selbst zu zweifeln, und haben den Eindruck, in der Erziehung zu versagen, alles falsch zu machen. Nicht selten bekommen sie auch vom sozialen Umfeld entsprechende Rückmeldungen, sehen sich mit Vorwürfen und Kritik an ihrem Erziehungsverhalten konfrontiert. Irgendetwas müssen sie falsch machen – wirksame Methoden gibt es schließlich immer – oder?

Die von FASD betroffenen Kinder selbst erleben sich oft als „schlechte“ Menschen, weil kaum etwas so gelingt wie bei anderen Kindern, sie immer wieder kritisiert und gemaßregelt werden, ihr Verhalten als Provokation und Boshaftigkeit interpretiert wird.

Sowohl von den Pflegeeltern als auch vom betroffenen Kind selbst wird die Diagnose FASD meist als große Entlastung erlebt – weder Kind noch Pflegeeltern sind schuld, haben versagt, sondern es gibt tatsächlich eine Erklärung für all die Auffälligkeiten und Schwierigkeiten des Kindes.

„Für uns war die Diagnose FASD eine große Entlastung. Vorher haben wir immer an uns als Eltern gezweifelt, das mussten wir jetzt nicht mehr. Außerdem ist von da an klar gewesen ‚Der verarscht uns nicht!‘, zum Beispiel wenn er mal wieder behauptet hat, er hat keine Ahnung, wo die Küchenschere hingekommen ist, die ich nur einen Moment vorher noch in seiner Hand gesehen habe.“

Eine weitere positive Folge der Diagnose ist, dass die Pflegeeltern nun eher absehen können, was in der Erziehung des Kindes mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht funktionieren wird – vor allem aber auch, was pädagogisch Erfolg haben kann und welche Maßnahmen und Strukturierungen den gemeinsamen Alltag erleichtern können.

Außerdem ermöglicht eine frühzeitige Diagnosestellung dem Kind, schon in jungem Alter mit dem Thema FASD in Kontakt zu kommen, ganz selbstverständlich damit aufzuwachsen, FASD als Teil seines Lebens zu erfahren und dieses möglicherweise gerade deshalb auch besser bewältigen zu können. Bereitgestellte Hilfen sind umso erfolgreicher, je eher das Kind diese auch selbst annehmen kann. Dies gelingt im frühen Kindesalter sehr viel leichter als später im Jugendalter.

Hinzu kommt, dass eine entsprechende Diagnostik häufig auch Voraussetzung für notwendige Hilfe und Unterstützung durch zuständige Kostenträger ist.

Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass eine frühe Diagnosestellung in aller Regel ein wesentlicher Faktor für die günstige Entwicklung des betroffenen Kindes ist.

Pflegeeltern von bislang noch nicht diagnostizierten Jugendlichen, bei denen deutliche Hinweise auf FASD vorliegen, stehen immer wieder vor der Entscheidung, ob sie (jetzt noch) eine FASD-Diagnose anstreben sollen.

Dies ist vor allem dann sinnvoll, wenn die Erwartung da ist, dass durch die Diagnose etwas besser wird, ein Diagnosegewinn zu erwarten ist, zum Beispiel in Form von persönlicher Entlastung, Zugang zu einer gestützten Ausbildung, einer betreuten Wohnform oder auch zu spezieller Unterstützung durch das Kinder- und Jugendhilfesystem oder die Angebote der Behindertenhilfe. Eine Diagnose sollte somit auf jeden Fall angestrebt werden in Fällen, in denen man dem Jugendlichen basierend auf der Diagnose etwas anbieten kann – und zwar nicht primär eine entsprechende Therapie, sondern ein angepasstes Lebenskonzept, eine angepasste Lebensperspektive, eine angepasste perspektivische Lebensplanung.

In Fällen, in denen alles gut läuft, und bei realistischer Betrachtung zu erwarten ist, dass dies auch künftig so sein wird, ist eine Diagnosestellung dagegen nicht unbedingt notwendig. Die FASD-Diagnostik ist bei Bedarf auch später im Erwachsenenalter sogar noch möglich – so lange der Betroffene bereit ist, sich darauf einzulassen und Hilfe anzunehmen.

Manche Pflegeeltern entscheiden sich angesichts der langen Wartezeit auf einen Diagnostiktermin und der Unvorhersehbarkeit der zukünftigen Entwicklung dafür, die Diagnostik auch ohne konkreten Anlass und aktuell damit verbundenem Nutzen durchführen zu lassen. Sie möchten die Diagnose FASD gleichsam als Sicherungsnetz, als Absicherung für später eventuell auftretende Schwierigkeiten und damit verbundenen Unterstützungsbedarf in der Schublade, im Hintergrund haben – auch dies ist ein durchaus gangbarer und sinnvoller Weg.

BEISPIEL

FASD – Auswirkungen auf die Arbeit des Pflegekinderfachdienstes

von Sigrid Mosé, Pflegekinderfachdienst des Kreisjugendamts Neustadt / Aisch – Bad Windsheim

Ich erinnere mich noch genau an den Tag vor ca. 15 Jahren, als mir eine Pflegemutter von ihren Eindrücken erzählte, die sie aus einer Fortbildung von PFAD für Kinder e. V. über das Fetale Alkoholsyndrom mitgenommen hatte. Dass Pflegekinder im Vergleich zu anderen...