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Fallbuch Kinder- und Jugendpsychiatrie - Erfassung und Bewertung belastender Lebensumstände von Kindern nach Kapitel V (F) der ICD-10. Ein Lese- und Lernbuch

Fallbuch Kinder- und Jugendpsychiatrie - Erfassung und Bewertung belastender Lebensumstände von Kindern nach Kapitel V (F) der ICD-10. Ein Lese- und Lernbuch

Fritz Poustka, Gera van Goor-Lambo

 

Verlag Hogrefe AG, 2012

ISBN 9783456944814 , 267 Seiten

2. Auflage

Format PDF, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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26,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

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Mehr zum Inhalt

Fallbuch Kinder- und Jugendpsychiatrie - Erfassung und Bewertung belastender Lebensumstände von Kindern nach Kapitel V (F) der ICD-10. Ein Lese- und Lernbuch


 

1. Der Junge, der kein Junge sein durfte

Aufnahmegrund

Alex ist ein 61/2-jähriger Junge, der vom Hausarzt wegen emotionaler und Verhaltensschwierigkeiten in der Schule und zu Hause in der Klinikambulanz angemeldet worden ist.

Seine Mutter erläutert die Anmeldung: Die Grundschule, die Alex seit einem halben Jahr besucht, findet ihn schwer zu handhaben. Er ist lustlos, unkonzentriert, manchmal abwesend, seine Leistungen sind enttäuschend schlecht, er weint viel, ist ab und zu unerwartet aggressiv und fordert viel zu viel Aufmerksamkeit von der Lehrerin. Dabei ist man der Meinung, dass er intelligent genug ist, um ein sehr guter Schüler zu sein. Außerhalb der Schulzeit besucht er eine Tagesstätte, wo er so lange verbleibt, wie die Mutter arbeitet. Auch von dort kommen Warnungen, dass er sich in letzter Zeit zu seinem Nachteil verändert habe. Er macht einen unglücklichen Eindruck, zieht sich zurück und ist zuweilen unberechenbar aggressiv. Zu Hause ist er ebenfalls schwieriger geworden, auch hier zieht er sich zurück und nässt wieder ein.

Alex wohnt bei der Mutter und ihrer Freundin Miek, für Alex Tante Miek. Die Eltern sind seit vier Monaten geschieden.

Anamnestische Daten

Vorgeschichte

Die Eltern heirateten wegen der Schwangerschaft der Mutter mit Alex. Laut Mutter war er dennoch ein erwünschtes Kind.

Schwangerschaft und Geburt verliefen ohne Besonderheiten. Die Mutter stillte ihn nur kurz, da sie wieder anfing zu arbeiten und es auch mit der Flasche problemlos funktionierte. Die frühkindliche Entwicklung verlief normal, insoweit die Mutter sich erinnert. Alex hat lediglich sehr viel und lange Daumen gelutscht, wie jetzt wieder. Er war immer ein liebes, etwas schüchternes, anhängliches Kind. Er verehrte seinen Vater, der, wenn er zu Hause war – meist am Wochenende, mit ihm spielte und der ihn auch verwöhnte.

Die Mutter ist Lehrerin für Französisch, der Vater ist ein vielbeschäftigter Geschäftsmann, der häufig auf Reisen ist. Sobald die Mutter ihre Arbeit wieder aufgenommen hatte, wurde Alex in einer Krippe untergebracht. In der Krippe war sein Benehmen abhängig von den Erzieherinnen. Aber er wurde im Allgemeinen als ein normales, aktives, oft aber auch schnell eingeschüchtertes und empfindliches Kind betrachtet.

Als Alex 5 Jahre alt war, lernte die Mutter ihre heutige Freundin kennen. Durch sie entdeckte die Mutter, dass sie eigentlich lesbisch sei, was sie zuvor nie geahnt hatte. Es gab heftige Szenen mit dem Vater, und schließlich ließen sich die Eltern scheiden, als Alex 6 Jahre alt war. Die Freundin, Tante Miek für Alex, zog bei der Mutter ein. Alex weinte oft in dieser Zeit, aber viel mehr weiß die Mutter nicht zu erzählen, so sehr wurde sie von ihren eigenen Problemen beschlagnahmt. Sie sagt, sie sei in Bezug auf die Scheidung sehr ambivalent gewesen, weil sie ihren Mann eigentlich doch liebte.

Die zweiwöchentlichen Kontakte von Alex mit seinem Vater verliefen mühsam, weil Tante Miek fand, dass der Vater einen unguten Einfluss auf seinen Sohn ausübe und ihn übermäßig verwöhne. Es irritierte die Mutter auch, dass Alex immer wieder nach seinem Vater fragte und sich Tante Miek gegenüber stets abweisender benahm.

