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Wiedergutmachung - Der Kleinkrieg gegen die Opfer

Wiedergutmachung - Der Kleinkrieg gegen die Opfer

Christian Pross

 

Verlag CEP Europäische Verlagsanstalt, 2021

ISBN 9783863935627 , 384 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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14,99 EUR

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Wiedergutmachung - Der Kleinkrieg gegen die Opfer


 

Vorwort zur 2. Auflage


Ein Jahr nach Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches, im Jahr 1988, fiel die Berliner Mauer. Die damalige Debatte über die ausgebliebene Wiedergutmachung für die „vergessenen Opfer“ des Nationalsozialismus trat vor diesem historischen Ereignis in den Hintergrund. Auch das Buch, das zunächst eine große Resonanz gefunden hatte, verschwand in der Versenkung. Einige Ereignisse der letzten Jahre – nicht zuletzt das Ringen um eine Entschädigung für die Zwangsarbeiter – verleihen ihm jedoch wieder eine gewisse Aktualität. In Chile, in Argentinien, in Südafrika und in den Ländern des ehemaligen Ostblocks ist eine für unbesiegbar gehaltene jahrzehntelange Diktatur gefallen. Auf die revolutionäre Euphorie folgte Ernüchterung, und die Trümmer, die die totalitären Regime hinterlassen haben, lasten wie ein Alp auf der Nachwelt. Die Hoffnungen der Widerstandskämpfer und Opfer auf einen radikalen Wandel und Neubeginn werden oft enttäuscht. Meist haben sich die Repräsentanten des „Ancien Régime“ schnell reorganisiert und bewegen sich nur allzu gewandt auf dem Parkett der neuen Ordnung, während die Opfer ins gesellschaftliche Abseits geraten.

Straffreiheit für die Täter eines Unrechtsregimes kann bei den Opfern eine Reaktualisierung des Traumas auslösen. Von KZ-Überlebenden ist bekannt, daß die Nachricht über die Freisprechung eines KZ-Schergen durch die deutsche Justiz heftige seelische Reaktionen auslösen konnte. Die Nürnberger Prozesse unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, der Eichmann-Prozeß in Jerusalem und der Auschwitz Prozeß in Frankfurt in den sechziger Jahren hatten eine enorme Bedeutung für die Überlebenden des Holocaust. Sie schufen ein Stück Gerechtigkeit und Genugtuung. Untersuchungen aus Argentinien zeigen, daß die Straffreiheit und der fortdauernde politische Einfluß der Militärs, die für während der Diktatur begangene Verbrechen verantwortlich sind, die Opfer in die Sprechstunden von Psychotherapeuten treiben (Edelman et al., 1995). Ebenso wichtig wie das Zur-Rechenschaft-Ziehen der Täter ist eine wie auch immer geartete Form gesellschaftlicher Anerkennung dessen, was die Opfer durchlitten haben. Die Wahrheitskommission in Südafrika versuchte beides zu verbinden. Jedes Land, jede Kultur baut auf historischen Vorbildern auf und entwickelt daraus ihr eigenes Modell. Die bundesrepublikanische Wiedergutmachungsgesetzgebung enthält sowohl Modellhaftes als auch Abschreckendes. Von diesem Widerspruch handelt das vorliegende Buch.

Das Buch entstand zeitgleich zu einer politischen Debatte, die Mitte der achtziger Jahre in der Öffentlichkeit um die Gerechtigkeit der Wiedergutmachung geführt wurde, insbesondere am Beispiel der „vergessenen Opfer“, d. h. der Gruppen von Verfolgten, die man bewußt ausgeschlossen hatte oder die durch die Maschen des Entschädigungsgesetzes gefallen waren: Zwangsarbeiter, Sinti und Roma, Zwangssterilisierte, Kommunisten, Homosexuelle, Kriegsdienstverweigerer und Deserteure. Während ich an dem Buch schrieb, geriet ich mitten in den tagespolitischen Streit um die Entschädigung der „vergessenen Opfer“. Erstmals nach dem Kriege meldeten sich Vertreter dieser Minderheiten öffentlich zu Wort, so z. B. die Sinti und Roma bei einer Anhörung der Grünen im Bundestag. Zwangssterilisierte, die aus Scham über eine erneute Diskriminierung jahrzehntelang geschwiegen hatten, stellten Forderungen und bildeten eine eigene Interessenvertretung. Ich wurde auf Betreiben der damaligen Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin, Hilde Schramm, Mitglied einer Expertenkommission des Abgeordnetenhauses, die Vorschläge zur Errichtung eines Härtefonds für die vergessenen Opfer erarbeiten sollte. Dabei begegnete ich fast allen damals noch lebenden Funktionären der Verfolgtenverbände und Akteuren aus Justiz, Politik und Medizin, die in die heftigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Wiedergutmachung in der unmittelbaren Nachkriegsära persönlich involviert gewesen waren. Sie verfügten über ausgedehnte Privatarchivbestände. Die Entschädigungsämter dagegen erlaubten mir aus Furcht vor einer kritischen Analyse ihrer Spruchpraxis keine Einsicht in ihre Akten. Über persönliche Kontakte geriet ich jedoch an den aufgeschlossenen Leiter eines Landesentschädigungsamtes, der die vergangene Spruchpraxis seines Amtes kritisch beurteilte und mich in seinen Amtsräumen Akten studieren ließ.

