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Aufgetaucht - 'Locked in' - Eine junge Frau kämpft sich zurück ins Leben.

Aufgetaucht - 'Locked in' - Eine junge Frau kämpft sich zurück ins Leben.

Victoria Arlen

 

Verlag Gerth Medien, 2021

ISBN 9783961224678 , 256 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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13,99 EUR

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Aufgetaucht - 'Locked in' - Eine junge Frau kämpft sich zurück ins Leben.


 

2

Das ist alles Kopfsache

April bis Juli 2006

Au!

Es fühlt sich an, als würde ein Messer in meine rechte Seite gebohrt. Ich versuche, mich aufzusetzen, aber das löst brutale Schmerzen aus, wie ich sie noch nie zuvor erlebt habe. Ich schiebe mich langsam von meinem Bett hoch und schleppe mich die Treppe hinab. „Mama, irgendetwas stimmt nicht mit mir.“

Meine Mutter vermutet, dass es wieder ein grippaler Infekt ist, bringt mich zum Sofa und deckt mich zu. Es ist ein Sonntag. Am Tag zuvor sind wir von einem unvergesslichen Ausflug nach Disneyland zurückgekehrt. Ich freue mich darauf, wieder zur Schule zu gehen und meine Freunde zu treffen. Ich bin in der fünften Klasse und das Schuljahr ist fast zu Ende. Der erste Schultag nach den Ferien ist immer lustig.

Aber statt am nächsten Tag zur Schule zu gehen, lande ich in der Notaufnahme, werde gepiekt, am ganzen Körper untersucht und mit Fragen gelöchert. Die Nadeln machen mir Angst, und von dem „Saft“ (Kontrastmittel), den ich für das CT trinken muss, wird mir schlecht. In meiner Familie gab es schon häufiger Blinddarmentzündungen, und da die Schmerzen auf meiner rechten Seite sind, ist das die naheliegende Diagnose. Nach einer Nacht im Krankenhaus, in der meine Schmerzen nicht gelindert werden können, entscheiden die Ärzte, meinen Blinddarm zu entfernen. Meine Eltern und ich hoffen, dass dies die Lösung ist und wir am nächsten Tag einfach heimfahren und ganz normal weiterleben können.

Aber die Schmerzen lassen nicht nach – auch nicht, als die Operationsnarben verheilt sind. Ich lande wieder in der Notaufnahme, dieses Mal in einer sehr renommierten Kinderklinik – angeblich „die beste Kinderklinik der Welt“ – eine Stunde von uns entfernt. Auch hier wird ein CT gemacht und mein Blut wird untersucht, aber die Ärzte finden nichts und tippen auf nachoperative Schmerzen. Sie schicken uns bedenkenlos nach Hause.

Es tut immer noch weh.

Zwei Wochen vergehen, und die Schmerzen in meiner Seite werden immer schlimmer. Ich habe jetzt grippeähnliche Symptome und nehme in kurzer Zeit sehr stark ab. Ich kann essen, so viel ich will, ich verliere trotzdem Gewicht. Schlank war ich schon immer, aber jetzt bin ich viel zu dürr. Die Schmerzen sind mittlerweile so stark, dass ich kaum mehr etwas tun kann. Ich kann nicht schlafen und habe nicht einmal die Energie, vom Sofa aufzustehen. Das ist das absolute Gegenteil von der gesunden Victoria. Ich lag bisher NIE auf dem Sofa. Nun kann ich nicht mehr zur Schule gehen, Sport treiben oder mich mit meinen Freunden treffen. Ich bin eine Gefangene dieser Schmerzen, die langsam, aber sicher mein ganzes Leben beherrschen.

Die einzige „Hilfe“, die von den Ärzten kommt, ist die Empfehlung, andere Ärzte aufzusuchen, die mir starke Schmerzmittel verschreiben und mich dann auch wieder nach Hause schicken. Die Medikamente helfen nicht und die Nebenwirkungen machen alles nur noch schlimmer.

Mit den Schmerzen geht eine erschreckende Kraftlosigkeit einher. Vom Bett aufzustehen und die Treppe hinabzusteigen, wird immer anstrengender. Ich kann mich an die Tage erinnern, als ich die Treppe leichtfüßig hinab- und hinaufgesprungen bin; jetzt fühlt sich jeder Schritt an, als würde ich einen steilen Berg erklimmen. Der Kampf, mich auf den Beinen zu halten, kostet mich alle Kraft.

Nein. Nein. Nein.

Als ich denke, die Schmerzen in meiner Seite könnten nicht mehr schlimmer werden, fangen sie an, sich auszubreiten. Es beginnt in meinen Zehen und zieht langsam an meinem Bein nach oben. Mein rechter Fuß ist seit zwei Tagen wie betäubt. Ich versuche, normal zu gehen, aber ich ziehe ihn wie einen schweren Anker hinter mir her. Meine Mutter bringt mich zu unserem Hausarzt, der mich seit meiner Geburt kennt. Sie erklärt ihm, dass ich immer noch starke Schmerzen habe, auch nachdem mein Blinddarm entfernt wurde, dass ich viel Gewicht verloren habe und dass ich jetzt nicht mehr richtig gehen kann. Der Arzt nickt nur und sagt: „Ich kann mir das nicht erklären. Aber bedenken Sie: Victoria ist ein Drilling. Vielleicht will sie einfach mehr Aufmerksamkeit bekommen.“ Statt mich zu einem Neurologen zu überweisen, besteht er darauf, dass ich zu einem Psychiater gehen soll, damit „der Schalter in meinem Kopf wieder umgelegt wird“. Was kann die Tatsache, dass ich ein Drilling bin, mit meinen Schmerzen zu tun haben? Aufmerksamkeit ist das Letzte, was ich will. Auf Hilfe angewiesen zu sein, frustriert mich grenzenlos. Außerdem: Welche Elfjährige kann das alles erfinden?

