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Jeder verdient eine zweite Chance - Hoffnungsträger-Geschichten aus dem Seehaus und dem Rest der Welt

Jeder verdient eine zweite Chance - Hoffnungsträger-Geschichten aus dem Seehaus und dem Rest der Welt

Christoph Zehendner

 

Verlag Brunnen Verlag Gießen, 2021

ISBN 9783765575792 , 224 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR

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Jeder verdient eine zweite Chance - Hoffnungsträger-Geschichten aus dem Seehaus und dem Rest der Welt


 

1.


Ich sehe das Gute in dir –


Von Visionären, Seehaus-Jungs, Hoffnungsträgern und einer sehr guten Idee


Einmal Pizza, einmal Pasta, einmal einen Hamburger. Davor drei verschiedene Vorspeisen – zum Probieren. Und drei verschiedene Säfte – frisch gepresst natürlich. So gehört sich das hier in Kolumbien.

An einem lauschigen Novemberabend sitze ich bei sommerlichen Temperaturen von vielleicht 28 Grad gemeinsam mit zwei jungen Frauen in einem Straßenrestaurant in der kolumbianischen Millionenstadt Medellín.

Wir sind zu Fuß hier. Simone wohnt in der Gegend. Anna und ich (nur für ein paar Recherche-Tage) sind im Bürogebäude des kolumbianischen Zweiges von Prison Fellowship untergebracht. Alles hier in der Nähe, ein paar Hundert Meter weit weg.

Beim Spaziergang hierher konnte ich das Stadtviertel auf mich wirken lassen. Ungewöhnlich viel Verkehr drückt sich durch die nicht besonders breiten Straßen. Denn anderswo in Medellín wird heute demonstriert, protestiert, Krach geschlagen: im Zentrum und auf den breiten Zufahrtstraßen. Tausende, vielleicht Zehntausende von Menschen machen dort gerade ihrem Ärger Luft. Trommeln mit Kochlöffeln auf Pfannen oder Töpfe. Rufen Parolen. Fordern mehr soziale Gerechtigkeit, bessere Bildung, bessere berufliche Chancen, höhere Renten. Laute Hilfeschreie einer Gesellschaft, in der die Schere zwischen wenigen Reichen und sehr vielen Armen immer weiter auseinandergeht.

Wir wollten zur Feier des Tages (Anna hat heute Geburtstag) eigentlich in der Abenddämmerung mit einer Seilbahn über die Dächer der Stadt in die höchstgelegenen Viertel schweben, mit Traumblick über eine manchmal albtraumhafte Stadt, und anschließend unten in der City fein essen gehen. Doch kundige Einheimische haben uns abgeraten: aus Sorge um unsere Sicherheit. Niemand kann ermessen, ob die Demos nicht vielleicht auch so gewalttätig enden werden wie die vor ein paar Tagen in der Hauptstadt Bogota, wo es sogar Todesopfer gab. Deswegen sind wir hier gelandet, in diesem Stadtviertel. Ein wenig ab vom Schuss. Aber auch recht nett.

Auf unserem Weg sind mir einige große Ballen mit Plastikmüll in einer Ecke aufgefallen. Und die beiden jungen Männer, die dort gerade ihr Nachtquartier aufschlagen. Auch den schon etwas älteren Herrn habe ich wahrgenommen, der mitten auf dem Bürgersteig seinen Rausch ausschlief – auf einem zerschlissenen Pappkarton, notdürftig zugedeckt mit ein paar Zeitungen.

Kolumbien ist ein faszinierendes Land: farbenfroh, lebendig, kreativ und voller Rhythmus. So erlebe ich es, seit ich vor ein paar Tagen hier gelandet bin. Aber ich habe in dieser kurzen Zeit auch schon eine Ahnung von den gewaltigen sozialen Problemen im Land bekommen: beim Blick aus dem Fenster, bei Fahrten durch Stadt und Umgebung. Und jetzt gerade beim Spaziergang hierher.

Was ich ohne die beiden Frauen an meinem Tisch (und einige weitere auskunftsbereite Menschen) nicht auf Anhieb entdecken würde: Kolumbien ist durch und durch geprägt von Gewalt. Blutige Jahrzehnte stecken den Menschen in den Knochen: Diktatur. Guerillagruppen. Paramilitärs. Drogenbarone. Brutaler Hass. Gewalt. Lynchjustiz. Korruption. Unzählige Menschen haben ihr Leben verloren. Auch wenn sich inzwischen manches zum Guten entwickelt, wenn Regierung und ein Teil der Guerilla Frieden besiegelt haben (wenigstens auf dem Papier): Die Gewalt bleibt ein schlimmer Faktor in diesem Land. Morde sind immer noch an der Tagesordnung.

Eine Folge davon: Die Gefängnisse in Kolumbien sind absolut überfüllt mit Häftlingen. Die Verhältnisse in diesen Anstalten sind verheerend. Menschenverachtend. Himmelschreiend. Jeder Knast ist eine Brutstätte für Gewalt, ein wahres „Ausbildungszentrum“ für Kriminelle.

Anna und Simone, mit denen ich heute zu Abend esse, nehmen diesen Zustand nicht hin. Beide Frauen haben sich schon in ihrer ursprünglichen Heimat Deutschland in Studium und Beruf konzentriert auf die Frage: Wie kann man Menschen, die straffällig geworden sind, am besten zurück in die Gesellschaft begleiten?

