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Weiße Katze auf weißem Grund - Roman, Band 2

Weiße Katze auf weißem Grund - Roman, Band 2

Ralf Steinit

 

Verlag epubli, 2021

ISBN 9783753142036 , 215 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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4,99 EUR

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Weiße Katze auf weißem Grund - Roman, Band 2


 

Eins


 

Der Junikäfer kam mit der Morgendämmerung. Das Brummen des Käfers beunruhigte den Kater. Er hätte sich gern ein Stück vom Rand der Balkonbrüstung zurückgezogen, fürchtete aber, er könnte dabei beobachtet werden, wie er sich vor einem Käfer zurückzog. Es war niemand da, der ihn hätte beobachten können. Niemand befand sich auf dem Weg, der zum Ufer führte, und es stand auch niemand hinter einem der Fenster, die von der Brüstung des Balkons aus einzusehen waren.

Auf der Balkonbrüstung des Hauses, das jenseits des Weges lag, erschien um diese Zeit gewöhnlich die weiße Katze. Eine weiße Katze mit blauen Augen und auffallend großen Ohren. Noch war die weiße Katze nicht auf die Brüstung des Balkons gesprungen. Sie konnte ihn nicht beobachten, wenn sie nicht auf die Brüstung sprang.

Das Problem des Rückzugs vor dem Käfer barg für den Kater nicht allein die Gefahr, sich dem Hohnlachen eines möglichen Beobachters ausgesetzt zu sehen. Die Balkonbrüstung war die Länge eines Ziegelsteines breit. Ein Rückzug hätte bedeutet, mit den Hinterbeinen von der Brüstung zu rutschen. Er würde an der Innenseite der Balkonbrüstung hängen. Es war eine Frage des Hohnlachens und der Bequemlichkeit.

Der Kater überlegte, ob sich ein Ausweichen zur Seite mit seiner Würde vereinbaren ließ. Es konnte keine geeignete Lösung sein, weil der Junikäfer inzwischen in einem unkalkulierbaren Schlingerkurs in Richtung der Brüstung flog. Er war nun so nah, dass der Kater die dreigliedrigen Fühler erkennen konnte, die Haare am Bauch und das unverschämte Grinsen unter den schwarzen Kulleraugen.

Der Kopf des Katers wich vor dem anfliegenden Käfer zurück, während sich seine nach hinten gedrehten Ohren legten. Er bemerkte, dass sein Mund offen stand, wobei ihm das Entsetzen bei dem Gedanken, der Käfer könnte in seinem Mund landen, den Mund noch weiter öffnete. Der Junikäfer vollzog einen unvermittelten Kurswechsel, prallte gegen den Balkonpfeiler und stürzte auf die Brüstung, wo er wenige Zentimeter neben der Pfote des Katers liegen blieb.

Wenn er die Pfote bedächtig gehoben hätte, um sie in aller Ruhe aus der Reichweite des Käfers zu bringen, würde ihm wohl niemand den Vorwurf machen können, er fürchte sich vor einem Junikäfer. Er wollte in dieser Hinsicht kein Risiko eingehen, möglicherweise saß die weiße Katze inzwischen auf der Brüstung und schaute zu ihm herüber. Aus den Augenwinkeln war der Balkon des Hauses auf der anderen Seite des Weges nicht deutlich zu erkennen. Er hätte den Kopf wenden können, doch er wollte den Käfer neben seiner Pfote nicht unbeobachtet lassen. Der Käfer lag auf dem Rücken. Es war ein Käfer von enormen Ausmaßen. Er schaukelte bei dem Versuch, sich zu drehen, und bewegte seine sechs Beine gleichzeitig. An den Schenkeln hatte er Borsten und etwas, das Zähnen ähnelte, ragte nahe des Gelenks aus den vorderen Schienen, während sämtliche Fußglieder in Doppelkrallen endeten.

