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Spracherwerb und Sprachenlernen

Spracherwerb und Sprachenlernen

, Ursula Esterl, Annemarie Saxalber

 

Verlag Studienverlag, 2021

ISBN 9783706561341 , 150 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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18,99 EUR

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Spracherwerb und Sprachenlernen


 

Dietmar Rösler


Das Verhältnis von gesteuertem und ungesteuertem Zweit- und Fremdsprachenlernen


In diesem Aufsatz werden die vielfältigen Varianten des Lernens des Deutschen als Zweit- und als Fremdsprache beschrieben, das gesteuert und ungesteuert sowie innerhalb und außerhalb des deutschsprachigen Raums stattfinden kann. Gezeigt wird, dass ein Fehlen differenzierter Beschreibungen zu unangemessenen Interventionen im Unterricht führen kann. Ausführlich behandelt wird dabei die Frage, ob und wie die Progression im Unterricht dem natürlichen Erwerb folgen kann oder soll. Diskutiert wird außerdem, ob und wie die durch die Digitalisierung vorangetriebene Tendenz zum Anwachsen des informellen Lernens im Bereich des Zweit- und Fremdsprachenlernens zu stärkeren Annäherungen und Vermischungen von gesteuertem und ungesteuertem Lernen führt und welche Auswirkungen das auf die Organisation von Unterricht und die Rolle von Lehrkräften haben könnte.

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1. Klare Fälle?


Person A hat an einem Gymnasium in Asien vier Stunden pro Woche Deutschunterricht. Sie arbeiten dort mit einem Lehrwerk. Außerdem macht sie dazu zu Hause viele Übungen am Computer. Person A war noch nie in Deutschland und hat auch keinen Kontakt mit Deutschen. Person B kam ohne vorherige Deutschkenntnisse als Erwachsener nach Deutschland, arbeitete dort in der IT-Branche, hatte viel Kontakt mit Deutschen und lernte Deutsch aus dem Kontakt mit diesen. Inzwischen spricht sie sehr gut Deutsch, wenn auch mit einigen »Fehlern«.

Bei Person A redet man von einem Lerner bzw. einer Lernerin des Deutschen als Fremdsprache (DaF), sie lernt Deutsch gesteuert in einer Bildungsinstitution außerhalb des deutschsprachigen Raums. Person B würde man zumeist als Lerner des Deutschen als Zweitsprache (DaZ) bezeichnen, sie lernt Deutsch ungesteuert und ohne Besuch einer Bildungsinstitution innerhalb des deutschsprachigen Raums.

Zwei prototypische Fälle, doch der Alltag des Lernens einer weiteren Sprache nach der ersten ist meist weniger eindeutig. Person B hatte vielleicht nach einer ersten Phase des schnellen Wortschatzerwerbs das Bedürfnis, mehr über die Grammatik des Deutschen zu erfahren und kaufte sich deshalb eine Grammatik oder ein Selbstlernwerk, besuchte einen Kurs an der Volkshochschule oder nervte ihre deutschsprachige Umgebung mit einer Vielfalt von Fragen zur deutschen Grammatik. Auch Menschen wie Person A werden nicht immer ohne Kontakt sein, sie treffen vielleicht Touristen aus dem deutschsprachigen Raum, halten bei Themen, die sie interessieren, über soziale Medien Kontakt mit Deutschen usw.

2. Deutsch als Zweit- und Fremdsprache


Gegensatzpaare wie »Lernen innerhalb und außerhalb des zielsprachlichen Raums« und »gesteuertes und ungesteuertes Lernen« werden häufig herangezogen, um DaF und DaZ zu unterscheiden. Beim Gegensatzpaar »Lernen innerhalb und außerhalb des zielsprachlichen Raums« würde es sich um DaZ handeln, wenn das Lernen innerhalb des zielsprachlichen Raums stattfindet, und um DaF dann, wenn dies außerhalb des zielsprachlichen Raums geschieht. Das wird häufig zutreffen, aber Person A aus dem obigen Beispiel wird nicht plötzlich zur Zweitsprachlerin, wenn sie ein Stipendium für einen vierwöchigen Kurs an einem Goethe-Institut in Deutschland erhält und dort zeitlich begrenzt in Kursen und Ausflügen ihre Kenntnisse der deutschen Sprache und Kultur voranbringt. Sie lernt weiterhin Deutsch als Fremdsprache, und dieses Lernen findet zeitweilig im deutschsprachigen Raum statt.

Dass die Unterscheidung von gesteuertem und ungesteuertem Lernen ebenfalls herangezogen wurde, um das Lernen einer Fremd- und einer Zweitsprache zu unterscheiden, ist hingegen bedenklich: Ungesteuertes Lernen als Hauptmerkmal von DaZ mag für die erste Generation von Migrant_innen, die sogenannten Gastarbeiter_innen, in den ersten Jahren ihres Aufenthalts noch eine angemessene Beschreibung gewesen sein – Personen kommen für einige Jahre in ein Land, dessen Sprache sie nicht kennen, und erwerben diese nur durch die Interaktion am Arbeitsplatz. Aber spätestens ab dem Zeitpunkt, wo diese Migrant_innen im Land blieben, Kinder bekamen, die in Kindergärten, Schulen usw. gingen, war diese Zuordnung nicht mehr sinnvoll: Die Herausforderung für das Fach DaZ besteht ja gerade darin, den ungesteuerten Spracherwerb, der in der deutschsprachigen Umgebung per Interaktion möglich ist und der, wie jede Lehrkraft aus leidvoller Erfahrung weiß, höchst unterschiedlich verlaufen kann, mit Interventionsmaßnahmen in Kindergärten und Schulen zu verbinden, damit beide zusammen zu einem Spracherwerb führen, der es erlaubt, dass diese Personen uneingeschränkt an der Gesellschaft teilhaben und ihre Bildungschancen nutzen können.

