Suchen und Finden

Titel

Autor

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Das geschenkte Leben - Eine Geschichte über Krebs

Das geschenkte Leben - Eine Geschichte über Krebs

Holger Töllner

 

Verlag epubli, 2021

ISBN 9783753153933 , 284 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz frei

Geräte

7,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Das geschenkte Leben - Eine Geschichte über Krebs


 

 

Kapitel 1: Die Diagnose


„Es tut mir so, so leid für Sie, Herr Töllner.“

Die Ärztin drückt meine Hand und will sie anscheinend gar nicht mehr loslassen. Sie hat den Kopf schief gelegt und blickt mich so traurig und mitfühlend an, als wäre mein baldiger Tod nur noch eine Frage weniger Tage. Ich kann es zunächst nicht glauben. Es fühlt sich nämlich total unwirklich an. Es kann, es darf nicht sein! Irrt sie sich denn nicht?

„Aber müssen Sie nicht erst die Biopsie…, ich meine, ohne dass sie das Gewebe untersucht haben…, wie können Sie denn da so sicher sein?“, stammele ich.

Sie unterbricht mich. Ihr Mitleid ist plötzlich wie weggeblasen, da sie meinen Einwand ihrer Reaktion nach offenbar als unberechtigte Kritik versteht. Sie fixiert mich mit stechendem Blick.

„Glauben Sie mir, ich habe schon viele Tumore gesehen. Das was sich da in Ihrem Anus befindet, ist mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit Krebs. Und ein gefährlicher dazu, der Tumor ist nämlich bereits so groß, dass ein Darmverschluss droht. Sie müssen schnellstmöglich operiert werden. Am besten gehen Sie direkt rüber in die Uniklinik und lassen sich einen Termin bei Professor X geben. Der ist ein ziemlich bekannter Spezialist für Ihre Thematik. Ich wünsche Ihnen alles Gute, Herr Töllner.“

Wieder legt sie den Kopf schief, nickt bekräftigend. Das Stechende in ihren Augen ist jetzt verschwunden. Stattdessen zeigt sie nun wieder den Hundeblick, mit dem sie wohl Empathie heuchelt, wie eingangs.

„Danke,“ echoe ich mechanisch.

„Wiedersehen, Herr Töllner“, und weg ist sie.

Ich bleibe allein zurück und fühle: nichts.

Eine abstrakte Gefahr löst eben keinen Fluchtreflex aus. Wenn das Enddarmzentrum oder mein Enddarm selbst in Flammen stünde, ja dann wäre es wohl anders. Dann würde mein primitives ich vor Adrenalin bersten, und ich würde unter Hochspannung versuchen, mich in Sicherheit zu bringen. Dagegen löst ein Geschwür, das nicht weh tut, das man nicht einmal spürt und von dessen Existenz man bis gerade eben überhaupt keine Ahnung hatte, im ersten Augenblick offenbar rein gar nichts aus. Schon seltsam.

Ich verlasse das Enddarmzentrum und mache mich auf den Weg zum Auto. Nach und nach sickert das Gesagte wie flüssiger Honig in die Windungen meines Gehirns. Krebs. Ein Rektumkarzinom, so groß, dass die Ärztin mit dem Endoskop nicht daran vorbeigekommen war, um den dahinter liegenden Teil meines Darms zu begutachten. Die Geschwulst drückt den Darm schon fast vollkommen zu, hat sie gesagt. Es droht Darmverschluss, hat sie gesagt.

Deswegen also musste ich immer öfter aufs Klo, zuletzt um die zehn, fünfzehn Mal am Tag. Dabei hat alles so harmlos angefangen. Mit ein bisschen Blut im Stuhl. Mal mehr, mal weniger. Mal hörte es für mehrere Tage komplett auf. Dann war es wieder da. Ich war verflucht nochmal vor über zwei Jahren deswegen sogar beim Arzt gewesen. Aber das war unmittelbar nach einer Darmspiegelung, bei der außer einem winzig kleinen Polypen nichts entdeckt wurde. Nichts!

