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Loslassen - 10 inspirierende Kurzgeschichten

Loslassen - 10 inspirierende Kurzgeschichten

Michael Draksal

 

Verlag Draksal Fachverlag, 2021

ISBN 9783862432547 , 148 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

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Loslassen - 10 inspirierende Kurzgeschichten


 

Keller und eine Zimmerpflanze


von Céline Zimmer


Während mein Kaffee neben mir langsam kalt wird, sehe ich mich in diesem Auto sitzen, in dem Lisa und ich sonst immer die Musik so laut aufdrehten, dass es fast in den Ohren schmerzte. In dem wir gesungen hatten, geraucht, ich mich auf dem Beifahrersitz geschminkt hatte, in diesem kleinen klebrig aussehenden Spiegel, der immer im Handschuhfach gelegen hat. Jetzt war von all dem nichts mehr übrig. Eine Zimmerpflanze stand auf meinem Schoß. Grün, die Erde noch feucht, vier große Blätter hatten sich bereits gebildet. Die Abendsonne spielte Schattenhaschen durch die Laubbäume der Landstraße. Es war ganz still. Und ich war es auch.

Als ich Leon kennengelernt habe, hatte mir das Leben wohl etwas Gutes tun wollen. Wie wir dort saßen, auf dieser Bank, mit dem Blick über die Genfer Altstadt, eine Flasche Rotwein stand zwischen uns. Aufgeregt waren wir wohl beide, ein bisschen zumindest. Erste Dates halt. Er war etwas schüchtern, lieb sah er aus, sehr lieb sogar. Wir redeten über die klassischen Dinge; unsere Einstellung zu linker Politik und den absolut übertriebenen Gendersternchenschreiber*innen, wo wir herkamen, was für uns Zuhause bedeutet, was wir gerne trinken, was wir gerne sehen, was wir gerne tun. Gelacht haben wir viel, wir hatten immer schon den gleichen Humor. Ein gutes Zeichen. Alles lief natürlich ab, schön war es, ein wenig unaufgeregt, diese innere Ruhe, von der mein Therapeut immer sprach, die fühlte ich tief in mir. Ich ließ mich fallen, in diese Ruhe. Wie ein wundervoller See inmitten der schwedischen Natur kam er mir vor. So ganz anders als das wütende Meer, welches mir sonst so bekannt war, ein friedvoller Ort, ein friedvoller Gegner, der sich bereits an unserem ersten Abend als etwas entpuppte, das man wohl eher einen Partner als einen Gegner nennen konnte. Wie von selbst sind wir, als es uns so langsam kalt wurde in dieser frühsommerlichen Nacht, zu ihm gefahren. Gefallen hat mir da schon ziemlich alles an ihm, merke ich gerade.

„Soll ich dir mein Bett überlassen?”, hatte er mich gefragt, als ich in seinem Zimmer stand, weil ich zu müde war, um drei Uhr nachts – welch eine unchristliche Zeit an einem Sonntagabend für einen Bayer und eine Schweizerin, die am darauffolgenden Tag beide arbeiten mussten – noch nach Hause zu fahren. Ich lächelte. „Nein, natürlich nicht!“, sagte ich leise. Natürlich dürfte er sich mit mir das Bett teilen. Ja, wir hatten uns noch nicht geküsst. Komisch, dachte ich damals, während mir klar wurde, dass wir die letzten sieben Stunden unseres Abends nur mit Reden verbracht hatten. Er legte sich neben mich ins Bett. Wie schön er aussah, mit seinen weichen Wangen und seinen wundervoll blauen Augen.

