Suchen und Finden

Titel

Autor

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Vivekananda: Ein Brückenbauer zwischen Ost und West

Vivekananda: Ein Brückenbauer zwischen Ost und West

Hans Torwesten

 

Verlag Aquamarin Verlag, 2020

ISBN 9783968611815 , 400 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

18,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Vivekananda: Ein Brückenbauer zwischen Ost und West


 

Einführung

Es gibt eine bewegende – und zugleich spannende – orientalische Legende: Ein junger, mittelloser indischer Wandermönch wird – wenn auch auf einem normalen Ozeandampfer – an die Gestade der Neuen Welt gespült. Er hat von einem Parlament der Religionen gehört, das im Rahmen der großen Weltausstellung in Chicago abgehalten werden soll. Leider kommt er viel zu früh – im verträumten Indien hatte sich keiner die Mühe gemacht, sich um genaue Termine zu kümmern – und da er außerdem keine Empfehlungen bei sich hat und die Frist für die Anmeldung längst verstrichen ist, sieht er sich gezwungen, sich im nicht ganz so teuren Boston irgendwie über Wasser zu halten. Durch seine exotische Kleidung, sein stolzes Auftreten, seine rhetorische Begabung und sein umfassendes Wissen gelingt es ihm jedoch, einflussreiche Persönlichkeiten des amerikanischen Bildungsbürgertums zu beeindrucken, die ihm das Eintrittsbillet für das Parlament der Religionen verschaffen. Doch als er nachts wieder in Chicago eintrifft, hat er die Adresse seiner Unterkunft verschlampt und sieht sich gezwungen, in einem leeren Güterwaggon zu übernachten. Am Morgen versucht er, verstrubbelt und übernächtigt, auf einer vornehmen Promenade etwas Essen zu erbetteln, aber da man ihn eher für einen – noch dazu farbigen – Penner hält, werden ihm die Türen vor der Nase zugeschlagen. Schließlich, als er sich erschöpft auf einem Stein niedergelassen hat, entdeckt ihn »zufällig« eine reiche Dame – gleichsam die gute Fee in diesem Märchen –, die ihn auch prompt fragt, ob er zum Parlament der Religionen wolle.

Dort flattern ihm die Nerven bei seinem ersten Auftritt so sehr, dass er immer wieder anderen Religionsvertretern den Vortritt lässt. Zuletzt wagt er sich trotzdem an die Rampe, und als er die etwa 4000 erwartungsvollen Zuhörer mit den schlichten Worten »Sisters and Brothers of America« begrüßt, ertönt ein ohrenbetäubender Beifall, der auch nochmals anschwillt, als der Mönch seine relativ kurze Rede, in der er die uralte spirituelle Weisheit des Hinduismus beschwört und zu einer universalen Toleranz, ja Akzeptanz aller Religionen aufruft, beendet. Eine Dame, die beobachtet, wie Dutzende von Frauen über die Bänke springen, um dem jungen Mönch nahe zu sein, murmelt vor sich hin: »Nun, junger Mann, wenn du diesem Ansturm standhältst, bist du wirklich ein Gott!« Schon in den nächsten Tagen sieht man überall Poster mit dem Konterfei des Swamis in den Straßen, der zum unbestrittenen Star des Parlaments der Religionen geworden ist.

Man mag über winzige Details streiten – aber im Wesentlichen stimmt diese Legende mit der historischen Wirklichkeit überein. Unzählige indische Kinder sehen den armen Mönch bereits in Bilderbüchern eine ganze Nacht zusammengekrümmt in einer kleinen leeren Kiste verbringen – der »box-car« war in den Berichten zu einer »box« zusammengeschrumpft – und der erste Auftritt des Swami mit seiner berühmten Anrede »Sisters and Brothers of America« läuft als Endlosschleife in vielen indischen Köpfen ab, die ihren geliebten »Vivekananda« auch am liebsten in seiner herausfordernden »Chicago-Posture«, mit verschränkten Armen, in unzähligen Denkmälern abgebildet sehen. Sein Geburtstag wird in Indien als Nationalfeiertag, als »Tag der Jugend«, gefeiert. 2013, im Jahr seines 150. Geburtstag-Jubiläums, nahmen die Gedächtnisfeiern in Indien kein Ende.

In Deutschland hielten sich die Feierlichkeiten in überschaubaren Grenzen. Kein Rauschen in den Feuilletons. Nur das bedeutendste Nachrichtenmagazin machte eine bemerkenswerte Ausnahme – ohne allerdings das Jubiläum als Aufhänger zu benutzen: Es erklärte Vivekananda in einem Artikel mit dem Titel »Erlösung ohne Erlöser« kurzerhand zu einer der wichtigsten Schlüsselfiguren der Moderne. Vor allem aber habe der indische Mönch, so die steile Kernthese des Artikels1, das, was man im Westen bisher als uralte spirituelle indische Weisheit betrachtet habe, schlicht »erfunden«.

Als Biograf kann man da schon ein wenig verzweifeln. Auf der einen Seite stößt man, wenn man den – zugegebenermaßen für westliche Zungen nicht leicht aussprechbaren – Namen Vivekanandas erwähnt, meistens auf Ratlosigkeit. Wird er dann doch, wie in besagtem Spiegel-Artikel, in den Mittelpunkt gestellt, so gleich in einer solchen Verzerrung, dass man an der Seriosität einer solchen Zeitschrift starke Zweifel bekommt. Um hier nur kurz die schräge These aufzugreifen, Vivekananda habe die indische Spiritualität »erfunden«: Die Wiederbelebung einer uralten Mystik, die sich bereits in den Upanishaden und in der Bhagavadgita offenbarte, ist alles andere als eine »Erfindung«. Der junge Mönch, der eingeweihten Kreisen heute als eine der wichtigsten Pioniergestalten des religiösen Ost-West-Dialogs gilt2 und der mit nur neununddreißig Jahren starb, hat dieser Weisheitsliteratur – nicht zuletzt durch die Inspiration seines Gurus Sri Ramakrishna – ein neues Leben eingehaucht, so wie auch im Christentum Gestalten wie Franz von Assisi den ursprünglichen christlichen Impuls immer wieder erneuerten.