Der Kater wollte sich die Details des Körperbaus nicht einprägen. Er fürchtete, den grässlichen Schenkelborsten des Käfers in seinen Träumen zu begegnen. Solange sich der Käfer bewegte, konnte er den Kopf nicht in die andere Richtung drehen. Es war denkbar, dass der Junikäfer auf die Beine kam und mit seinen in Doppelkrallen endenden Fußgliedern über die gepflegte Pfote des Katers krabbelte, wobei der Kater die Gefahr zu spät bemerken würde, weil er gerade zum Balkon des Hauses jenseits des Weges schaute. Der Käfer mühte sich noch immer ohne Erfolg. Es war kein guter Morgen, wenn einen ein hässlicher Käfer bedrängte. Ein Käfer, der unfähig war, seinen Flug zu kontrollieren, und es nicht schaffte, sich aus einer Rückenlage zu befreien. Der Kater schob den Käfer zum Rand der Brüstung und stieß ihn über die Kante.

Nachdem er den Käfer über die Kante gestoßen hatte, kam ihm die Befürchtung, dass er im Fallen die Flügel ausbreiten könnte, um sich in einem weiteren Torkelflug der Balkonbrüstung zu nähern. Die Befürchtung war unbegründet. Der Kater sah den Käfer auf den Terrassensteinen am Haus. Er schüttelte seine Benommenheit ab und verschwand zwischen den Halmen des Rasens.

Der Kater war nahe daran, die Pfote, mit der er den Käfer über die Kante gestoßen hatte, zum Putzen an seinen Mund zu führen. Die Pfote war mit dem Käfer in Kontakt gekommen. Wenn er die Pfote putzen würde, müsste er seine Zunge über die Stelle führen, mit der er den Käfer berührt hatte. Es wäre, als ob er Käferspuren leckte. Er hatte mit seiner Pfote die borstigen Beine des Junikäfers berührt! Die Pfote musste unbedingt gründlich gereinigt werden. Seine eigene Zunge konnte er dazu unter keinen Umständen benutzen. Es schien eine ausweglose Situation zu sein. Der Kater sah sich um, als hoffe er, jemanden zu entdecken, der seine Käferpfote putzen würde.

Die weiße Katze saß auf der Balkonbrüstung des Hauses jenseits des Weges. Sie konnte noch nicht lange dort sitzen. Vermutlich war sie gerade nach draußen gekommen, hatte in das frühe Licht geblinzelt und entschieden, dass es ein guter Zeitpunkt für den Sprung auf die Brüstung sein musste. Ihre Augen hatten das durchscheinende Blau eines südlichen Meeres. Die außergewöhnlich großen Ohren waren aufgestellt und zeigten nach vorn. An den Ohren wuchsen lange Pinsel. Die Pinsel hatten eine Länge, dass man glauben mochte, unter ihren Vorfahren müsse sich ein Luchs befinden. Es waren weiße Pinsel. Die Katze hatte ein weißes Fell, das sich fleckenfrei von den Ohren bis zu der schwarzen Schwanzspitze zog.

Es war jeden Morgen der gleiche Ablauf. Die Katze beugte sich ein Stück über die Balkonbrüstung hinaus und ließ ihren Blick sorgfältig prüfend an den Häusern entlanggleiten, die eine ovale Freifläche einschlossen. Der Kater sah an der Haltung ihres Kopfes, dass sie angestrengt starrte. Ihre Augen wanderten zunächst über die Fenster der Häuser, die gestaffelt an der Uferlinie standen. Wenn sie beim dritten Haus angelangt waren, das im Scheitelpunkt des Ovals lag, wusste der Kater, dass sie auf seine Seite wechseln würde und ihn auf dem Balkon sitzen sah. Er hätte sich ihrem Blick entziehen können, indem er von der Brüstung sprang und nach drinnen ging. Es wäre auch möglich gewesen, ihr Starren zu erwidern, um deutlich zu machen, dass ihre Augen in sein Revier eindrangen, sobald sie den Weg, der zum Ufer führte, überquerten. Der Kater hatte sich aber bei der ersten Begegnung mit der weißen Katze dazu entschlossen, ihren Blick zu ignorieren. Im Grunde hatte er sich nicht dazu entschlossen, sondern spontan eine Haltung eingenommen, die den Eindruck erweckte, er wäre auf der Jagd nach Mäusen, die im Rasen unter ihm ihre Baue hatten. Genau so machte er es auch in diesem Moment. Er konnte nur hoffen, dass es im Rasen keine Mäusebaue gab. Durch den Kot der Mäuse wurden schreckliche Krankheiten übertragen. Der Kater hätte über den Mäusekot verseuchten Rasen nicht einmal in Gedanken gehen wollen. Er würde möglicherweise bereits krank werden, weil er die Grashalme, an denen der Mäusekot klebte, angeschaut hatte. Es wäre besser gewesen, den Rasen zu ignorieren und die weiße Katze anzustarren, bis sie vom Balkon fiel.

