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Demokratie und konzeptionelles Denken - Politik im Spannungsfeld von ökonomischen Zwängen, Emotionen und Zufällen Schriften des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung

Demokratie und konzeptionelles Denken - Politik im Spannungsfeld von ökonomischen Zwängen, Emotionen und Zufällen Schriften des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung

Kaspar Villiger

 

Verlag NZZ Libro, 2020

ISBN 9783907291191 , 112 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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13,30 EUR

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Mehr zum Inhalt

Demokratie und konzeptionelles Denken - Politik im Spannungsfeld von ökonomischen Zwängen, Emotionen und Zufällen Schriften des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung


 

2.
Das Triebkräfte-Polygon


Es gibt kein Beispiel einer Gesellschaft, die ohne staatliche Strukturen nachhaltigen und einigermassen breit verteilten Wohlstand schuf. Von Korruption und mafiösen Strukturen zersetzte gescheiterte Staaten mögen die Bildung oligarchischer Eliten mit grossem Reichtum ermöglichen. Aber es wird sich nie nachhaltige Prosperität für alle einstellen. Es braucht also Spielregeln, die teils unter Sanktionsdrohung durchgesetzt und teils freiwillig befolgt werden, damit die Menschen Wohlstand erarbeiten können und wollen. Auch eine Marktwirtschaft, die ohne hinreichende Freiräume nicht auskommt, bedarf langfristig berechenbarer und konsequent durchgesetzter Regeln, weil sie selbst die Bedingungen für ihr Gedeihen nicht zu schaffen vermag. Es sind die Institutionen, die dieses Regelwerk verkörpern.

Nun ist bekanntlich bei Weitem nicht jeder Staat erfolgreich. Es ist deshalb entscheidend, welche Anreize die staatlichen Institutionen den handelnden Menschen vermitteln. Weil aber auch die besten Gesetze sowie die am klügsten strukturierten Regierungssysteme und staatlichen Organisationseinheiten nur funktionieren, wenn sie von den Menschen als glaubwürdig akzeptiert sind und wenn Gesetze befolgt werden, und weil man in der realen Welt nie alles regulieren kann, sind auch kulturelle Faktoren von Bedeutung. Was man tut oder was man nicht tut, ist für das Funktionieren eines Staates von Belang.

Obwohl die globale Vernetzung von Wirtschaft und Politik zwischenstaatliche Zusammenarbeit und die Schaffung transnationaler Strukturen nötig macht, um komplexe globale Probleme anzugehen, bleibt der Nationalstaat die dominante Organisationsstruktur menschlicher Zusammenarbeit. Nur innerhalb definierter Grenzen können sich eine Identität und eine Kultur entwickeln. Weltregierungsträume werden sich so rasch nicht realisieren lassen.

Auch Zufälle wie Naturkatastrophen, feindliche Einflussnahmen von aussen, eingeschleppte Epidemien oder was auch immer können den Erfolg eines Staates beeinflussen. Damit sind vier wesentliche Triebkräfte erfasst, die über Erfolg oder Misserfolg eines Staates bestimmen: das Verhalten der Menschen, wie sie eben sind, die Institutionen mit ihren Anreizwirkungen, die gelebten, aber nicht kodifizierten Verhaltensmuster sowie der Zufall, der immer auch das Unerwartete und nicht Vorhersehbare erzeugt.

Der Mensch


Wenn man Wirtschaft und Politik verstehen will, muss man sich zunächst mit dem Verhalten der Menschen beschäftigen. Dabei scheint mir wichtig, dass man die Menschen so sieht und akzeptiert, wie sie eben sind: unvollkommen, voller Stärken und Schwächen, mit guten und bösen Eigenschaften und vor allem mit grossen individuellen Unterschieden. Ideologen haben immer wieder versucht, die Menschen nach ihrer Vorstellung zu formen und zu verändern, sei es durch Erziehung, Gehirnwäsche oder gar Gefängnis und Folter. Ob das sozialistische, faschistische oder religiöse Ideologien waren: Die Versuche ähnelten sich, ebenso die mit Händen zu greifende Erfolglosigkeit. Adenauer pflegte zu sagen, man müsse die Menschen nehmen, wie sie seien, man kriege keine besseren. Oder wie es vor Jahren ein Wirtschaftskapitän ausdrückte: erfolgreich führen heisse, mit durchschnittlichen Menschen Überdurchschnittliches zu leisten. Das gilt auch für erfolgreiche Politik!

Mir scheint, fünf Erscheinungsformen menschlichen Wirkens seien in unserem Zusammenhang von Belang: das egoistische Handeln, das altruistische Handeln, das vernünftige Handeln, das irrationale Handeln und der Einfluss des Handelns herausragender Persönlichkeiten. Ich will dazu einige Stichworte geben, obwohl jeder einzelne Punkt eine Abhandlung wert wäre.

Dass Menschen egoistisch handeln, entspricht der Lebenserfahrung. Mein Onkel pflegte zu sagen, es sei schon traurig auf dieser Welt: «Jeder denkt nur an sich, und nur ich denke an mich!» Wenn man wirtschaftliche Gesetzmässigkeiten analysieren will, muss man durch Vereinfachung Komplexität reduzieren und versuchen, den Einfluss wichtiger Variablen zu isolieren und zu quantifizieren. Weil das Verhalten von Menschen die wichtigste ökonomische Einflussgrösse überhaupt ist, haben Theoretiker versucht, dieses Verhalten durch die Rückführung auf einfache handlungsleitende Prinzipien berechenbar zu machen. So entstand der berühmte Homo oeconomicus, eine konstruierte Kunstfigur, welche die Fähigkeit zu uneingeschränkt rationalem Verhalten hat und konsequent nach Maximierung seines Nutzens oder seines Gewinns strebt. Adam Smith beschrieb anschaulich und plausibel, dass es der bestmöglichen Güterversorgung der Gesellschaft diene, wenn der Einzelne seine Interessen nach der bestmöglichen Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse verfolge.5 Viele Modelle, die auf dem Homo oeconomicus als rationalem Nutzenmaximierer beruhen, erklären denn auch viele wirtschaftliche Phänomene zutreffend. In jedem von uns steckt eben ein kleinerer oder grösserer Egoist.