Kaum konzentrieren kann ich mich beim Versuch, mich an diesen Moment zu erinnern und an das Gefühl. Es vermischt sich alles. Wie Keller sich plötzlich zu mir umdrehte und mich endlich küsste. Und wie er mich packte, mit seinen starken, großen Händen – im Eifer des Gefechts hätte er mich fast die Mauer runtergestoßen, auf der ich saß, die Füße einen halben Meter über dem Boden baumelnd, damit wir uns in die Augen sehen konnten. Aber er hielt meine Taille fest und zog mich wieder an sich heran, während mein ganzer Körper ihn begehrte. Jede einzelne Faser sehnte sich nach ihm, nach seinen Lippen, nach seiner starken Brust und seiner rauen Haut. Er packte mit seiner großen Hand an meinen Hals und zog mich an sich. Seine Finger streiften meinen Nacken hoch, leicht und zart, und griffen dann mit voller Bestimmung in meine Haare. In mir machte sich ein Gefühl des Schwindels breit, der Ohnmacht. Und genau das war ich auch in dem Moment; ohnmächtig und völlig erlegen. Der ältere Herr am Tisch neben mir hebt den Kopf, während ein Windzug die Seiten seiner Zeitung ärgert. Er versucht sie glattzustreichen. Sieht – aus meiner Perspektive – ziemlich erfolglos aus. Ich muss an Leon denken und an das Gefühl, dass ich bei ihm sagen konnte, was auch immer mir durch den Kopf ging, er würde es nicht merkwürdig finden. Mehr noch, wie sich nach einer Zeit herausstellte, er verstand mich sogar. Ein Seelenverwandter, könnte man sagen. Vertraut. Sicher, irgendwie. Ich sehe Bilder vor mir, auf denen wir beide in einem Café in Metz sitzen, den gleichen Kaffee trinken, jeder liest ein Buch, ich eines, das er mir ausgeliehen hat, er eines, das ich ihm ausgeliehen habe. Fast zeitgleich griffen wir in regelmäßigen Abständen zu unseren Zigarettenpäckchen. Als es uns auffiel, dass wir sogar beim Rauchen den gleichen Takt hatten, den gleichen Rhythmus, das Gleiche zur gleichen Zeit dachten, sahen wir uns an und mussten lächeln.

Das Café war an einer Brücke über der Mosel. Die Architektur der gegenüberliegenden Straße, die Luft, die Palmen, die merkwürdigerweise so ziemlich überall in Frankreich standen – es erinnerte mich alles ein wenig an Paris. Am Nebentisch saßen zwei ältere, wohl befreundete Damen, ich merkte, wie sie zu uns rübersahen und tuschelten, wahrscheinlich über unser jeune amour1. Ich habe das immer schon gemocht, wenn ältere Menschen sich jüngere Pärchen ansehen und voller Nostalgie an ihre eigenen Liebschaften erinnert werden. Und mit Leon muss es wohl sehr danach ausgesehen haben, dass wir uns liebten, wahrscheinlich auch schon ewig und für immer. Wie ein eingespieltes Team liefen wir immer in die gleichen Gassen, hatten immer auf dasselbe Lust, mochten das gleiche Essen, die gleiche Musik. Leon war – für einen Außenstehenden – vielleicht gar nicht so besonders. Mit seinem langweiligen Job als Consulter, der bei Tag Anzug trug, abends dann Birkenstocks, der in seinem Zimmer weder einen Plattenspieler stehen hatte noch ein volles Bücherregal, es dennoch verstand, dass ich unsinnigerweise immer noch der Ansicht war, dass ich irgendwann mal Schriftstellerin werden würde. Leon mochte bescheuerte Youtube-Videos von alten Pseudorealityshows und wollte gleichzeitig unbedingt bei ARTE arbeiten. Leon reparierte ein altes Fahrrad und ging danach mit seinen Arbeitskollegen zum Tennistraining. Leon war einer der klügsten Menschen, die ich kannte, doch wenn er sich zu einem Thema noch nicht informiert hatte, meinte er einfach: „Dazu habe ich keine Meinung.“ Nichts Besonderes von außen betrachtet. Für mich, für mich jedoch, war er mehr als besonders. Vor allem aber zeigte er mir durch seine Besonderheit, dass auch ich besonders war. Ich, die sich früher nie ganz einer Gruppe zugehörig gefühlt hatte, nie ganz nur einem Thema, einem Stil, einem Interesse, einer Einstellung zuordnen konnte und irgendwie, in meinem tiefsten Inneren, immer das Gefühl hatte, genau diese Unentschlossenheit würde mich ein wenig belanglos, gar uninteressant, normal machen. Leon zeigte mir – und ich glaube, es war ihm gar nicht bewusst – dass es genau jene Facetten sind, seien sie noch so kontrovers, die mich am Ende zu einem besonderen Menschen machen, zu einer Persönlichkeit, die ich immer schon so dringend sein wollte. Ich schätzte die Summe der unterschiedlichen Teile an ihm, und mir wurde dadurch klar, dass ich sie auch an mir schätzen sollte und konnte. Wir waren wie ein Ebenbild, und alles was ich in ihm sah, sah ich ganz plötzlich auch in mir.

