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Erik H. Erikson - Grundpositionen seines Werkes

Erik H. Erikson - Grundpositionen seines Werkes

Peter Conzen

 

Verlag Kohlhammer Verlag, 2020

ISBN 9783170386921 , 240 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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34,99 EUR

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Erik H. Erikson - Grundpositionen seines Werkes


 

1          Leben und Werk Erik H. Eriksons


 

 

 

1.1       Kindheit, Jugend, psychoanalytische Ausbildung


Man hat Erikson als den »Pionier der Identitätskrise« bezeichnet, und es war nicht allein wissenschaftliches Interesse, sondern auch eine starke Affinität zu seiner eigenen Lebensgeschichte ausschlaggebend für die Beschäftigung mit diesem Thema. Es könne durchaus sein, gesteht Erikson, »dass ich dieser Krise einen Namen geben und sie in alle anderen Menschen hineinsehen musste, um selbst mit ihr fertigzuwerden« (1982b, S. 25). Obwohl er in behüteten Verhältnissen aufwuchs und es ihm in seiner Kindheit scheinbar an nichts mangelte, war Eriksons Leben von früh auf von Erfahrungen der Randständigkeit geprägt. Seine spätadoleszente Unausgeglichenheit bewegte sich nach eigenen Worten zeitweilig »an der Grenze zwischen Neurose und Jugendpsychose« (ebd., S. 25). Erst die eher zufällige Begegnung mit dem Wiener Kreis um Sigmund Freud, das Erlernen der Psychoanalyse, die ihm »Beruf und Berufung« wurde (1978b, S. 99), brachte größere Stabilität in sein Leben. Eriksons Aufstieg in den USA nach seiner Emigration im Jahr 1934 war kometenhaft. Er wurde zum ersten Kinderanalytiker in den Vereinigten Staaten, zum Dozent an unterschiedlichen amerikanischen Universitäten, zum psychoanalytischen Schriftsteller. Bücher wie »Kindheit und Gesellschaft«, »Der junge Mann Luther«, »Jugend und Krise« oder »Gandhis Wahrheit« wurden in den folgenden Jahrzehnten in viele Sprachen übersetzt und erlangten weltweite Beachtung.

Wie weit Eriksons Ruhm und moralische Autorität seiner inneren Verfassung entsprachen, ist aus heutiger Sicht schwer zu beurteilen. Neuere Veröffentlichungen, vor allem die Biographie des amerikanischen Historikers Lawrence Friedman (1999) und die Erinnerungen Sue Erikson Blolands (2007) an ihren Vater, zeichnen das Bild eines von geheimen Ängsten, Konflikten und Selbstzweifeln belasteten Menschen. Dass Erikson, wie inzwischen ans Licht gekommen, sein behindertes Kind in ein Heim gab und daraus ein Familiengeheimnis machte, verwundert bei einem Psychoanalytiker, der den Appell zu Fürsorglichkeit und Verantwortung in den Mittelpunkt seines Werkes stellte. Hier deutet sich ein Stück menschlicher Zwiespältigkeit an, das Erikson selber sicherlich am wenigsten geleugnet hätte. Vor allem zeigt sich die Macht des Wiederholungszwanges, scheint Erikson doch unbewältigte Themen aus seiner eigenen Biographie an Frau und Kinder weitergegeben zu haben.

Erikson wurde am 15. Juni 1902 in der Nähe von Frankfurt a. M. geboren. Seine Mutter, Karla Abrahamsen, stammte aus Kopenhagen und war in einer gut situierten jüdischen Familie aufgewachsen. Nachdem sie kurz nach der Hochzeit von ihrem Mann, dem Börsenmakler Valdemar Salomonsen verlassen worden war, ging sie, mit Erik schwanger, nach Deutschland. Durch die Recherchen Friedmans wissen wir mittlerweile, dass Salomonsen nicht Eriksons Vater war, er offenbar aus einer Affäre hervorgegangen ist. Das Rätsel um den leiblichen Vater konnte bis auf den heutigen Tag nicht gelöst werden und belastete Erikson bis ins hohe Alter offenbar schwer. Karla Abrahamsen heiratete schließlich im Jahr 1905 den Karlsruher Kinderarzt Dr. Theodor Homburger, und das großbürgerliche Haus des Stiefvaters Am Schlossplatz 9 wurde Eriksons prägendes Kindheitsmilieu. Erik erwies sich als ein musisch begabtes Kind, erlernte das Klavierspielen und zeichnete von früh auf mit großer Leidenschaft. Die modisch-elegante, an Kunst, Philosophie und Literatur interessierte Mutter und der gebildete, feinfühlige, strenggläubige Stiefvater führten ein an die bürgerlichen Konventionen der damaligen Zeit angepasstes Leben, vermittelten ihrem Sohn aber, ebenso wie den nach ihm geborenen zwei Stiefschwestern, ein liberales Klima geistiger Offenheit. Dennoch verschwiegen sie dem jungen Erik seine wahre Herkunft, so dass das Familiengeheimnis bei ihm vage Gefühle von Fremdheit, Befangensein, Anderssein zurückließ. Schon früh scheint er in seinen Tagträumen an einem Familienroman gestrickt zu haben, von einem dänischen Aristokraten abzustammen, als Sohn besserer Eltern zu Höherem berufen zu sein (vgl. Erikson, 1973, S. 808; Erikson Bloland, 2007, S. 45ff.)

