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Provinz der Moderne - Marbachs Weg zum Deutschen Literaturarchiv

Provinz der Moderne - Marbachs Weg zum Deutschen Literaturarchiv

Jan Eike Dunkhase

 

Verlag Klett-Cotta, 2021

ISBN 9783608120325 , 432 Seiten

Format ePUB

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27,99 EUR

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Provinz der Moderne - Marbachs Weg zum Deutschen Literaturarchiv


 

Prolog


Das Jahr 2009 war kein gutes Jahr für die Literatur in Frankfurt am Main. Im Februar hatte der Suhrkamp Verlag seinen Beschluss bekanntgegeben, nach Berlin umzuziehen. Frankfurt, das neben einem großen Flughafen und vielen großen Banken auch die größte Buchmesse der Welt und das Geburtshaus des größten Dichters deutscher Sprache beherbergt, stand vor dem Verlust eines seiner beiden wichtigsten Verlagshäuser. In Frankfurt hatte Peter Suhrkamp 1950 seinen neuen eigenen Verlag gegründet, nach einer schwierigen Vorgeschichte mit dem S. Fischer Verlag, der seit 1948 hier residierte; in Frankfurt hatte Siegfried Unseld den Suhrkamp Verlag zur ersten Adresse im intellektuellen Leben der Bundesrepublik gemacht. Durch den Wegfall dieser Adresse drohte der Stadt ein schwerer kultureller Verlust. Kaum begann man, sich mit ihm abzufinden, folgte im Oktober der nächste Schlag aus dem Hause Suhrkamp: Nach dem Verlag sollte nun auch noch dessen Archiv Frankfurt verlassen – eine »herbe Enttäuschung« für die Stadt, so sah es nicht nur die Frankfurter Allgemeine Zeitung.[1] Enttäuscht war vor allem die Goethe-Universität, die sich mit der Unterstützung von Stadt und Land und eines Kreises solventer Mäzene um den Zuschlag für den Archivbestand bemühte hatte, zu dem außer dem Archiv des Suhrkamp Verlags auch die Archive des 1963 übernommenen Insel Verlags sowie des Jüdischen Verlags und des Deutschen Klassiker Verlags gehörten, nicht zuletzt die Nachlässe der Verleger Suhrkamp und Unseld.

Für den Verlag zog die Entscheidung vom Oktober 2009 eine noch größere räumliche Trennung von seinem Archiv nach sich, als sie dessen Verbleib in Frankfurt am Main mit sich gebracht hätte. Denn statt die begehrten Papiermassen nach Berlin mitzunehmen, hatte Ulla Unseld-Berkéwicz beschlossen, sie nach Marbach am Neckar zu verkaufen, die schwäbische Kleinstadt, in der 250 Jahre zuvor Friedrich Schiller geboren worden war. Die Entscheidung der Verlegerin war weniger literarisch motiviert als vielmehr einer Mischung aus institutionellen und finanziellen Gründen geschuldet. Schiller trug allerdings insofern zu Suhrkamps restlosem Abschied von Goethes Heimatstadt bei, als die vom Verlag bevorzugte Institution ihre Existenz der Dynamik seines Nachlebens verdankt. »Deutsches Literaturarchiv Marbach« lautet ihr Name.

Unter dieser Bezeichnung werden seit 2005 die im Lauf eines Jahrhunderts auf der Marbacher Schillerhöhe entstandenen Einrichtungen »Schiller-Nationalmuseum« (1903), »Deutsches Literaturarchiv« (1955) und »Literaturmuseum der Moderne« (2006) zusammengefasst. Träger des institutionellen Ensembles ist die Deutsche Schillergesellschaft e. V., die 1895 als »Schwäbischer Schillerverein« gegründet wurde.

Diesem Verein oder vielmehr seinem energischen Geschäftsführer war es 2009 gelungen, das nötige Geld aufzutreiben, um sich gegen eine große Stiftungsuniversität öffentlichen Rechts durchzusetzen. Vor allem aber war es in jahrzehntelanger Arbeit gelungen, in Marbach eine Institution zu schaffen, die selbst im enttäuschten Frankfurt der Archivschätze von Suhrkamp für würdig empfunden wurde. »Dass Marbach als zentraler Ort deutscher literarischer Gedächtnispflege den Archiven, deren Umfang in Regalmetern gut einen Kilometer betragen soll, ein ideales neues Zuhause bieten kann, steht außer Frage«, konzedierte die Frankfurter Allgemeine; dass man die Marbacher Lösung bei Betrachtung der Archivbestände als »Angelegenheit überregionalen Interesses« »vernünftigerweise gar nicht ablehnen« könne, die Frankfurter Rundschau.[2] Der Suhrkamp Verlag und das Deutsche Literaturarchiv wollten mit der Entscheidung die »Sonderstellung« bestätigt sehen, »die Marbach aufgrund seiner einzigartigen Verbindung eines forschungsstarken Archivs mit zwei Literaturmuseen« einnehme; der Erwerb der Verlagsarchive unterstreiche und befestige den »nationalen und internationalen Rang Marbachs als bedeutendste Sammlung der deutschsprachigen Literatur und Philosophie des 20. Jahrhunderts«.[3]

