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Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann - Ein Plädoyer für mehr Barmherzigkeit

Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann - Ein Plädoyer für mehr Barmherzigkeit

Volker Halfmann

 

Verlag SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag, 2021

ISBN 9783417229943 , 288 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann - Ein Plädoyer für mehr Barmherzigkeit


 

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»UNTER RÄUBERN« – Wie schnell unsere Lebensträume zerplatzen


Ein Mann befand sich auf der Straße von Jerusalem nach Jericho, als er von Räubern überfallen wurde. Sie raubten ihm seine Kleider und sein Geld, verprügelten ihn und ließen ihn halb tot am Straßenrand liegen.

Lukas 10,30

Barmherzigkeit kennt keine Auswahlkriterien


Wörtlich sagt Jesus: »Ein Mensch (ἄνθρωπός) ging hinab von Jerusalem nach Jericho.« Für die damaligen Hörer ist sofort klar: Bei diesem Menschen muss es sich um einen Mann handeln, da eine Frau diesen Weg niemals allein gehen würde. Zudem wird es sich um einen Juden handeln, denn er geht von der Hauptstadt Israels hinab in die bedeutende jüdische Stadt Jericho – ein Weg, der zu 95 Prozent von Juden genutzt wurde.

Auch wir haben vermutlich gleich ein Bild vor Augen, wenn wir diese Erzählung hören, und das ist völlig in Ordnung. Nur dürfen wir dabei nicht vergessen, dass Jesus hier sehr bewusst offenlässt, um wen genau es sich bei dem Reisenden handelt. Es ist einfach ein Mensch – und das bedeutet: Seine Herkunft und soziale Stellung sind ebenso bedeutungslos wie sein Geschlecht oder seine Hautfarbe. Jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes, ist sein Ebenbild. Jeder Mensch ist von Gott geliebt und gewollt – das gibt ihm seine unantastbare Würde. Und wenn ein solcher Mensch unsere Hilfe benötigt, weil er sich in einer Notlage befindet, dann hat er genau diese Hilfe zu erhalten – unabhängig von seiner Nationalität, seinem sozialen Milieu, seiner Religion oder seinen Überzeugungen.

Barmherzigkeit kennt keine Auswahlkriterien – Gottes Barmherzigkeit nicht, und unsere sollte sie auch nicht kennen! Letztlich ist es nicht einmal entscheidend, ob der notleidende Mensch seine schlimme Lage selbst verschuldet hat. Wer seelisch oder körperlich verblutet, braucht keine Moralpredigten und Ratschläge, sondern lebensrettende Erste-Hilfe-Maßnahmen!

Der Abstieg von Jerusalem hinab nach Jericho ist ein Trampelpfad, der sich über rund 27 Kilometer erstreckt und dabei durch die Judäische Wüste führt, eine Gegend voller Steine und Geröll mit zahlreichen Höhlen und unübersichtlichen Abzweigungen. Hier lebte (oder besser hauste) zur Zeit von Jesus ein Teil der verelendeten Landbevölkerung und versuchte, sich durch regelmäßige Raubzüge das Überleben zu sichern.

Bereits der Einstieg in den über eintausend Höhenmeter hinabführenden Pfad wurde die »Blutsteige« genannt, da jeder wusste, dass hinter diesem Einstieg die Gefahr lauerte. Diesen Weg alleine zu gehen war also ziemlich verantwortungslos – es war geradezu eine Einladung, überfallen zu werden. Und eben dies könnte man unserem Reisenden natürlich vorwerfen, als er blutüberströmt und halb tot am Wegesrand liegt: »Wie kann man nur so blöd sein und sich in eine solche Gefahr begeben? Jeder weiß doch, dass es in dieser Gegend von Räubern nur so wimmelt. Tja, mein Freund, nun musst du selbst schauen, wie du hier wieder rauskommst. Wer nicht hören will, der muss halt manchmal fühlen.« So in etwa würde die typische Reaktion eines Besserwissers lauten, der selbst über jeden Fehler erhaben erscheint und den das Leid des Überfallenen völlig kaltlässt. Der Barmherzige jedoch verzichtet auf solche Belehrungen und tut stattdessen das, was wirklich vonnöten ist: Er packt an, um zu helfen und Leben zu retten.

Barmherzigkeit kennt keine Auswahlkriterien, sie gilt auch jenen, die ihr Leiden selbst verschuldet haben! Wer sich mit dieser Vorstellung schwertut, der sollte sich von Zeit zu Zeit daran erinnern, dass Gottes Barmherzigkeit genauso handelt. Auch sie gilt jenen Menschen, die sich durch ihren Ungehorsam und ihr unachtsames Verhalten selbst in Todesgefahr begeben haben. Wer darum heute als Christ lebt, wer Jesus Christus nachfolgt und Gott seinen Vater nennt, der kann dies nur, weil Gott eingegriffen und angepackt hat, indem er in Jesus Mensch geworden ist und die Welt mit sich versöhnt hat: »Gott ist so barmherzig und liebte uns so sehr, dass er uns, die wir durch unsere Sünden tot waren, mit Christus neues Leben schenkte, als er ihn von den Toten auferweckte. Nur durch die Gnade Gottes seid ihr gerettet worden!« 14

Das Kennzeichen von Gnade ist, dass man sie nicht verdient hat und sie sich auch nicht verdienen kann. Gottes Barmherzigkeit gilt uns gerade nicht, weil wir so tadellos wären, dass er einfach nicht anders kann, sondern weil er unser Elend gesehen hat und ihm das, was er gesehen hat, zu Herzen gegangen ist.