Wenn man versucht, DaF und DaZ mit Gegensatzpaaren wie »gesteuert und ungesteuert« und »innerhalb und außerhalb des deutschsprachigen Raums« voneinander abzugrenzen, dann nicht dadurch, dass man eine Seite dieser Gegensatzpaare Deutsch als Zweit- und die andere Deutsch als Fremdsprache zuordnet, sondern dadurch, dass man sie kombiniert: DaF findet überwiegend außerhalb des deutschsprachigen Raums und gesteuert in Bildungsinstitutionen statt, die deutsche Sprache ist für die Lernenden meist nicht alltagsrelevant. DaZ findet überwiegend innerhalb des deutschsprachigen Raums statt, sowohl gesteuert als auch ungesteuert, und ist alltagsrelevant. Das bedeutet weder, dass es nicht Deutsch als Fremdsprache innerhalb des deutschsprachigen Raums gibt, wie das Beispiel des Stipendiums für einen Kurs am Goethe-Institut zeigt, noch, dass es DaZ nicht auch außerhalb des deutschsprachigen Raums geben kann, wenn zum Beispiel eine in Deutschland als Zweitsprachlernerin Aufgewachsene mit ihrer binationalen Familie in das Land ihrer Großeltern remigriert, die Familiensprache aber Deutsch bleibt.

3. Grenzfälle


Wie schwierig in konkreten Fällen Abgrenzungen sind, sei an zwei ganz unterschiedlichen Lernergruppen gezeigt, an den im Ausland Germanistik Studierenden, die ihr sog. Auslandsjahr im deutschsprachigen Raum verbringen, und an den geflüchteten Jugendlichen, die ab 2015 plötzlich in das Schulsystem integriert werden mussten.1 Wenn eine irische Germanistikstudentin ein Jahr im deutschsprachigen Raum verbringt, dort ihre Zeit zusammen mit Germanistik Studierenden aus Australien, den USA und Großbritannien verbringt, die deutsche Kneipenund Theaterkultur erkundet, viel im Land herumreist, aber durchgehend in einem englischsprachigen Umfeld lebt, ist sie dann während ihres Auslandsjahres von einer Fremdsprachlerin zu einer Zweitsprachlerin geworden? Oder ist sie das nur, wenn sie das Jahr viel mit deutschen Kommiliton_innen verbringt, sich in der Kirchengemeinde, in einer Theatergruppe, im Sportverein usw. engagiert und sich vielleicht auch noch in eine deutschsprachige Person verliebt?

Als nach 2015 geflüchtete Jugendliche ins deutsche Schulsystem integriert werden mussten, stellte sich die Frage, was die richtige Unterstützung für ihren Deutscherwerb ist. Sie waren im deutschsprachigen Raum, sollten sie also so unterstützt werden wie die Kinder mit Migrationshintergrund, die im deutschsprachigen Raum aufgewachsen sind? Oder sollten sie, da sie zunächst kaum Kontakt mit dem sie umgebenden deutschsprachigen Raum und als Jugendliche auch keinen ungesteuerten kindlichen Spracherwerb durchlaufen hatten, nicht eher wie Fremdsprachenlerner_innen unterstützt werden, allerdings mit dem Ziel, aus diesen Fremdsprachenlerner_innen durch die Intensivierung von Kontakten mit der deutschsprachigen Umgebung so schnell wie möglich Zweitsprachler_innen zu machen?

Derartige Versuche, DaF und DaZ begrifflich voneinander zu trennen und gleichzeitig ihre Gemeinsamkeiten auszuloten, sind keine akademische Haarspalterei. Sie signalisieren, wie wichtig es ist, dass man für jede Gruppe von Lernenden sehr genau überlegen muss, bei welchen Merkmalen wann welche Art von Unterstützung des Lernens durch Bildungsinstitutionen sinnvoll ist, damit es nicht zu Vorgehensweisen und Lehrmaterialien kommt, die für die konkreten, sehr unterschiedlichen2 Lernergruppen nicht angemessen sind.

4. Gesteuertes und ungesteuertes Lernen des Deutschen als Zweitsprache


Frühe DaZ-Aktivitäten bezogen sich auf außerschulische Lernorte wie Wohnort oder Arbeitsplatz. Die Anfänge der Arbeit im Bereich DaZ liegen also zunächst in politisch engagierten Aktivitäten von Gewerkschaftlern und Frauengruppen und befassen sich mit Vermittlungsfragen (vgl. Barkowski/Harnisch/Kumm 1980). In der Forschung entwickelte sich hingegen ein Fokus auf den ungesteuerten, den natürlichen, Erwerb. In den 1970er Jahren liefen zwei Entwicklungen parallel, die Deutsch als Zweit- und Fremdsprache häufig weniger mit- und stärker nebeneinander agieren und sogar Hierarchiekämpfe austragen3 ließen. Die Fremdsprachenforschung emanzipierte sich von der Idee, Entwicklungen im Fremdsprachenunterricht seien durch Entwicklungen in Linguistik und Psychologie angeleitet und die Fremdsprachendidaktik sei lediglich »angewandte Linguistik«.4

Parallel dazu beflügelte eine Umorientierung innerhalb der Linguistik die Spracherwerbsforschung: 1965 postulierte Chomsky in seiner Begründung der...