„Das klingt doch perfekt, denken Sie nicht?“ Erwartungsvoll blicke ich den älteren Herrn am Nebentisch an. „Seien Sie doch mal ehrlich: Ist es nicht das, von dem alle reden? Einen Seelenverwandten finden, mit ihm alt werden, immer jemanden an seiner Seite zu haben, der Sie versteht, oder es vielleicht gar nicht muss, weil er eigentlich nur sich selber kennen muss, um auch Sie zu verstehen? Hatten Sie sowas in Ihrem Leben?“ Ich warte auf seine Antwort. Er versucht mich anzulächeln, ängstlich irgendwie, nickt einmal ganz leicht mit dem Kopf und wendet sich sofort wieder seiner Zeitung zu. Ist wohl nicht sonderlich gesprächig …

„Ich würde fast eher sagen, dass ich dich liebe, als dass ich jemals in dich verliebt war.“ Das hatte ich am Ende zu Leon gesagt. Danach hatte er die Zimmerpflanze geholt, deren Ableger er nun seit Wochen für mich gezüchtet hatte. Letzte Woche war meine Mutter bei mir zu Besuch. Wir hatten uns beide darauf gefreut, sie etwas mehr als ich, das ist wohl normal. Sie kam die Treppen zu meiner Wohnungstür hoch, ich blieb in der Tür stehen und schrie fast: „Mama, ich muss dir gleich was sagen! Ich will mich von Leon trennen!“ Gut, dass es raus war, jetzt konnte ich sie auch reinlassen. Sie war überrascht, versuchte ihre Enttäuschung mit einem aufmunternden Lächeln zu überdecken und ließ sich auf einen meiner Küchenstühle fallen. Die arme Frau, wahrscheinlich hatte sie sich darauf gefreut, dass nun endlich – endlich – auch mal ihre jüngste Tochter unter die Haube kam, hatte doch ihre älteste vor einem Monat erst geheiratet. Naja, dachte ich mir, immerhin halte ich dich auf Trab, dann wirst du auch nicht so schnell alt. Als sie mich fragte, warum denn, da begann ich meinen Satz – zugegeben, ich habe meiner Mutter nur die halbe Wahrheit erzählt – mit:

„Wir sind uns einfach viel zu ähnlich …“ Sie unterbrach mich mit ihrem Lachen. Ich wusste, woher es rührte. Sie und mein Vater, immer noch verheiratet, sind so unglaublich unterschiedlich, dass ich bis heute nicht verstehe, wie die zwei es miteinander aushalten. „Ich weiß, Mama, man will halt immer das, was man nicht hat.“ Sie hatte ihre Hand an den Mund gelegt und lächelte, verwirrt, aber sogar vielleicht ein wenig verständnisvoll. Das, was man nicht hat … Was habe ich denn nicht? Beginnen wir vielleicht eher damit, wie...