Persönliche Schicksale


Jeder von uns ist früher oder später auf Barmherzigkeit angewiesen. Mir ist noch kein Mensch begegnet, der nicht an irgendeiner Stelle seines Lebensweges »unter die Räuber« gekommen wäre, wobei diese Räuber sehr verschieden aussehen können. Hier nur eine kleine Auswahl von Menschen, denen ich begegnet bin und die sich ihr Leben eigentlich ganz anders vorgestellt hatten:

Ich stehe in der Halle des Hamburger Hauptbahnhofes und frage mich, was ich mit den verbleibenden zweieinhalb Stunden machen soll, da fällt mein Blick auf Georg. Der alte Mann hockt in einer offenen Fotokabine, stützt sich auf seinen Handwagen und kämpft gegen den Schlaf. Sein verwahrlostes Erscheinungsbild deutet darauf hin, dass er auf der Straße lebt und hier im Bahnhof Pfandflaschen sammelt. Sein Anblick geht mir zu Herzen; deshalb gehe ich zu ihm und frage ihn, ob er Lust hat, mit mir zu essen. Zunächst ist er misstrauisch, doch nach ein paar Erklärungen sagt er schließlich zu. In den kommenden zwei Stunden erfahre ich durch Georg sehr viel darüber, wie schnell die eigenen Lebensträume zerplatzen können.

Georg ist 71 Jahre alt und lebt seit sieben Jahren auf der Straße. Aufgrund seines schlurfenden Gangs hatte ich zunächst gedacht, er sei alkoholisiert, doch das ist nicht der Fall. Georg leidet unter »MG« (Myasthenia gravis), einer seltenen neurologischen Erkrankung, die zu Lähmungen führt und von den Augen auf den ganzen Körper übergehen kann. Wenn dies der Fall ist, sind die Chancen auf eine Heilung gering, vor allem dann, wenn die Krankheit erst relativ spät diagnostiziert wurde. Und genau dies ist bei Georg der Fall. Aufgrund seiner Lähmungserscheinungen musste er seinen Beruf als Technischer Zeichner aufgeben, doch lange Zeit konnte keine Ursache gefunden werden. In seiner Verzweiflung betäubte er sich mehr und mehr mit Alkohol, was schließlich zur Trennung von seiner Frau führte.

Georg ist der typische Fall eines Menschen, bei dem es kein Schwarz oder Weiß, kein Gut oder Böse gibt. Er ist eindeutig »unter die Räuber« gekommen, hat aber infolgedessen auch eigene Fehler gemacht. Er hat sein Leben vor die Wand gefahren. Hier, im Bahnhof, darf er in einem gekennzeichneten Wartebereich von Mitternacht bis morgens um 5 Uhr übernachten, danach schlurft er durch die Gegend auf der Suche nach einem Platz, an dem er ungestört die vorbeihetzenden Geschäftsleute beobachten kann. »Alles ist schneller, hektischer und unpersönlicher geworden«, meint Georg. Dennoch steckt ihm von Zeit zu Zeit jemand ein paar Euro zu und Georg ist sich sicher, dass dies an seiner freundlichen Ausstrahlung liegt.

Während wir uns unterhalten, kommt Mareike zu uns, um von Georg eine Zigarette zu schnorren. Mareike ist voll bis unter die Haarspitzen und kann sich nur noch schwer artikulieren. Wenn es stimmt, was sie mir erzählt, dann hat sie vor zwei Jahren ihren Mann durch einen tragischen Autounfall verloren – da waren sie gerade mal zehn Wochen verheiratet. Das hat sie völlig aus der Bahn geworfen. Inzwischen ist sie im Methadon-Programm und muss sich jeden Tag die fünf Euro Rezeptgebühr erbetteln.

Während sie das erzählt, knufft Georg mich in die Seite und gibt mir ohne ein Wort zu verstehen: »Komm schon, Kumpel, die fünf Euro kannst du doch locker verkraften.« Also kaufe ich für alle eine Brezel sowie einen Kaffee und stecke Mareike auch noch die fünf Euro zu, worauf sie sich überschwänglich bedankt und mehrfach betont, ich hätte ihr den Tag gerettet. Etwas skeptisch frage ich mich, worin diese Rettung wohl konkret bestehen wird – aber dennoch habe ich das Gefühl, das Richtige getan zu haben.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle erwähnen, dass ich alles andere bin als die männliche Variante von Mutter Teresa. Solche Begegnungen wie die mit Georg und Mareike hatte ich bislang nicht sehr oft, da ich diese Menschen viele Jahre gar nicht wahrgenommen habe. Falls ich sie doch gesehen habe, so hat mich ihr Anblick wohl meistens kaltgelassen. Das hat sich erst in den letzten Jahren langsam verändert. Wenn ich heute durch eine Stadt wie Hamburg gehe, dann stelle ich erschrocken fest, wie weit die Schere zwischen Arm und Reich dort auseinandergeht. Während die Geschäftsleute mit ihren Business-Koffern zum nächsten Termin eilen, hocken in zahlreichen Hauseingängen Obdachlose in ihren Schlafsäcken und hoffen darauf, dass für sie ein paar Euro abfallen. Während japanische Touristen zur nächsten Sehenswürdigkeit geführt werden, torkelt eine Gruppe Betrunkener über die Straße und sorgt für ein Verkehrschaos. Ich will hier nicht schwarzmalen – diese Stadt hat sicherlich ihre liebenswerten Seiten. Doch wer die Augen nicht verschließt, der sieht auch sehr viel Elend: Drogenhandel, Obdachlosigkeit, Armut, Prostitution und Gewalt.

Ich bin kein Sozialromantiker! Mir ist völlig klar, dass es wesentlich mehr Anstrengungen braucht, als das, was ich getan habe, um diesen Menschen zu helfen. Auch ist mir bewusst, dass es vorschnelle Hilfeleistungen gibt, die im Ergebnis nach hinten losgehen und das Elend nicht verringern,...