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Historical Saison Band 78

Historical Saison Band 78

Diane Gaston

 

Verlag CORA Verlag, 2021

ISBN 9783751502924 , 448 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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5,99 EUR

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Historical Saison Band 78


 

1. KAPITEL

Lincolnshire – Winter 1815

Genna Summerfield sah ihn zuerst nur aus dem Augenwinkel – einen weit entfernten Reiter, der voller Kraft und Anmut und ungezwungener Leidenschaft über das Land galoppierte. Es war ein aufregender Anblick. Der graue Hengst war wunderschön, sein Reiter trug einen ebenfalls grauen Mantel, der sich hinter ihm aufbauschte. Pferd und Reiter sahen aus, als wären sie eins mit den dunklen Wolken, die jetzt den Himmel bedeckten. Ob sie es wohl auf Papier bannen konnte? Genna griff nach Skizzenblock und Kohlestift und begann, schnell zu zeichnen.

Es war umsonst. Schon war er in einer Senkung des Hügels verschwunden.

Sie legte den Stift nieder und machte sich wieder daran, das Tal vor sich zu malen – der Grund, weswegen sie an einem kalten Dezembertag auf diesem Hügel saß. Wie sehr wünschte sie, sie könnte den Reiter und seinen galoppierenden Hengst malen. Welch wundervolle Herausforderung es doch wäre, all jene Grautöne wiederzugeben und gleichzeitig die Kraft und Anmut der Bewegung einzufangen.

Plötzlich lauter werdendes Hufgeklapper ließ sie zusammenzucken. Sie drehte sich um. Der Mann lenkte sein Pferd auf sie zu. Sie hob unwillkürlich ihren Pinsel, als könnte sie sich so alles besser einprägen, die Bewegung, das Licht, die Schatten …

Du lieber Himmel! Das Pferd kam mit donnernden Hufen direkt auf sie zu! Genna wich zurück, wobei sie ihren Schemel umwarf.

Im letzten Moment brachte der Mann seinen Hengst zum Stehen. „Ich wollte Sie nicht erschrecken“, sagte der Reiter.

„Das haben Sie aber. Ich dachte, Sie würden über mich hinwegtrampeln!“ Sie warf ihren Pinsel in ein Glas mit Wasser und wischte sich die Hände an der Schürze ab, die sie über ihrem Kleid trug.

Er musste ein Gentleman sein, wenn man nach dem vorzüglichen Schnitt seines Mantels urteilen wollte, und der Art, wie er im Sattel saß, als wäre es sein Anrecht, auf jedermann herabzusehen.

Lieber Himmel, hoffentlich war das nicht der entfernte Cousin, der ihr Land, ihr Gut, ihr Zuhause geerbt hatte.

„Verzeihen Sie mir.“ Er stieg ab. „Ich wollte mich erkundigen, ob Sie Hilfe brauchen, aber jetzt kann ich sehen, dass Sie absichtlich auf diesem Hügel sitzen.“

„Ja.“ Sie schirmte die Augen mit der Hand ab. „Das ist richtig, ich male das Tal hier unter uns.“

„Es ist eisig kalt“, wandte er ein. „Diese Kälte kann nicht gut für Sie sein.“

Genna hielt ihm ihre Hände hin. „Ich trage Handschuhe.“ Allerdings ließen ihre Handschuhe natürlich die Finger frei. „Und mein Umhang ist sehr warm.“

Sie musterte sein Gesicht, markant und schmal, aber nicht mager. Die Nase war aristokratisch gerade, was irgendwie zu ihm passte, wie Genna fand, und die Augenbrauen dunkel, genau wie die wenigen Strähnen seines Haars, die unter dem Hut hervorlugten. Seine Augen waren das Fesselndste an ihm, karamellbraun mit dunklen Flecken. Liebend gern hätte sie ein so bemerkenswertes Gesicht gemalt.

Er streckte die Hand aus. „Erlauben Sie mir, mich vorzustellen. Ich heiße Rossdale.“

Also nicht ihr Cousin. Sie atmete erleichtert auf und schüttelte ihm die Hand. „Miss Summerfield.“

„Summerfield?“ Er hob die Augenbrauen. „Mein Gastgeber, Lord Penford, heißt Dell Summerfield. Sind Sie vielleicht verwandt?“

Sie wusste, dass Lord Penford ihr Cousin war, aber das war schon alles. Dieser Mann war also ein Gast ihres Cousins.

„Nur entfernt.“ Sie hob unwillkürlich das Kinn an. „Ich gehöre zu den skandalösen Summerfields. Sie haben zweifellos schon von uns gehört.“

Sein Lächeln gefror, was Gennas Frage beantwortete. Natürlich hatte er schon von ihrer Familie gehört – von ihrem verstorbenen Vater, Sir Hollis Summerfield of Yardney, der sein Vermögen in unklugen Investitionen verloren hatte. Und ihre Mutter, die berüchtigt war für ihre zahlreichen Liebhaber, einschließlich des Mannes, mit dem sie durchgebrannt war, als Genna so klein gewesen war, dass sie sich kaum daran erinnerte. Wer hatte nicht von den skandalösen Summerfields gehört?

„Dann wohnten Sie früher in Summerfield House.“ Er wies auf das Haus unter ihnen.