Jeder hat schon einmal den Spruch gehört: „Das ist alles Kopfsache.“ Meistens ist das einfach eine flapsige Art zu sagen: „Lass dich nicht so gehen“ oder „Reiß dich zusammen“. Ich habe nie gedacht, dass dieser Spruch ernst gemeint sein könnte. Aber die Ärzte, zu denen ich komme, gebrauchen mir gegenüber solche Formulierungen und verwenden Worte wie psychosomatisch. Damit wollen sie ausdrücken: „Du machst das nur, um Aufmerksamkeit zu bekommen!“ oder sie wählen das Wort als Umschreibung für: „Wir haben keine Ahnung, was mit dir los ist!“. Aber letztendlich läuft alles auf das Gleiche hinaus: Sie glauben mir einfach nicht.

Immer öfter höre ich Sätze wie: „Die Schmerzen, die du hast, sind in Wirklichkeit gar nicht da, Victoria. Ja, der Reflex in deinem rechten Bein funktioniert nicht mehr und du hast Probleme beim Gehen, aber mach dir keine Sorgen. Das ist alles nur Kopfsache. Lege einfach den Schalter um, dann geht es dir wieder gut“ oder „Du fühlst dich nicht gut? Du bist ein Drilling. Du willst nur mehr Aufmerksamkeit bekommen. Medizinisch ist alles in Ordnung. Dir geht es gut.“

Mir geht es NICHT gut.

Kann mir jemand helfen?

Oder mir sagen, was los ist?

Bitte?

Bitte!

Etwas stimmt ganz und gar nicht mit mir. Das weiß ich, aber das scheint keinen Arzt zu interessieren. Mit mir geht es rasant bergab.

Bitte.

Bitte glaubt mir!

Bitte helft mir!

Ich werde von einem Arzt zum anderen geschickt, aber keiner hilft mir. Seit meinem Besuch in einer bekannten Kinderklinik in Massachusetts hat man mir anscheinend den Stempel „psychisch krank“ verpasst, und kein Arzt nimmt mich mehr ernst.

Aber ich habe Schmerzen.

So starke Schmerzen.

Warum hört mir keiner zu?

Etwas stimmt hier nicht!

Ich bin nicht verrückt.

Bitte.

Ich bin nicht verrückt.

Meine Familie und ich wissen es damals nicht, aber die lange Reihe von Fehldiagnosen beginnt gerade erst.

*

Jetzt ist Juni. Der Sommer rückt mit Riesenschritten näher, und ich will nichts anderes, als mit meinen Freunden spielen und das Schuljahr abschließen. Ich bete jeden Abend, dass ich wieder gesund werde und zu Kräften komme. Inzwischen kann ich die Schmerzen einigermaßen aushalten – ich habe mich an sie gewöhnt –, aber die Schwäche in meinen Beinen ist beängstigend. Ohne meine Beine verliere ich schnell meine Selbstständigkeit. Ich verpasse schon jetzt so viel. Ich möchte einfach wieder mein gewohntes Leben zurückhaben.

Irgendwann fangen beide Füße an zu brennen, als ginge ich über heiße Kohlen. Stechende Schmerzen schießen an meinen Beinen hinauf. Jeden Tag ziehen sie höher und höher und werden immer stärker. In meinen Beinen wütet die gleiche Art von Schmerz wie in meiner rechten Seite. Ich ziehe meinen rechten Fuß immer noch nach, und jetzt geben auch noch meine Knie nach. Jedes Mal, wenn ich stehe, sacken sie unter mir zusammen, und ich knicke zu Boden. Trotzdem bin ich fest entschlossen, mir von niemandem helfen zu lassen. Deshalb hangle ich mich an Möbeln und an der Wand entlang, um mich auf den Beinen halten zu können.

Das vergeht bestimmt wieder.

Falsch.

Meine Beine werden schwächer. Ich kann nicht mal mehr mit den Zehen wackeln. Und die Schmerzen werden noch stärker.

Doch eines Morgens sind sie abrupt weg. So sehr ich es feiern möchte, dass ich schmerzfrei bin, wären mir die Schmerzen doch lieber als das, was danach kommt: Nichts.

Keine Bewegung mehr. Keine Funktion. Nichts. Ganz tief innen weiß ich genau:

Hier stimmt etwas absolut nicht.

Ende Juni bezeichnen die Ärzte in zwei weiteren großen Kliniken in Massachusetts meinen Zustand erneut als „psychosomatisch“. Da sie nicht erklären können, was ich habe, bezeichnen auch sie mich als „psychisch krank“, um meinem Zustand irgendeinen Namen zu geben. Das bedeutet im Klartext: Die Ärzte schreiben mich nun ganz ab und weigern sich, mir zu glauben, geschweige denn zu helfen. In einem verzweifelten Versuch, Antworten zu bekommen, bringt mich meine Mutter zu einem Heilpraktiker in Connecticut. Der Heilpraktiker macht sich große Sorgen um mich und greift sofort zum Telefon. Ehe wir uns versehen, sind wir unterwegs in ein weiteres großes Krankenhaus, dieses Mal in New York City. Zuerst sind die Ärzte ernsthaft besorgt und führen eine Reihe von Untersuchungen durch. Aber als eine Untersuchung nach der anderen keine eindeutigen Schlussfolgerungen nahelegt, kratzen sie sich ratlos am Kopf und fragen sich: Was bringt ein normales elfjähriges Mädchen, das immer aktiv und gesund war, dazu, so zu werden?

Nach ungefähr einer Woche...