Seine Neuformulierung des Vedanta und Yoga (und unter »Yoga« verstand der Swami noch keineswegs nur körperliche Stellungen!) als »Spiritualität light« für abgeschlaffte Westler zu bezeichnen, ist abwegig. Gewiss, es ging ihm darum, das mythologische Gestrüpp ein wenig auszulichten und die Lehre der Upanishaden vom göttlichen Selbst des Menschen auf ihren wahren Kern zu reduzieren, aber diese »Vereinfachung« ist weder ein Ausverkauf indischer Spiritualität noch eine Neuerfindung, sondern schlicht eine Intensivierung, die für diejenigen, die sich auf diese spirituelle Praxis einlassen, durchaus etwas Forderndes hat.

Außerdem wird von denjenigen, die Vivekananda ausschließlich als einen Modeguru für den Westen porträtieren, völlig übersehen, dass die Verkündigung von Yoga und Vedanta in Amerika und England nur ein Aspekt seiner Sendung war. Mindestens ebenso wichtig war seine Hebammenrolle im Wiederaufbau des indischen Selbstbewusstseins. Dabei war Selbstbewusstsein für ihn nicht gleichbedeutend mit einem fanatischen Hindu-Fundamentalismus, der sich heute völlig zu Unrecht auf ihn beruft, und es war auch nicht gleichbedeutend mit der Arroganz einer aufstrebenden Mittelschicht, die sich kaum um die unterdrückten unteren Volksschichten kümmert. Gerade die Solidarität mit diesen »Ärmsten der Armen« war Vivekanandas Hauptanliegen. Der 1897 von ihm gegründete Ramakrishna-Orden und die ebenfalls von ihm initiierte Ramakrishna-Mission sind heute wohl die größte Wohltätigkeitsorganisationen Indiens.

Allerdings interessiert das niemanden im Westen. Dort zeigt man lieber zum tausendsten Mal einen Fakir, der sich eine Nadel durch die Wange sticht. Exotik ist gefragt. Einen Mönch des Ramakrishna-Ordens, der – inspiriert von der Vision Vivekanandas – schlicht Schüler unterrichtet, Waisen betreut, ein Kulturzentrum leitet oder bei Flutkatastrophen im Einsatz ist, habe ich in westlichen Medien noch nicht gesehen.

Eigentlich hätte Vivekananda für die Riesenaufgabe, die ihm sein Guru Ramakrishna auf die Schulter lud, gleich mehrere Leben gebraucht – und nicht nur neununddreißig Jahre. Da galt es, dem von Engländern unterdrückten Volk ein neues Selbstbewusstsein einzuimpfen. Da galt es, eben dieses Volk aus der Erstarrung seiner Kastenschranken und sonstiger Verkrustungen zu befreien. Da galt es, den eher »statischen« Hinduismus plötzlich dynamisch zu machen und den Westen von der Tiefe und dem Reichtum östlicher Spiritualität zu überzeugen. Da galt es gleichzeitig, von diesem scheinbar überlegenen Westen materielle Hilfe für seine Landsleute zu erbitten. Und schließlich galt es, einen fruchtbaren Dialog der Religionen zu initiieren. Ein bisschen viel für einen einzigen Mann. Kein Wunder, dass sich dieser Mönch manchmal danach sehnte, sich in den Himalaya zurückzuziehen und nur noch zu meditieren. Aber jene Kraft, die sein Guru Ramakrishna immer als die »Göttliche Mutter« bezeichnete, ließ ihn »arbeiten, arbeiten, arbeiten…« – bis seine Kraft völlig erschöpft war.

Diese Vielschichtigkeit in eine einzige Biografie zu pressen, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn ich jedoch manchen Freunden, die Vivekananda zumindest dem Namen nach kennen, erzählte: Ich schreibe eine Biografie über diesen faszinierenden Yogi, sagten manche: »Aber es gibt doch schon eine Biografie über ihn!« Gut, das war vor etwa neunzig Jahren: Da verfasste der französische Schriftsteller und Nobelpreisträger Romain Rolland – ein Brieffreund Hermann Hesses und Stefan Zweigs – eine Doppelbiografie über Ramakrishna und Vivekananda. Eine absolute Pionierleistung! Doch Rolland hatte damals noch nicht den Zugang zu allen Quellen, und sein pathetischer Ton, vor allem in der altertümlichen deutschen Übersetzung, ist ein wenig überholt.

Darüber hinaus gibt es eine deutsche Übersetzung (und inzwischen auch sehr gute Neuübersetzung) der Vivekananda-Biografie von Swami Nikhilananda, einem Mönch des Ramakrishna-Ordens, der sich schon das Verdienst erworben hat, die bengalischen Gespräche Ramakrishnas mit seinen Schülern ins Englische übertragen zu haben, und der die offizielle, inzwischen zweibändige und über 1500 Seiten angeschwollene Vivekananda-Biografie des Ramakrishna-Ordens (»The Life of Swami Vivekananda, by his Eastern and Western Disciples«) auf etwa dreihundert Seiten eingedampft hat. Diese Biografie vermittelt uns einen guten Überblick über dieses leidenschaftliche Mönchsleben, krankt aber – wie alle...