Suchen und Finden

Titel

Autor

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Hamburg. Sex City

Hamburg. Sex City

Joachim Bessing

 

Verlag Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2021

ISBN 9783957578877 , 186 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

10,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Hamburg. Sex City


 

Weiße Neger


Wir waren mit dem Auto gekommen. Zu viert im Golf. Das silberfarbene Cabrio mit schwarzem Verdeck war der Zweitwagen der Familie, den fuhr die Mutter. Nachts fuhren wir alle die Autos unserer Mütter.

Ursprünglich hatte der Plan so gelautet, dass man spontan nach Stralsund hochreitet und dort das Silvesterfest feiert. Warum Stralsund? Ganz einfach, weil es eine Stadt war mit einem sehr schönen Namen. Verheißungsvoll. Wie in einem Lautgedicht. Aber ob das überhaupt eine richtige Stadt war, wie Stuttgart, oder eher ein Städtchen? Die märchenhafte Provinz war bei uns schon seit einiger Zeit wieder in Mode gekommen, nicht ständig, aber als Abwechslung, weil man dort sogenannte Spießer nebst ihren Moden beobachten konnte, für die wiederum junge Menschen aus der Stadt ein unwiderstehliches Anglotz-Potenzial mit sich brachten. Und das zeichnete den Spießer ja zunächst aus: Er glotzt viel. Ob er das auch gerne tat, war vollkommen egal. Völlig klar hingegen, dass es sich bei Stralsund vom Flair her um etwas handeln könnte wie Baden-Baden, bloß halt mit Küste. Ein veritables Seebad! Vielleicht wie Blackpool, wo ja trotzdem sehr gute Bands herkamen. Zum Beispiel The Cure. Robert Smith hatte es zu diesem Zeitpunkt zwar noch keiner der mir bekannten Informationsquellen gegenüber zu Protokoll gegeben, aber ich sah mich durchaus in der Lage, von meinen Erfahrungen einer Kindheit in der Provinz zu extrapolieren: Die Reizarmut, beziehungsweise eine Überfülle von Reizen einer ganz anderen Art als den erwünschten, erzeugte in der kindlichen Petrischale eine potente Nährflüssigkeit für Fantasie.

Die Kassetten mit Television Personalities und Velvet Underground, die zur Einstimmung gehört wurden, drangen kaum durch das Knattern des Verdecks. Als wir die Abzweigung auf das ehemalige Gebiet der ehemaligen DDR genommen hatten, kam noch einmal Euphorie auf, wobei es schon auch komisch war, dass außer uns kaum andere Fahrzeuge unterwegs waren an diesem Abend. Allerdings wurde der Straßenbelag zunehmend schlechter, was sich wiederum positiv auswirken sollte auf die Vernehmbarkeit der Kassettenmusik. Zudem verfeinert sich der Hörsinn in der Dunkelheit. In Schleichfahrt erreichten wir die Promenade am Meer. Schwarze Wellen, schwarze Fenster. Stralsund war menschenleer. Soweit man erkennen konnte, gab es zwar entlang der Strandpromenade eine Architektur, die an die Szenerie von Blackpool denken ließ – aber viel mehr noch an die von East Kilbride in Schottland, dem Geburtsort der Gebrüder Reid. The Jesus and Mary Chain waren eine ausgezeichnete Band, aber selbst wenn es in Stralsund etwas von ebenbürtigem Potenzial gegeben haben sollte, ließ es sich am letzten Abend des Jahres 1992 nicht sehen. Die Reid-Brüder hatten bis zum Durchbruch in einer Käsefabrik arbeiten müssen. Vom schottischen Käse wusste man nichts.

Da wir unter dem für einen Silvesterabend charakteristischen Zeitdruck standen, fiel die Entscheidung, nach Hamburg weiterzufahren, eher spontan. Zur Wahl gestanden hatte außerdem noch das angeblich Stralsund benachbarte Kühlungsborn. Doch Axels Argument »Auch ein hübscher Name, als Seebad beinahe unbekannt« konnte, an der tristen Realität der Strandpromenade von Stralsund vorgetragen, nicht verfangen. Wie im Grunde wir alle hatte sich Axel in den vergangenen Jahren mit Kunst beschäftigt. Als Gründungsmitglied unserer Künstlergruppe Schleifschnecke hatte er zusammen mit Luke, den ich Lukullus nannte, und einem ominösen Dritten die Sparte Lautgedicht verkörpert. Ihre Formation nannte sich Katapult I Lem. Die mit reichlich russischen Buchstaben garnierte Gestaltung der Flyer taucht auf vor dem inneren Auge. Die Aktivitäten der Schleifschnecke waren durch Wegzug in andere Städte zum Erliegen gekommen. Da Lukullus zu dem Silvesterfest in Hamburg eingeladen hatte, kam es zu einem unverhofften Wiedersehen.

Man konnte jemanden damals, in der Ära zwischen Anrufbeantworter und Mobiltelefon, noch wirklich überraschen. Man wurde freilich auch selbst noch wirklich überrascht und musste das nicht spielen. Der Gesichtsausdruck, den ein wirklich überraschter Mensch zeigt, ist mir bis heute kostbar und köstlich zugleich. Vermutlich weil dieser Anblick so bald so selten werden sollte, ist er mir im Gedächtnis lebendig geblieben. Dazu der Lichtschein hinter einer Tür, die erst einen Spalt weit offensteht, sodass darin das wie spaltbreite Gesicht des überraschten Menschen steht wie aufgegangen – vor Überraschtheit leuchtend, von innen her – und dahinter die weiße Wand einer Altbauwohnung, wo nacktes Licht, ein einziges Gleißen, von der hohen Decke fällt bis auf das honigfarbene Parkett. In Jeans und in marineblauem Troyer. So ungefähr hatte ich mir ein Leben als Erwachsener vorgestellt, und hier hatte ich es jetzt fertig vor mir, als Bild.