Der Arzt sagte damals, „Na, das kann ja bei Ihnen nichts Schlimmes sein. Ihren Darm haben wir doch gerade erst untersucht.“

Er hatte jovial gelächelt, ob so großer, offensichtlich unbegründeter Sorge eines medizinischen Laien und mich nach Hause geschickt. Ich solle die Sache beobachten und wiederkommen, sofern es wider Erwarten in sechs Wochen immer noch bluten würde.

„Ist sicher bloß eine Fissur oder eine kleine Hämorrhoide, kein Problem.“

Mit ‚Fissur‘ meinte er einen winzigen Riss in der zarten Haut an meinem Hinterausgang.

So machte ich mir keine Sorgen. Schließlich hatte ich alles an Vorsorge hinter mir, wozu man mir geraten hatte. Ich war damals außerdem total im Stress. Es war gar keine Zeit für überflüssige Arztbesuche. So kam es, dass ich das Ganze verschleppte. Dabei hatte der Doc ja nicht gesagt, ‚Geh heim und komm nie wieder.‘ Hängengeblieben war bei mir aber nun einmal, dass, was immer ich da hinten hatte, vollkommen harmlos wäre. Die fällige Wiedervorstellung nach sechs Wochen im Fall der Fortdauer der Blutungen verdrängte ich. Keine Zeit. Und auch keine Lust.

So überstand ich den Verkauf der Firma, in der ich arbeitete, den Verlust meines Arbeitsplatzes samt meiner Kollegen nach zwölf Jahren, suchte und fand einen neuen Job, brachte die Probezeit hinter mich, wechselte die Firma noch einmal, zeigte in ein, zwei Projekten, was ich konnte, machte Urlaub und so weiter für die nächsten zweieinhalb Jahre. Wahrscheinlich durch den erzwungenen Jobwechsel und die ganzen Querelen im Vorfeld hatte ich mir zwischendurch ein Speiseröhrengeschwür zugezogen, das aber schnell wieder abgeheilt war.

Ich würde nicht sagen, dass ich stressempfindlich bin. Eher im Gegenteil. Ich bin immer mit großer Freude zur Arbeit gegangen, ganz besonders, wenn viel zu tun war. Aber gefeuert zu werden, ohne je schlechte Leistungen abgeliefert zu haben und dann noch die Menschen zu verlieren, mit denen man mehr Zeit als mit der Familie verbrachte, darauf war ich einfach nicht vorbereitet.

Unser Arbeitgeber war die äußerst profitable Tochter eines Weltkonzerns, eine echte Cashcow, wie man so sagt. Nicht im Traum hätte ich geglaubt, einmal einer strategischen Entscheidung der Konzernzentrale zum Opfer zu fallen. Aber genau so war es gekommen.

Meine Frau behauptet, dass ‚die‘ mir damals mit ihrer irrationalen Entscheidung den Krebs verpasst haben. Tja, wer weiß. Tatsache ist, dass mir das Ganze wirklich sehr nah ging und ich ziemlich lange brauchte, bis das Arbeitsleben sich wieder halbwegs normal anfühlte.

Eines Tages fuhr ich für meinen neuen Arbeitgeber mit dem Auto nach München, was von unserem Wohnort aus eine Strecke von etwa viereinhalb Stunden ist. Unterwegs hielt ich an beinahe jeder Raststätte an, um auf die Toilette zu gehen. Ich verbrauchte auch seit einigen Wochen Unmengen an Klopapier und hatte gelesen, das sei ganz typisch für Hämorrhoiden. Also beschloss ich, die Dinger jetzt endlich wegmachen zu lassen. Ich meldete mich im Enddarmzentrum an und bekam Mitte August 2016 einen Termin.

Doch statt nach zwanzig Minuten mit einem in Ordnung gebrachten Hinterausgang den Laden zu verlassen, trage ich jetzt einen Zettel für die weiterbehandelnden Ärzte mit der Verdachtsdiagnose ‚Rektumkarzinom‘ in meiner Jackentasche.