Die Lebenserfahrung zeigt allerdings, dass Egoismus keineswegs die einzige Triebkraft ist, die unser Handeln bestimmt. Der gleiche Adam Smith, der immer wieder als Kronzeuge für die Existenz des Homo oeconomicus herhalten muss, erkannte schon die Existenz altruistischer menschlicher Verhaltensweisen. So schrieb er unter anderem Folgendes: «Man mag den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, am Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein.»6 In der Verhaltensökonomie spricht man von Fairnesspräferenzen vieler Menschen. Ernst Fehr fasste den verhaltensökonomischen Kenntnisstand so zusammen: Menschen mit einer Präferenz für Fairness seien bereit, sogar auf wertvolle Ressourcen zu verzichten, um einen fairen Zustand herbeizuführen. Sie seien aber auch bereit, andere für die Verletzungen von Fairnessnormen zu bestrafen, sogar unter Inkaufnahme eigener Kosten. Das könne für Egoisten sogar ein Anreiz sein, ihrerseits eine Reputation zur Einhaltung von Fairnessnormen aufzubauen. Deshalb hätten Fairnesspräferenzen selbst dann grosse Auswirkungen auf die Gesellschaft, wenn nur eine Minderheit von Menschen fairnessorientiert sei.7 Diese Erkenntnisse sind in unserem Zusammenhang relevant: Wenn eine Politik zu als unfair wahrgenommenen Ergebnissen führt, bilden sich Unmutsgefühle in der Bevölkerung, die bis zu Hass auf als Profiteure perzipierte Menschen führen können. Die sogenannte Abzockerdebatte in der Schweiz hat das beispielhaft vor Augen geführt. Man hatte den Eindruck, viele erboste Bürger hätten sogar eigene Wohlfahrtseinbussen in Kauf genommen, wenn sie nur den vermeintlichen Abzockern eins hätten auswischen können. Die Schaffung fairer Verhältnisse muss mithin ein Ziel der Politik sein. Sie ist eine wichtige Voraussetzung zur Bildung einer stabilen Gesellschaft. Auf der Basis dieser Überlegungen möchte ich das grundlegend wichtige erste Take-away festhalten:

Take-away 1: Die meisten Menschen handeln zwar durchaus egoistisch und sind oft rationale Nutzenmaximierer. Aber sie haben auch angeborene Fairnesspräferenzen. Diese Fairnesspräferenzen haben grossen Einfluss auf unsere Gesellschaft und müssen in der Wirtschaftspolitik in Rechnung gestellt werden. Eine als unfair wahrgenommene Gesellschaftsordnung ist nicht stabil.

Bevor ich auf die mit vernünftigem und irrationalem Handeln verbundenen Fragen eingehe, möchte ich kurz einige Aspekte der Arbeitsweise unseres Gehirns beleuchten. Sie sind für das Verständnis auch des politischen Verhaltens von Menschen von Belang.

Unser Gehirn ist ein unglaublich leistungsfähiges Wunderwerk. Es steuert nicht nur unsere komplexen unbewussten Körperfunktionen. Es registriert und verarbeitet permanent Sinneseindrücke, produziert damit Abbilder von unserer Umwelt, steuert unsere Reaktionen darauf und begleitet den ganzen Prozess mit schwer fassbaren, aber wichtigen Empfindungen, die wir Gefühle nennen. Wir können nicht wissen, wie genau das vom Hirn produzierte Abbild der Umwelt der Wirklichkeit entspricht, denn das begleitende Gefühl von richtig oder falsch kann trügen. Aber die Tatsache, dass wir meist gut durchs Leben kommen, belegt, dass unser Gehirn im Allgemeinen rasch, effizient und zuverlässig arbeitet. In Anlehnung an die Erkenntnisse von Nobelpreisträger Daniel Kahneman, der modellhaft von einem System 1 und System 2 bei der Arbeitsweise des Gehirns spricht, 8 könnte man stark vereinfacht zwei Zustandsmodi des Gehirns definieren: der Spontanmodus und der Analysemodus. Im Spontanmodus, dem Normalzustand unseres Gehirns, arbeitet es rasch, effizient und ohne merkliche Anstrengung. Sobald Schwierigkeiten auftauchen oder wenn wir das bewusst wollen, schaltet es in den Analysemodus. Es konzentriert sich auf ein Problem, konstruiert geordnete Gedanken, erstellt Analysen. Das ist anstrengend, braucht eine gewisse Überwindung, erfordert Konzentration und Selbstkontrolle.

Nun ist unser Gehirn je nach Umständen für systematische Fehler anfällig. Seine Leistungsfähigkeit kann durch sogenannte kognitive Verzerrungen beeinträchtigt werden.9 Wer sich selber selbstkritisch betrachtet, wird sehr leicht solche Verzerrungen auch bei sich selber feststellen. Es ist dies eine Übung, die ich nur empfehlen kann. Vor allem im Spontanmodus kommen Logik und Bewusstsein für statistische Zusammenhänge zu kurz. Wenn wir mit dem Auto an einem Unfall vorbeifahren, sind wir nachher für eine Weile wesentlich vorsichtiger, obwohl sich die Unfallwahrscheinlichkeit nicht verändert. Wenn...