Der Kater hatte wenig Freude an Rivalitäten, die mit endlosem Starren und gesträubtem Rückenfell einhergingen. Er praktizierte diese Form des Umgangs, weil es den Konventionen entsprach. Ein ausgedehnter Schlummer auf einem frisch gewaschenen Kaschmirpullover deckte sich eher mit seinen Vorstellungen von einem gelungenen Tag. Als der Kaschmirpullover noch auf der Fensterbank der kleinen Wohnung gelegen hatte, war es möglich gewesen, das Geschehen zu beobachten, ohne einer Gefahr ausgesetzt zu sein. Ein Junikäfer hätte ihm nichts anhaben können, er wäre höchstens gegen die Fensterscheibe geflogen. Der Kater hing gewiss keinen fortschrittsoptimistischen Theorien an, doch er hätte nicht gern in einer Welt gelebt, die kein Fensterglas und kein Penicillin kannte. Er würde den Schlaf auf dem Kaschmirpullover lediglich kurz unterbrochen haben, um sich ausgiebig zu strecken. Eventuell hätte er seinen Kopf in den Schatten geschoben.

Den Platz auf der Fensterbank hatte ihm niemand streitig machen können, auch die beiden anderen Kater nicht, die in die kleine Wohnung gezogen waren. Es handelte sich um sein Revier und in seinem Revier gehörte die Fensterbank mit dem Kaschmirpullover ihm. Vor drei Wochen hatte Tamira damit begonnen, Bücher, Geschirr und Kleidung in Kisten zu verpacken. Der griechisch sprechende Mann war gekommen und hatte Tamira geholfen, die Kisten, den Schreibtisch und die Töpfe mit dem Basilikum aus der Wohnung zu tragen.

Das Problem bestand darin, dass er nun nicht mehr behaupten konnte, er hätte die älteren Rechte. Er war zusammen mit den anderen Katern in der neuen Wohnung eingetroffen. Rechte an bestimmten Plätzen mussten erst verhandelt werden. Die Wohnung bot deutlich mehr Raum, sie hatte zudem einen Balkon, von dem aus man über eine Wendeltreppe nach unten gelangte. Das neue Revier nahm damit einen bedeutenden Umfang an, was nur beim ersten Hören nach einem wahr gewordenen Traum klang. Ein Revier von bedeutendem Umfang war mit Arbeit verbunden. Das Revier musste fortwährend kontrolliert werden. Reviergrenzen waren festzulegen. Es bestand die Möglichkeit, dass jemand die Reviergrenzen infrage stellte. Hatte man sich für ein Schläfchen zusammengerollt, trieb einen die Sorge um Eindringlinge gleich wieder hinaus. Unter jedem Busch konnte ein Waschbär lauern, während Wildschweine durch die Hecken brachen. Es gab in der Gegend eine große Zahl an Hecken und Büschen. Das Schlimmste aber war, dass sich der Kaschmirpullover nicht mehr finden ließ. Der Kater hatte mehrfach nach seinem Kaschmirpullover...