»Marbach«, d.h. das Deutsche Literaturarchiv, erfuhr durch die Erwerbung einen materiellen Zuwachs um ein Viertel seines bisherigen Bestandes. Vier große Lastwagen mit Anhängern füllten die Frankfurter Verlagsarchive, die noch im Dezember 2009 auf der Schillerhöhe eintrafen, um dort unter dem Namen »Siegfried Unseld Archiv« den Weg in rund 10 000 Archivkästen zu finden. Die Bedeutung der riesigen Sammlung literarischer, geisteswissenschaftlicher und politischer Quellen für die Literatur- und Ideengeschichte lässt sich mit Zahlen nicht erfassen; der großen Namen sind zu viele, als dass sich in wenigen Zeilen eine Auswahl treffen ließe.[4]

»Nie standen die Sterne höher und heller über unserem Haus«,[5] erscholl es aus der Einrichtung, die ein Suhrkamp-Autor Jahre früher als »unterirdischen Himmel« beschrieben hatte.[6] Die Stimme, die die Sterne herbeirief, war die von Ulrich Raulff, dem damaligen Direktor des Deutschen Literaturarchivs und Geschäftsführer der Deutschen Schillergesellschaft. Raulff hatte sich über vielfach laut gewordene Bedenken hinweggesetzt und den riskanten, da finanziell vorerst nicht gedeckten Coup gewagt, unterstützt von dem Stuttgarter Verleger Wulf D. von Lucius, der bei den Verhandlungen als Moderator fungierte, und dem Unternehmer und Mäzen Berthold Leibinger, der in heiklen Momenten zum »Dranbleiben« riet. Die Übernahme des Suhrkamp-Archivs war ein Husarenstück. Nie zuvor hatte Marbach auf einen Schlag so massiv und aktiv in den deutschen Literaturbetrieb eingegriffen.

Mit Ulrich Raulff war im Jahr 2004 erstmals ein Mann mit der Leitung auf der Schillerhöhe betraut worden, der nicht der schwäbischen Bildungskultur entstammte, mit der das Marbacher Literaturarchiv historisch verwachsen ist, ein an französischer Theorie geschulter Intellektueller, der sich den geheiligten Traditionen und eingespielten Strukturen mit dem Blick von außen näherte. Er war Leitender Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, als ihm das Wahlgremium der Schillergesellschaft den Direktorenposten antrug. Man erwartete sich von ihm eine neue Ausstrahlung und eine weitere internationale Öffnung. Der Einzug der Frankfurter Verlagsarchive stand für das eine wie für das andere. Suhrkamp prägte das geistige Leben der Bundesrepublik spätestens seit den siebziger Jahren wie kaum ein zweiter Verlag, und dies nicht zuletzt durch seine Übersetzungen von fremdsprachigen Autoren, die nun allesamt mit Briefen und Manuskripten im Deutschen Literaturarchiv vertreten waren. Das Siegfried-Unseld-Archiv war eine Forschungsressource sondergleichen und der ideale Bestand, um in Marbach die Globalisierung zu proben.

***

Wollte man die Geschichte des Deutschen Literaturarchivs und der Deutschen Schillergesellschaft sphärologisch[7] betrachten, wäre der Globus für die 2018 beendete Amtszeit von Ulrich Raulff wohl das richtige Modell. Von jener neueren, global orientierten Ekstase kann im vorliegenden Buch nicht die Rede sein. Hier wird die viel ältere Geschichte einer Innenraumschöpfung erzählt, die Bildung einer Mikrosphäre, einer Blase, wenn man so will.

Diese Geschichte handelt von der Herausbildung eines »Archivkörpers«, in dem sich, wie in jedem Archiv, materielle Überlieferung und historische Einbildungskraft kreuzen,[8] in dem zugleich aber eine besondere Ökonomie waltet, insofern das überlieferte Material literarisch ist. Die Dynamik folgt hier dem Prinzip der Sammlung, nicht dem der Registratur, und die Sammlung dem Namen, nicht der Sache. Weit mehr als im klassischen Behördenarchiv spielt der menschliche Faktor im Literaturarchiv die maßgebliche Rolle. Von den Menschen geht diese Geschichte daher auch aus, mehr als vom Material, um das es ihnen ging.

Die Geschichte spielt in der schwäbischen Provinz. Dort nimmt sie teil an den Höhenflügen und den Abstürzen der modernen deutschen Literatur- und Geistesgeschichte. Ihren Elementen nach reicht sie in das 19. Jahrhundert, ihren Ursprüngen nach sogar noch weiter zurück. Sie endet an dem Punkt, an dem der Marbacher Archivkörper, ein Organismus von Menschen und Papieren, erwachsen geworden ist, an dem er für sich steht. Diese institutionelle Reife war um das Jahr 1973 erreicht, als das Deutsche Literaturarchiv aus dem Schiller-Nationalmuseum auszog und ein eigenes Haus erhielt. An diesem Punkt waren die Jahre des Aufbaus beendet. Was danach...