Der große Raum, in meiner Erinnerung finde ich nur wenige andere Gäste, war von seinen Möbeln befreit worden, man durfte aufatmen. Man befand sich dort in der Sphäre von Jeremias, der sich jetzt Xerxes nannte und seit neuestem wohl auch nicht mehr bloß Musiktheoretiker war, sondern DJ. Einzig die Wahl seines Brillengestells à la Malcolm X verwies noch auf seinen theoretischen Kern. Dem Trend zum nahtlosen Mix folgte er nicht, er ließ die einzelnen Stücke auslaufen, als wollte er sich selbst nicht ins Wort fallen. Für diese Vortragsweise hätte ihm ein einzelner Plattenspieler genügen dürfen, aber er bediente sich des silbrigen Standards unserer Ära zwischen Top Hits und Streaming: zwei Technics, ein Mischpult, vulgäre Boxen. Black Noise war die Musik der Stunde. Eine elektronische Abart des Reggae mit Sprechgesang im jamaikanischen Dialekt. Bei dem es sich freilich um eine eigenständige Sprache handeln würde, wie Serafin mir beipulte, wie es im Hamburger Dialekt so malerisch hieß. Serafin lebte ja schon einige Zeit hier in der Stadt und war von Xerxes anhand diverser Anlässe eindringlich belehrt worden über die Eigenheiten des Raggamuffin genannten karibischen Pop. Da blieb einem im Grunde bloß freundlich zu nicken, im Zweifel im Takt. Drüben bei den Fenstern sah ich die einzige Tänzerin im Raum, Elektra, die ihren Körper schlängelnd bewegte. Sie hatte sich ihr wundervolles Haar kurz schneiden lassen und mit Wasserstoffperoxid gebleicht.

Ich hatte mit ihr noch nie zuvor ein Wort gewechselt, Elektra immer nur am Rande nächtlicher Szenen in Gesellschaft junger Männer erlebt, die stets von ihm, ihrem Xerxes, dominiert worden waren. Dabei war der an sich keine besonders auffällige Erscheinung, ging den meisten bloß bis zur Schulter. Dafür war er ein druckvoller Redner. Vor allem war er, wie man es mittlerweile nennt: meinungsfreudig. Ich hatte jedenfalls schon jede Menge Diskussionen bezeugen dürfen, ob auf dem Vorplatz lagernd vor dem Roxy, in sommerlichen Nächten wochentags auch gerne auf dem Trottoir in der Lautenschlagerstraße, rings um den Palast der Republik, wo selbst die Diskussionsteilnehmer mit den einleuchtenderen Argumenten von Xerxes einfach niedergeredet worden waren oder halt ausgebuht. Kam er argumentativ nicht weiter, zückte er das ideologische Schwert gegen die Goldwaage. Ein schwer unterhaltsamer Zeitgenosse also. Wo der sich pflockhaft in den Boden rammte, war sofort Akademie.

Das kam natürlich nicht gut an in der Hamburger Gesellschaft, wie Serafin mir anderntags beim Spaziergang durch die Knallkörperwüste sagte. Gemeint war hierbei die Gesellschaft am Hamburger Berg, einer Straße, die keinerlei Steigung aufwies – o Wunder dieser Straßennamen! Insbesondere vor und in der hier ansässigen Nachtbar Sorgenbrecher ließ Xerxes sich, wie er es nannte »lustvoll in Diskurse wickeln«. Das bedeutete: Er mischte sich ungefragt bei allen ein, um denen wiederum, die ihn ja gar nicht erst um seine Meinung gebeten hatten, lautstark diese zu verkünden. Das kannten wir von ihm zwar aus der Heimat, doch müsste man hier, selbst in der Nachtbar, die um einiges empfindlicher eingestellte Gesinnung der Hamburger berücksichtigen, sagte Serafin. Schon aus Respekt. Schließlich war man selbst eingewandert und beabsichtigte, sich einzugemeinden. Ein Lokalverbot für alle Schwaben, wie von einigen Stammgästen des Sorgenbrecher gefordert, darunter illustre Persönlichkeiten wie der Sänger Schorsch Kamerun, der Sänger Rocko Schamoni und ein Sänger, dessen Künstlername Serafin gerade nicht einfallen wollte, der aber laut Spex stark im Kommen war, konnte nicht verhängt werden, da Sorgenbrecher und die vis-à-vis gelegene Diskothek Tempelhof vom selben Duo zweier Gastronomen betrieben wurde, von denen der eine, ein Wiener, vor allem am Gast im Menschen interessiert war, und sein Kompagnon, ein Schotte, sämtliche Gäste als Witzfiguren betrachtete. Gleichgültig, woher sie stammten. Sogar Schotten.

Da Xerxes im Tempelhof Platten auflegte und wenige Parallelstraßen weiter in Richtung Millerntor wohnte, gehörte der den sogenannten Abend beschließende Besuch dort im Diskursstüble Zum Sorgenbrecher zur Trias seines Bermudadreiecks. Und nicht nur seines: So war seine Beziehung zu Elektra bald nach dem Umzug hierher...