Simone, Ende zwanzig, arbeitete im heimischen Baden-Württemberg als Bewährungshelferin. Und entwickelt hier in Kolumbien Resozialisierungssprogramme für den kolumbianischen Zweig der internationalen Gefangenenhilfsorganisation Prison Fellowship. Zweieinhalb Jahre Kolumbien-Erfahrung hat sie bereits. In ein paar Monaten soll es zurückgehen nach Deutschland.

Die Hamburgerin Anna, ein paar Jahre älter und erst seit wenigen Monaten in Kolumbien, hat zum Thema „Integration von Straffälligen in die Gesellschaft“ ebenfalls schon viel studiert und viel Erfahrung gesammelt. Anna ist hier, um ein ehrgeiziges Projekt zu begleiten: Jugendstrafvollzug in freier Form. Auf einem malerisch gelegenen Bauernhof mit mehr als viertausend Avocado-Bäumen – ohne Mauern und Stacheldraht. Mit einem straffen sozialen Trainingsprogramm. Und mit der Hoffnung, dass jugendliche Straftäter so besser in die kolumbianische Gesellschaft zurückfinden als nach verlorenen Jahren im Jugendknast.

In Deutschland gibt es bereits einige solcher Projekte: Seit 2011 das Seehaus in Leipzig und schon seit 2003 das in Leonberg. Im Leonberger Seehaus hat Anna eine Weile mitgearbeitet. Sich um die jungen Strafgefangenen – die „Jungs“, wie man sie im Seehaus nennt – gekümmert. Stärken und Schwächen, Chancen und Grenzen des Seehaus-Konzepts kennengelernt. Nun soll hier in der kolumbianischen Gesellschaft etwas Ähnliches entstehen – ein Haus der zweiten Chance, das jungen Leuten zurück in die Gesellschaft hilft.

Auch wenn Gefängnisse nicht mein Spezialgebiet sind: Ich könnte den beiden charmanten Fachfrauen Anna und Simone stundenlang zuhören. Sie beobachten die Lage in Kolumbien mit offenen Augen. Sie kennen die möglichen Stolpersteine und die zu erwartenden Schwierigkeiten – und sie entwickeln und verfolgen gemeinsam mit den einheimischen Prison Fellowship-Mitarbeitern Ideen und Programme, die Hilfe bringen und das Leben vieler Menschen verändern könnten.

In ihren Augen spiegelt sich die Hoffnung darauf wider, dass die Welt nicht so böse und gewalttätig bleiben muss, wie sie ist. Das Engagement der Frauen hat eng mit ihrem christlichen Glauben zu tun: Beide haben die Aufforderung Jesu gehört. Und wollen jetzt in ihrem speziellen Lebensbereich Salz und Licht sein. Ich finde die beiden beeindruckend. Mut machend. Ansteckend.

„Worum genau soll es eigentlich gehen in dem Buch, das du schreibst?“, fragt Simone mich wie aus heiterem Himmel. Dass ich hier bin, um Gespräche zu führen, um Informationen zu sammeln, um einen Eindruck der Prison Fellowship-Arbeit hier in Kolumbien zu bekommen, das hat sich herumgesprochen. Dass aus diesen Recherchen ein Buch entstehen soll, wissen die beiden. Jetzt wollen sie es konkreter wissen. Und quetschen mich aus.

Ich fange an zu erzählen. Und merke, dass Simones Frage gar nicht so leicht in ein, zwei Sätzen zu beantworten ist:

Im Auftrag des Brunnen Verlages will ich das Leonberger Seehaus vorstellen, sein Konzept, seine Mitarbeiter, eine Reihe der Jungs, die dort gerade ihre Gefängnisstrafe „absitzen“.

Und natürlich den Mann, der das Seehaus-Konzept erfunden hat und der das Haus bis heute prägt und leitet: Tobias Merckle, Spross einer bekannten Unternehmerfamilie, Sozialpädagoge, Chef des deutschen Zweiges der internationalen Organisation Prison Fellowship, großzügiger Stifter und so manches mehr. Tobias will nicht im Mittelpunkt des Buches stehen, das hat er mehrfach betont. Er ist zwar Visionär, Geldgeber, Motor, engagiertester Mitarbeiter bei einer ganze Reihe ähnlich gelagerter Projekte in verschiedenen Ländern der Welt. Aber er investiert seine Zeit lieber in Menschen als in Medienpräsenz. Er beschäftigt sich lieber mit neuen Konzepten für seine Schützlinge als mit Talkshowauftritten. Er wirkt eher schüchtern als strahlend – aber gerade deshalb ist er vermutlich der einzige Mensch auf dieser Welt, der solch ungewöhnliche Konzepte und Hilfsangebote starten und so konsequent durchziehen könnte.

Und doch wird es im Buch viel um ihn gehen. Um seine Anliegen. Seine Visionen. Seine Hoffnungen. Seine Hilfsprojekte. Denn zum ziemlich ungewöhnlichen Ideenstrauß von Tobias Merckle gehört nicht nur das Seehaus. Auf seinem frucht baren Mist gewachsen sind auch die Hoffnungsträger Stiftung, das Konzept der Hoffnungshäuser sowie die Hoffnungs-Patenschaften.

Anna und Simone kennen Tobias. Und sie kennen all diese Stichworte und können sich darunter einiges vorstellen:

Die Hoffnungsträger Stiftung will – wie ihr Name sagt – Hoffnung stiften. Hoffnung gerade in „hoffnungslos“ wirkenden Gegenden der Welt, wo Armut und Elend besonders groß und die Zukunftsaussichten besonders schlecht sind. Hoffnung in gebeutelten Staaten...