In Karlsruhe besuchte Erikson zunächst die Volksschule und von 1912 bis 1920 das Bismarckgymnasium, »seine letzte wirklich durchgehaltene Auseinandersetzung mit formaler Bildung« (Coles, 1974, S. 29). Empfindsam, scheu, hielt er eher Abstand gegenüber den Klassenkameraden, konnte sich nicht gut gegen Angriffe wehren. Inmitten hochgeputschter nationaler Gefühle wurde Erik mitunter als »der Däne« abgetan oder Judenjunge verschrien, während er in der Synagoge des Stiefvaters, blond und blauäugig, als »Goy« galt. Allen Versuchen Theodor Homburgers, ihn in der Tradition des jüdischen Glaubens zu unterweisen, begegnete der junge Erik mit passivem Widerstand. Das liberale Judentum schlug in ihm keine bleibenden Wurzeln. Noch weniger behagten ihm die Tugenden des wilhelminischen Zeitalters, Disziplin, soldatische Zucht, Pauken und Auswendiglernen. Verträumt, sich oftmals in innere Welten zurückziehend, sehnte Erik sich nach etwas »ganz Anderem« jenseits der bürgerlichen Konventionen seiner Umgebung. Der Naturheilkundler und »Wasserdoktor« Edwin Blos, Vater seines Jugendfreundes Peter Blos, der sich damals wie Gandhi kleidete, beeindruckte ihn in seiner mutigen Exzentrizität. Quasi in Opposition zur Weltanschauung seines Stiefvaters fühlte Erik sich als Heranwachsender zu den christlichen Evangelien hingezogen. Und schon damals imponierte ihm die Person eines der größten Widerspruchsgeister der Geschichte: Martin Luther.

Nach dem Abitur widersetzte sich Erik dem Wunsch Theodor Homburgers, Medizin zu studieren, um dann die kinderärztliche Praxis zu übernehmen. Es folgten sieben krisenhafte Jahre der Unentschlossenheit und des oft ziellosen Sich-Treiben-Lassens. Immer wieder unternahm Erikson in dieser Zeit Versuche, eine formale künstlerische Ausbildung zu absolvieren, die er nach kurzer Zeit abbrach, um auf Wanderschaft zu gehen. All die Stimmungsschwankungen und Arbeitsstörungen, die er später bei seinen jugendlichen Patienten behandelte, durchlebte er als Spätadoleszenter selber. Erst die Bitte Peter Blos’, ihn in Österreich beim Aufbau einer kleinen Privatschule für die Kinder amerikanischer Psychoanalyse-Anhänger zu unterstützen, brachte seinem Leben die entscheidende Richtungsänderung. Die Arbeit als Pädagoge in Wien von 1927 bis 1932 war die erste von vielen Tätigkeiten, für die Erikson nicht die richtigen Zeugnisse mitbrachte. Der junge Mann, der unkonventionell und antiautoritär unterrichtete, und die Schar der Wiener Psychoanalytiker, von denen manche ähnlich improvisierten Lebensläufen gefolgt waren – sie passten irgendwie zueinander. Anna Freud hatte gerade ihr später berühmtes kinderanalytisches Seminar eingerichtet und interessierte sich für das Experiment mit der Privatschule. Erikson wurde zum Kandidaten für die psychoanalytische Ausbildung vorgeschlagen und absolvierte von da an bei Anna Freud täglich eine Stunde Lehranalyse in Sigmund Freuds berühmter Privatpraxis, Berggasse 19. Der Gründervater der Psychoanalyse hatte sich damals aus der Wiener Gesellschaft weitgehend zurückgezogen und lehrte auch nicht mehr. Erikson begegnete ihm bisweilen im Wartezimmer zu Anna Freuds Praxis oder auf gemeinsamen Spaziergängen. Er vermied es jedoch, Freud anzusprechen, nicht nur aus Scheu, sondern auch, weil das Sprechen dem alten Mann aufgrund des fortgeschrittenen Kieferkarzinoms Schmerzen bereitete.

Neben der Ausbildung in der Kinderanalyse und einem parallel dazu absolvierten Montessori-Studium führte Erikson auch erste, vom Lehranalytiker kontrollierte Therapien Erwachsener durch und arbeitete sich am Wiener Institut gründlich in das Theoriegebäude der Psychoanalyse ein. Seine Lehrer waren jene später international renommierten Persönlichkeiten wie Heinz Hartmann, Paul Federn, Ernst Kris, Helene Deutsch, August Aichhorn oder Edward Bibring. Die Seminare fanden in der Regel abends statt. Die Gruppe der Teilnehmer – Ärzte, Lehrer, Erzieher, Literaten – war meist so klein, dass man sich bequem in den Wohnungen der Dozenten treffen konnte. Erikson bezeichnete diesen Kreis als eine Art psychiatrische »freie Universität« und empfand in dieser Forschungsgemeinschaft ein hohes Maß an Loyalität und gegenseitiger Achtung. Später mutmaßte er, dass es »irgendwie eine positive Stiefsohnes-Identität war, die mich wie selbstverständlich annehmen ließ, ich würde dort akzeptiert, wo ich nicht ganz dazugehörte. Aus dem gleichen Grund...