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Sozialstaat Österreich (1945-2020) - Entwicklung - Maßnahmen - internationale Verortung

Sozialstaat Österreich (1945-2020) - Entwicklung - Maßnahmen - internationale Verortung

Emmerich Tálos, Herbert Obinger

 

Verlag Studienverlag, 2020

ISBN 9783706560863 , 192 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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19,99 EUR

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Sozialstaat Österreich (1945-2020) - Entwicklung - Maßnahmen - internationale Verortung


 

2. Sozialstaat zwischen Kontinuität und Veränderung (1985–2020)


2.1. Zwischen partieller Erweiterung und restriktiver Entwicklung


Im Unterschied zu den Nachkriegsjahrzehnten weist der sozialpolitische Entwicklungsprozess seit Mitte der 1980er Jahre eine größere Differenzierung auf. Gegenläufige Entwicklungstrends lassen sich in und zwischen den einzelnen Bereichen konstatieren: Erweiterungen und Modifikationen sind ebenso zu verzeichnen wie Restriktionen und strukturelle Veränderungen. Deren Ausmaß ist unterschiedlich und hängt vor allem auch von der jeweiligen Regierungskonstellation ab. Für den Zeitraum 1985–2020 lassen sich zwei Perioden der Sozialstaatsentwicklung ausmachen: die Periode unter den SPÖ-ÖVP-Regierungen zum einen, unter den ÖVP-FPÖ(BZÖ)-Regierungen zum anderen. Unter Letzteren ist der restriktive Trend am weitreichendsten.

2.1.1. Die Regierungen von SPÖ und ÖVP (1986–1999, 2007–2017)

Gegenläufige Entwicklungen zeichneten sich unter der SPÖ-ÖVP-Koalition im Besonderen im Bereich sozialer Sicherung ab. Der Bemessungszeitraum in der Pensionsversicherung wurde wiederholt verlängert, die Anrechnung von Schul- und Studienzeiten für die Pensionshöhe gestrichen, die Anspruchsvoraussetzungen bei der so genannten „Hacklerregelung“ verschärft und die Beitragssätze in der gewerblichen und bäuerlichen Pensionsversicherung erhöht. Anderseits wurden nunmehr für die Pensionshöhe Kindererziehungszeiten angerechnet und als neue Leistung das Pflegegeld eingeführt. Im Beamten-Kranken- und Unfallversicherungsgesetz wurde analog dem ASVG eine Geringfügigkeitsgrenze eingeführt, und damit bei einem Einkommen unter der Geringfügigkeitsgrenze eine Selbstversicherung in der Kranken- und Pensionsversicherung ermöglicht. In der Pensionsversicherung wurde vorerst eine begünstigte Selbstversicherung für Zeiten der Pflege naher Angehöriger wie auch zur Pflege eines behinderten Kindes geschaffen. Ein nächster Schritt sah vor, dass pflegende und betreuende Angehörige, die einen Familienangehörigen unter gänzlicher bzw. erheblicher Beanspruchung ihrer Arbeitskraft pflegen, Pensionsversicherungszeiten ohne Beitragszahlung erwerben können. Die für Ehepaare geltenden sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen erfuhren eine Ausweitung auf gleichgeschlechtliche Paare bei eingetragener Partnerschaft. Die Ausweitung des Versichertenkreises in der Arbeitslosenversicherung kam Freien Dienstnehmer/innen zu Gute. Das Bildungsteilzeitgeld stellt eine Geldleistung aus der Arbeitslosenversicherung für Personen dar, die bei aufrechter Beschäftigung ihre Arbeitszeit reduzieren, um eine Weiterbildungsmaßnahme zu besuchen. Auf der anderen Seite zeigt sich der restriktive Kurs in der Arbeitslosenversicherung an der Verschärfung von Sanktionen und der Reduktion der Nettoersatzrate des Arbeitslosengeldes.

Modifikationen und Erweiterungen im arbeitsrechtlichen Bereich reichten vom Ausbau der Mitbestimmung, von der Gleichstellung der Teilzeitarbeit, der Regelung der Arbeitskräfteüberlassung und der Väterkarenz bis hin zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und des Sozialbetrugs (vor dem Hintergrund der EU-Öffnung des Arbeitsmarktes) oder der Einführung der Bildungskarenz. Gegenstand waren auch Regelungen der Arbeitszeit mit Fokus auf deren Flexibilisierung. Die Arbeitsmarktverwaltung wurde 1994 aus dem traditionell zuständigen Sozialministerium ausgegliedert (AMS) und das Volumen der für die aktive Arbeitsmarktpolitik eingesetzten Mittel erweitert – nicht zuletzt in Folge des EU-Beitrittes. Die Ausländerbeschäftigungspolitik wurde seit Ende der 1980er Jahre restriktiver, bei familienpolitischen Maßnahmen gab es in den 1990er Jahren im Rahmen der Sparpakete Leistungskürzungen. So wurden die Geburtenbeihilfe und Fahrtbeihilfe für Studierende abgeschafft, die Sondernotstandshilfe gekürzt und Selbstbehalte bei Schulbüchern eingeführt.

Insgesamt zeichnet Österreichs Sozialpolitik- bzw. Sozialversicherungspolitik bis Ende der 1990er Jahre eine Politik pragmatischer Anpassung sowohl an veränderte soziale und ökonomische Bedingungen (siehe Abschnitt 2.2.) als auch an geänderte politische Prioritäten (Abschnitt 2.3.) aus. In diesem Zeitraum wurde ein substantieller Kurswechsel in der Sozialpolitik weder programmatisch formuliert noch realiter durchgeführt. Es war eine Politik der Kompromisse zwischen den beiden großen traditionellen Koalitionsparteien, teils auch der großen Interessenorganisationen.