„Deswegen male ich es“, erwiderte sie. „Und ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie Lord Penford nicht verraten würden, dass ich sein Land betreten habe. Ich habe nichts angestellt und wollte nur dieses eine Mal kommen, um die Aussicht zu malen.“

Er winkte ab. „Ich bin sicher, es würde ihm nichts ausmachen.“

Davon war Genna nicht so überzeugt. Nach dem Tod ihres Vaters hatte Lord Penford darauf gedrängt, dass Genna und ihre zwei Schwestern das Haus verließen. Doch sie sagte nichts, sondern begann nur, ihre Malsachen einzusammeln. „Wie dem auch sei, ich gehe jetzt.“

Er legte die Hand auf ihre Staffelei. „Das ist nicht nötig. Bitte machen Sie weiter.“

Genna schüttelte den Kopf. Der Zauber war gebrochen. Sie war daran erinnert worden, dass das Haus nicht mehr ihr Zuhause war. „Ich muss zurückkehren, und es ist ein ziemlich langer Weg.“

„Wohin müssen Sie?“

„Nach Tinmore Hall.“ Sie reckte stolz das Kinn. „Oder haben Sie nicht gehört, dass meine Schwester Lorene Lord Tinmore geheiratet hat?“

Er senkte den Blick. „Das hatte ich vergessen.“

Gennas älteste Schwester hatte den uralten Lord Tinmore wegen seines Vermögens geheiratet, damit Genna, ihre Schwester Tess und ihr Halbbruder Edmund nicht in Armut leben mussten. Und damit sie, im Gegensatz zu Lorene selbst, eine Ehe aus Liebe eingehen konnten.

Genna hatte Lorene noch nicht vergeben, dass sie ihr eigenes Glück geopfert und sich an diesen alten, widerwärtigen Mann gekettet hatte. Und wozu? Genna glaubte nicht mehr an die romantische Vorstellung von Liebe und Glück bis in alle Ewigkeit. Brachte einem die Liebe am Ende nicht bloß Schmerzen und Leid ein?

Gennas Leinwand flatterte im zunehmenden Wind.

Rossdale legte die Finger auf den Rand, damit sie nicht fortgeweht wurde. Er runzelte die Stirn. „Das Haus haben Sie gewiss gut eingefangen, aber der Rest ähnelt in nichts dem heutigen Tag.“

Langsam löste sie die Leinwand von der Staffelei, deckte sie mit Seidenpapier zu und legte sie in einen Lederumschlag. „Ich habe eine Erinnerung gemalt, könnte man sagen.“ Oder das Gefühl dieser Erinnerung.

Eine Bö kam auf, und Genna wandte sich ab, packte rasch den Rest zusammen und wickelte ihre Pinsel in einen mit Farbe befleckten Lappen, bevor sie alles in eine riesige Umhängetasche aus Segeltuch steckte.

„Wie weit ist es bis zu Ihrem Zuhause?“, fragte Rossdale.

Ihr Zuhause lag genau unter ihnen, hätte sie ihm am liebsten geantwortet. „Bis nach Tinmore Hall, meinen Sie? Nicht mehr als fünf Meilen.“

„Fünf Meilen!“ Er sah erstaunt aus. „Sind Sie allein hier?“

Sie presste gereizt die Lippen aufeinander. „Ich brauche keine Anstandsdame dort, wo ich geboren bin.“

Sein Ton war beschwichtigend. „Dürfte ich Sie dann nach Tinmore Hall begleiten?“ Er blickte kurz zu den Wolken hinauf. „Der Himmel sieht recht bedrohlich aus, und vor Ihnen liegt ein langer Weg.“

Fast hätte sie gelacht. Wusste sie nicht besser als die Meisten, was einer Summerfield-Schwester geschehen konnte, die von einem Unwetter überrascht wurde – und das in Gesellschaft eines Mannes? Wenn Genna es auch niemals so weit kommen lassen würde. Nicht wie ihre Schwester Tess, die den Mann geheiratet hatte, mit dem sie in ein Gewitter geraten war. Warum sollte sie nicht einen Ritt mit Rossdale riskieren?

Ihr Lächeln vertiefte sich. „Wie freundlich von Ihnen. Einen Ritt auf Ihrem schönen Pferd wüsste ich sehr zu schätzen.“

Ross befestigte ihre Segeltuchtasche am hinteren Teil des Sattels und stieg auf Spirit, seinen Lieblingswallach, den er selbst in den Zuchtställen seines Vaters gezogen hatte. Dann streckte er die Hand aus und half Miss Summerfield hoch, sodass sie vor ihm sitzen konnte, als säße sie in einem Damensattel.

Sie wandte den Kopf und sah ihn unverwandt an. „Danke.“

Im Grunde sah sie hübsch aus mit ihrer blassen, makellosen Haut, den blauen Augen, die ihn an das Meer erinnerten, den vollen Lippen und dem blonden Haar, von dem sich einige Locken unter ihrem Häubchen hervorstahlen. Der einzige Makel war ihre ein wenig zu große Nase, aber die machte ihr Gesicht nur interessanter. Man konnte sie nicht dreist nennen, aber sie war auch nicht schüchtern oder kokett.

Sie war furchtlos. Ja, das beschrieb sie am besten.

So hatte sie zum Beispiel erwähnt, dass sie zu den skandalösen Summerfields gehörte, ohne den Eindruck zu machen, als wollte sie sich dafür rechtfertigen. Ebenso wenig zeigte sie Zerknirschtheit darüber, dass sie unerlaubt fremdes Land betreten hatte. Es gefiel ihm, dass sie sich so offensichtlich wohlfühlte in ihrer Haut und ihn so nahm, wie er war.

Wahrscheinlich, weil sie nicht wusste, wer er war. Die Menschen verhielten sich anders, sobald sie es wussten. Umso erfrischender war es, einer jungen Dame zu begegnen, die Debretts Adelsregister nicht auswendig gelernt hatte.

„Welche Richtung?“, fragte er.

Sie wies ihm die Richtung, und er trieb sein Pferd an.

„Wie lange sind Sie schon bei Lord Penford zu Gast?“, erkundigte sie sich kurz darauf.

„Seit zwei Tagen. Ich soll bis zum Dreikönigsfest bleiben.“ Was seinen Vater nicht...