Mutter
Die Mutter (32) ist eine schöne junge Frau, die aber bleich und müde aussieht, einen sehr nervösen Eindruck vermittelt und zuweilen ihre Tränen nicht zurückhalten kann. Sie ist als Nesthäkchen in einer harmonischen Familie aufgewachsen, stark dominiert von ihren drei älteren Brüdern. Das störte sie nicht, denn die Brüder waren mitunter sehr beschützend. «Ich war keine Heldin und fühlte mich sicher dabei.»

Sie konnte gut lernen, war ein folgsames Mädchen und eine gute Schülerin ohne Probleme. Ihre Freizeit war, wie üblich in ihrem Milieu, mit Klavierspielen, Tennis, Hockey, Tanzstunden und Freundinnen ausgefüllt. Alles verlief ohne Auffälligkeiten. Ein «Au pair»-Aufenthalt in Frankreich fiel ihr schwer, sie hatte Heimweh, aber sie hielt durch mit Hilfe ihrer Mutter, zu der sie regelmäßig ausführlich telefonisch Kontakt hatte und die sie einige Male besuchte. Zurück in der Heimat ha

tte sie viel Freude an ihrem Französischstudium an der Universität und sie vollendete es mit großem Erfolg. Sie trat eine Stelle als Lehrerin an einer Oberschule an, konnte sich aber gegenüber den Schülern nicht durchsetzen. Sie fand dann eine Anstellung in einem Privatinstitut, in dem Erwachsene Intensivkurse in verschiedenen Sprachen absolvieren konnten. Sie unterrichtete dort sehr gerne und empfand darin viel Befriedigung. Ihre Mutter ermutigte und unterstützte sie sehr. «Meine Mutter hatte Recht, es machte mich selbstständiger und ich bekam mehr Selbstgefühl.»

In diesem Institut lernte sie ihren Mann kennen, der im Hinblick auf seine französischen Geschäftsverbindungen diese Sprache verbessern wollte. Zwischen beiden war es Liebe auf den ersten Blick. Als sie ein wenig übereilt heiraten mussten, weil die junge Frau schwanger war, fanden es beide nicht schlimm. Auch ihre noch lebenden Mütter sahen darin keine Probleme, und die gegenseitigen Beziehungen waren bald herzlich, obwohl man weit auseinander wohnte.

Ihr Mann hatte Verständnis dafür, dass seine Frau ihre Arbeit, in der sie so viel Befriedigung fand, nicht aufgeben wollte, und zusammen wählten sie eine gute Kinderkrippe aus. Er war ein liebevoller Ehemann und Vater. Aber er war sehr häufig auf Geschäftsreisen und er fehlte der Mutter dann ungeheuer, nicht nur weil sie seine Anwesenheit angenehm und erfreulich fand, sondern weil sie sich im Alltag sehr auf ihn verließ. Dann starb ihre Mutter, wodurch ihr dieser Halt verloren ging. «Ich fühlte mich hilflos und wie verloren.»

Schließlich lernte sie über den Tennisklub Tante Miek kennen, und die beiden Frauen wurden schnell Freundinnen. Tante Miek ist einige Jahre älter als die Mutter, arbeitete in einer Bank und war eine sehr selbstständige Frau. Sie war ein enormer Rückhalt für die Mutter und die Freundschaft wurde immer enger. Schließlich entdeckten sie, dass sie eigentlich wie für einander geschaffen waren. Für die Mutter war das eine schreckliche Konfliktsituation – sie liebte ihren Mann, aber er war zu oft abwesend. Tante Miek war immer da, wenn die Mutter sie brauchte. Die Mutter ist nun verzweifelt über die ganze Situation und fragt sich, was sie falsch gemacht hat. Sie braucht ihre Freundin Miek, gleichzeitig muss sie sich aber eingestehen, dass sie nicht mit ihrer Meinung übereinstimmte, Alex’ Vater sei alleine schuld. Sie fühlt sich in der entstandenen Situation selbst schuldig und sehr unglücklich und weiß keinen Ausweg.

Vater
Der Vater (36) ist ein gut aussehender, typischer Geschäftsmann, der einerseits versucht sachlich zu reden, andererseits einen verzweifelten Eindruck macht.

Er erzählt, er habe eine angenehme, sorglose Jugend erlebt und eine fröhliche Studentenzeit, die mit dem plötzlichen Tod seines Vaters jäh endete. Er übernahm das Geschäft, da davon die Familie (seine Mutter, seine jüngeren Geschwister und er selbst) leben musste. Er war darauf völlig unvorbereitet gewesen, und es kostete ihn viel Mühe, sich schnell einzuarbeiten. Im ersten Jahr gingen ihm viele Kunden…