Was nun? Ich puste die Luft durch die Backen aus. Es ist ein schöner, sonniger Tag, nicht zu warm, ein angenehmes Lüftchen weht. Die Menschen sehen alle so unbeschwert aus. Es ist Sommer. Es wird doch nicht etwa mein Letzter werden? Ich merke, wie mir die Hitze in den Kopf schießt und kalter Schweiß ausbricht.

Jetzt ruhig Blut. Bloß nicht durchdrehen. Ich beschließe, mich zusammenzureißen und erstmal nicht zu Hause anzurufen. Noch ist schließlich nichts raus, sage ich mir. Erstmal in die Uni, eine zweite Meinung einholen. Dann muss man ja auch noch die Gewebeuntersuchung abwarten. Vielleicht stellt sich heraus, dass das Ding in meinem Arsch gar nichts Bösartiges ist. Dann wäre aber eine Entschuldigung von dieser bescheuerten Ärztin fällig. Mich so in Panik zu versetzen! Lernen die denn an der Uni gar nichts über die nervenschonende Führung von Patientengesprächen? Außerdem kann es einfach nicht sein. Ich bin schließlich noch nicht mal fünfzig. Da stirbt man doch nicht, Menschenskind!

Aber was, wenn doch? Ich denke an meine Großmutter. Ein Rektumkarzinom hat sie vor rund vierzig Jahren umgebracht. Da war sie knapp über fünfzig.

Mein Mund wird trocken.

Wie in Trance steuere ich das Auto zum Universitätsklinikum Mannheim. Zuerst überlege ich, doch direkt nach Hause zu fahren und den Termin telefonisch zu machen. Aber dann entscheide ich mich dagegen, weil Arbeiten heute sowieso nicht mehr funktionieren würde. Außerdem, was soll ich meiner Familie denn erzählen, das sie nicht sofort in helle Panik versetzt? Und wenn es dann doch halb so schlimm ist?

No, Sir, jetzt erstmal schön den Ball flach halten, nehme ich mir vor.

Also begebe ich mich zur chirurgischen Ambulanz, um nachzufragen, wie es weitergehen soll. Den Weg kenne ich im Schlaf. Ich war schon mehrmals mit meinem Sohn hier. Er ist in der Uniklinik wegen diverser Platzwunden vom Eishockey und nach Skateboardunfällen immer bestens versorgt worden.

Die nette Dame hinter dem Tresen nimmt meinen Überweisungsschein routiniert entgegen, liest ihn durch und fragt, was ich konkret will.

Ich sage, „Keine Ahnung…, einen Termin oder was man in so einem Fall eben macht. Sie müssen entschuldigen, aber ich bin neu im Krebsgeschäft. Ich habe die Diagnose erst vor einer halben Stunde bekommen. Ich weiß es also leider nicht genauer.“

Sie muss etwas grinsen und sagt, „Warten Sie hier, ich kläre das. Vielleicht kann man gleich ein paar Untersuchungen machen. Klarheit ist doch immer das Beste.“

So ist es recht. Noch eine mitleidige Tante wie die Ärztin mit ihrer leeren Empathie hätte ich nicht ertragen. Profis tun irgendwas, anstatt dich zu bedauern.

Wenn etwas geschieht oder auch nur zu geschehen scheint, fühlt sich eine Situation weniger endgültig an. Das tröstet mehr als jedes dahingehauchte ‚Es tut mir, so, so leid.‘

Der gute erste Eindruck bestätigt sich. Nach kurzer Wartezeit erscheint ein Arzt, der sich als Doktor M vorstellt. Er ist um die Dreißig, hat schütteres dunkles Haar, Nickelbrille. Er sieht aus, wie der Held in der Fernsehserie Emergency Room, Doktor Marc Greene, dem er wie ein Zwilling gleicht. Ich werte das als gutes Omen. Doktor Greene ist in der Serie nämlich ein verdammt guter Chirurg. Das hoffe ich von seinem Mannheimer Doppelgänger auch.

Und siehe da, dieser Doktor...