Gleiches galt für die Phase der neuerlichen Großen Koalition zwischen SPÖ und ÖVP in den Jahren 2007–2017. Pragmatisch wurden die von der Schwarz-Blau/Orangen-Regierung realisierten Einschnitte in das sozialstaatliche Leistungssystem fortgeschrieben. Zu den Änderungen bestehender Regelungen zählt die Flexibilisierung der Arbeitszeit (2007). Der Kompromiss erweiterte den Flexibilisierungsspielraum auf Ebene der Kollektivverträge und der Betriebsvereinbarungen. Er beinhaltet u.a. die Ermächtigung zur kollektivvertraglichen Anhebung der täglichen Normalarbeitszeit auf zehn Stunden sowie zur kollektivvertraglichen Zulassung von 12-Stunden-Schichten (bei arbeitsmedizinischer Unbedenklichkeit) sowie eine erweiterte Ermächtigung der Betriebsvereinbarung zur Zulassung von Überstunden bis zu zwölf Stunden (pro Tag) und bis zu 60 Stunden pro Woche bei besonderem Arbeitsbedarf.

Zehn Jahre später kam ein Kompromiss in der Frage einer Arbeitszeitflexibilisierung nicht zustande. Im Auftrag der Regierung verhandelten die Sozialpartnerorganisationen den Abtausch zwischen einem neuen kollektivvertraglichen Mindestlohn von 1.500 Euro und einer weiteren Arbeitszeitflexibilisierung. Ein Kompromiss wurde nur in der Mindestlohnfrage, nicht aber betreffend Arbeitszeitflexibilisierung erzielt. Bei anderen Materien wie der Arbeitslosenversicherung gelang ein Interessenausgleich: 2007 wurde die verpflichtende Einbeziehung der freien Dienstnehmer/innen gleichzeitig mit der Möglichkeit der freiwilligen Einbeziehung von Selbständigen in die Arbeitslosenversicherung beschlossen. Zugleich wurden die Zumutbarkeitsbedingungen (z.B. betreffend Ausdehnung der zeitlichen Mindestverfügbarkeit) und die Sanktionen gegen Schwarzarbeit verschärft. Angesichts der Finanzierungsprobleme in der Krankenversicherung erfolgte der Beschluss auf Erhöhung des Beitrags bei Arbeitnehmer/innen – allerdings bei gleichzeitiger Senkung des Dienstgeberbeitrags.

Einen sozialpolitisch wichtigen Schritt stellte die Ersetzung der Sozialhilfe durch die Bedarfsorientierte Mindestsicherung dar (2010) – mit bundeseinheitlichen Mindeststandards und der weitgehenden Abschaffung des Regresses sowie der Einführung des Krankenversicherungsschutzes für Bezieher/innen der Mindestsicherung.

Einige Maßnahmen bezogen sich auf die mit der Öffnung des Arbeitsmarktes in der EU zusammenhängenden Probleme: so die Sozialpartnereinigung auf die Generalunternehmerhaftung vom Oktober 2007, das Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetz aus 2011 und das Sozialbetrugsbekämpfungsgesetz aus 2014. In Reaktion auf Arbeitsmarktprobleme wurden die Fördermittel erhöht und noch vor Ende der SPÖ-ÖVP-Regierung wichtige arbeitsmarktpolitische Maßnahmen beschlossen: das Arbeitsmarkt Paket mit Aufstockung des AMS mit Planstellen und der Wiedereinführung der erweiterten Kurzarbeit, Ausbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen (2016), die Wiedereingliederungsteilzeit (2016), der Beschäftigungsbonus und die Aktion 20.000 (2017). Durch den Bonus, einem Zuschuss zu den Lohnnebenkosten, sollte der Arbeitsmarkt belebt werden. Die Aktion hatte das Ziel, ältere, arbeitslose Arbeitnehmer/innen wieder in Beschäftigung zu bringen. Bei beiden Projekten kam es noch zu einer Abstimmung zwischen den Regierungsparteien, die sich bereits in einer angespannten politischen Lage befanden. Beide Maßnahmen können auch als Junktim zwischen den Interessenorganisationen interpretiert werden: Während der Beschäftigungsbonus für die Unternehmer/innen von Interesse war, stellt die Aktion 20.000 eine sozialpolitische Initiative dar, von der vor allem Arbeitnehmer/innen profitieren sollten. Zwischen den Jahren 2014 und 2017 standen auch der Bereich der Lehrausbildung (Lehrberufspakete), der Pflege (Pflegekarenz, Pflegeteilzeit, Pflegegeld) und der Inklusion von Menschen mit Behinderung im Fokus der Großen Koalition.

2.1.2. Die Regierungen von ÖVP und FPÖ/BZÖ (2000–2006, 2017–2019)

Die ÖVP-FPÖ-Koalition ist mit dem Anspruch angetreten, insbesondere in der Wirtschafts- und Sozialpolitik einen politischen Kurswechsel herbeizuführen. Die im Regierungsprogramm 2000 anvisierten sozialpolitischen Maßnahmen zielten folglich auf einen tiefgreifenden Umbau nicht nur einzelner Sicherungsprogramme, sondern auch der Grundausrichtung des österreichischen Sozialstaates. Konkret wurde die Erhöhung der Treffsicherheit von Sozialleistungen und ihre Konzentrierung auf die wirklich Bedürftigen, die Stärkung der Eigenvorsorge, die Verschärfung der Zumutbarkeits- und Anspruchsvoraussetzungen in der Arbeitslosenversicherung, die Missbrauchsbekämpfung und die Harmonisierung von Leistungen und Trägerstrukturen der Sozialversicherung angekündigt. Die anvisierte „Soziale Sicherung neu“ basierte auf einem im Vergleich zum...