Das Ausgangsmaterial für meine Recherchen bildete die Gutachtensammlung eines jüdisch-deutschen Emigrantenarztes aus Paris, S. Pierre Kaplan. Ich hatte ihn 1983 bei meinen Nachforschungen über das Schicksal jüdischer Ärzte eines Berliner Krankenhauses im Dritten Reich kennengelernt. Er hatte im Untergrund als Mitglied der Resistance in Frankreich überlebt und nach dem Krieg als Vertrauensarzt der Deutschen Botschaft in Paris viele KZ-Überlebende im Rahmen der Wiedergutmachung untersucht. Aus den Stellungnahmen deutscher Gutachter und Beamter der Entschädigungsämter, die er in seinen Gutachten zitierte, erhielt ich einen ersten Eindruck von der bürokratischen Kleinkrämerei und verdeckten Feindseligkeit, die den Opfern entgegenschlug. Ich wollte den Hintergründen dieser Haltung auf deutscher Seite auf den Grund gehen und vertiefte mich immer weiter in die Geschichte der Wiedergutmachung, die Entstehung der Gesetze und die damit einhergehenden innenpolitischen Auseinandersetzungen. Aus einer ursprünglich geplanten Studie über die medizinische Begutachtung von KZ-Überlebenden durch deutsche Ärzte wurde eine Studie über die Wiedergutmachung insgesamt. Ich versuchte, mich in die gesellschaftliche Atmosphäre der 50er und 60er Jahre hineinzuversetzen, und las unzählige Presseberichte aus dieser Zeit. Eine wertvolle Hilfe gaben mir dabei die Deutschlandberichte im AUFBAU, der bedeutendsten Zeitung aus Nazideutschland in die USA geflohener deutscher Emigranten.

Die Bundesregierung vollendete damals gerade die Herausgabe einer mehrbändigen Chronik der Wiedergutmachung, in der das Jahrhundertwerk aus regierungsamtlicher Sicht für die nachfolgenden Generationen festgeschrieben werden sollte. Um den letzten Band, in dem einige der Akteure nochmal rückblickend Bilanz ziehen sollten, gab es ein Tauziehen. Das Bundesfinanzministerium wollte kritische Stimmen wie die von Otto Küster, Martin Hirsch und Kurt Steinitz nicht zu Wort kommen lassen. Otto Küster kann als einer der wichtigsten Väter und Vordenker der Wiedergutmachungsgesetze betrachtet werden. Er war ein kämpferischer, leidenschaftlicher Moralist und ein Intimfeind des ersten Bundesfinanzministers und Wiedergutmachungsgegners Fritz Schäffer. Auf Grund von Schäffers Intrigen war Küster in den fünziger Jahren politisch kaltgestellt worden. Er war einer der wenigen, die in einer Zeit, als über die Verbrechen des Nationalsozialismus der Mantel des Schweigens gebreitet wurde, den Mut hatten, dem Kartell aus Altnazis und Opportunisten, die damals die politische Szene in Deutschland beherrschten, die Stirn zu bieten. Ich besuchte Otto Küster 1985 in seiner Anwaltskanzlei in Stuttgart. Er war schon weit über 80, aber er war ungebrochen. Als Anwalt beim Bundesgerichtshof vertrat er noch Verfolgte in Entschädigungsprozessen.

Beim Vergleich des fünfbändigen Werkes der Bundesregierung mit den Veröffentlichungen Küsters und anderer Akteure stieß ich im regierungsamtlichen Werk auf viele Ungereimtheiten, Entstellungen und Oberflächlichkeiten. Die gröbsten Geschichtslügen finden sich in den Kapiteln von Ernst Feaux de la Croix, der grauen Eminenz des Bundesfinanzministeriums. Insbesondere die Schlüsselrolle Küsters und die skandalösen Umstände seiner Ausschaltung werden von Feaux de la Croix unterschlagen. Er war noch unter Schäffer zum höchsten Wiedergutmachungsbeamten des Finanzministeriums aufgestiegen. Das war allerdings schon seine zweite Karriere. Die erste hatte er als Experte für Volkstumsfragen im NS-Jusitzministerium gemacht. Daß die Bundesregierung einen ehemaligen Nazibeamten zum Chronisten der Wiedergutmachung bestellte und Leute wie Küster zensierte, meinte ich, konnte man nicht stehen lassen.

Küster hatte sich wegen der Zurückweisung seines Manuskriptes für den Band VII der Regierungschronik sogar mit seinem ehemaligen Weggefährten Rechtsanwalt Walter Schwarz, dem Mitherausgeber der Chronik, überworfen. Walter Schwarz war ebenso wie Küster einer der Väter der Wiedergutmachung. Er betrachtete die Wiedergutmachung jedoch im Unterschied zu Küster als einzigartige historische Leistung, als gelungenen Kompromiß zwischen den Ansprüchen der Opfer und den möglichen Zugeständnissen der Täter und deren Rechtsnachfolger. Dazwischen stand Kurt May, ein Mann, der als Leiter der URO, der größten Rechtshilfeorganisation der Verfolgten, das Beste für seine Klienten erstritten hatte und in der Wiedergutmachung durchaus eine historische Leistung sah, aber auch die zuweilen kleinliche Praxis der Behörden herausstellte.

Kurz nach Erscheinen des Buches verabschiedete das Abgeordnetenhaus von Berlin eine Härtefondsregelung für...