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Falkenreiter - Das Kind des Magiers

Falkenreiter - Das Kind des Magiers

Angie Sage

 

Verlag Schneiderbuch, 2022

ISBN 9783505144356 , 320 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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Falkenreiter - Das Kind des Magiers


 

2. Kapitel

ALTES UND NEUES ORAKEL

»Was sollte das denn?«, ertönte eine wohlbekannte Stimme. Palla Lau rappelte sich auf.

»Palla! Du bist es!«, rief Alex und lachte vor Erleichterung.

»Ich weiß nicht, was daran so lustig ist«, knurrte Palla, während sie sich den Hosenboden abklopfte.

»Entschuldige bitte«, erwiderte Alex. »Aber wir dachten, du wärst ein Schakal.«

»Diese abscheulichen Geschöpfe. Wie kommt ihr denn darauf?«, fragte Palla.

»Wir haben sie gesehen«, sagte Benn leise. »Mit Deela.«

Pallas Ärger verflog schlagartig und sie schlug die Hände vors Gesicht.

»Deela hat gesagt, dass sie kommen würden.« Sie brachte die Worte nur mühsam und stockend hervor. »Wir haben nach ihnen Ausschau gehalten. Als schließlich Ebbe war, haben wir sie auf dem Dammweg gesehen, und Deela hat gesagt, dass ich mich verstecken soll. Ich wollte nicht. Aber sie ist richtig böse geworden. Sie hat gesagt, ich muss jetzt das Orakel sein.« Palla schluckte. Sie blinzelte Alex und Benn mit Tränen in den Augen an. »Ich wollte schon immer das Orakel sein. Aber nicht so

In der Höhle wurde es still. Alex stand auf und trat wieder an den Höhleneingang. Dort setzte sie sich, fühlte den kalten Wind im Gesicht und sah die Wolken schnell über den nachtblauen Himmel ziehen, sah den Mond hinter ihnen auf- und abtauchen. Sie blickte zu den Klippen und den hohen Mauern von Rekadom hinüber und dachte an ihren Vater, der dahinter gefangen gehalten wurde – so wie nun auch Deela. Sie wusste, wenn der Sturm nicht vor der nächsten Ebbe abflaute, würde sie selbst auch bald dort sein. Alex starrte in die Tiefe, bis das Meer den Dammweg wieder überspült hatte. Wenigstens besaß Rekadom keinen Hafen, und es bestand keine Gefahr, dass die Schakale mit Booten übers Meer kamen.

»Der Dammweg ist überflutet!«, rief sie Benn und Palla zu. »Wir sind in Sicherheit.« Leise fügte sie hinzu: »Vorerst.«

Im Morgengrauen kletterten sie über den steilen Pfad in Deelas Häuschen zurück, das oben auf dem Orakelfels stand. Palla kniete sich im Wohnzimmer vor das Feuer und fütterte es Stück für Stück mit Meereskohle, als wäre es ein krankes Tier. Draußen tobten Wind und Regen weiter, und trotz der Anstrengungen des Feuers wollte die Kälte nicht aus ihren Knochen weichen. Erst nach einer Tasse heißer Milch mit Zimt und Nelken, die Palla zubereitete, sanken Benn und sie, in Decken gewickelt, neben dem Feuer in einen unruhigen Schlaf.

Palla hingegen kam nicht zur Ruhe. Rastlos lief sie im Zimmer auf und ab und konnte nur eines denken: Was geschieht mit Deela?

Deela saß auf einem klammen Strohhaufen in so tiefer Finsternis, dass sie nichts anderes sehen konnte als ein paar helle Blitze, wenn sie die Augen ganz weit aufriss. Irgendwo hörte sie das fortwährende Plitsch, plitsch von Wassertropfen, und unter dem allgegenwärtigen Moder roch sie etwas Verwesendes, vielleicht eine tote Ratte. Sie befand sich in einer winzigen Zelle, die so schmal war, dass sie, wenn sie die Arme ausbreitete, die flachen Hände auf die eisigen Mauern legen konnte. Und wenn sie die Arme hob, stieß sie mit den Fingerknöcheln gegen die gewölbte Decke. Sie hatte es aufgegeben zu rufen und in die Dunkelheit hinein zu fragen, ob jemand da war. Sie wusste, sie war allein.

Irgendwann später – wie viele Stunden, konnte sie nicht sagen – hörte Deela das ferne Klirren eisenbesohlter Stiefel, wie sie die Kerkerwächter trugen. Sie richtete sich auf und lauschte angestrengt. Die Schritte kamen näher, und Angst flackerte in ihr auf. Sie kamen, um sie zu holen. Sie wusste es.

Deela atmete tief ein. Sie stand auf und stellte sich mit dem Gesicht zur Tür, während ihr Herz im Takt mit den polternden Stiefeln schlug. Vor ihrer Zelle hielten sie inne, und Deela straffte die Schultern. Was auch immer als Nächstes geschah, es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Sie konnte nur versuchen, tapfer zu sein und es würdevoll zu ertragen.

Ratschend fuhr der Schlüssel ins Schloss, dann erschien das blendende Licht einer Laterne. Deela ballte die Fäuste und sah die Tür aufschwingen.

»Hagos!«, japste sie.

Flankiert von zwei stämmigen Kerkerwächtern im Kettenhemd stand Hagos RavenStarr vor ihr, zart wie ein Schilfrohr zwischen zwei Felsen. Er wirkte ausgezehrt und verhärmt, doch seine dunklen Augen funkelten Deela warnend an. »Schweig still, Gefangene!«, sagte er mit seltsam hoher Stimme. »Wie kannst du es wagen, mich zu beleidigen?«

Deela war so geschockt, als hätte Hagos sie geschlagen. Er klang so feindselig.

»Das ist die neue Gefangene, Majestät«, sagte eine der Wachen.

Majestät? dachte Deela. Warum nennen sie ihn »Majestät«? Verwirrt blickte sie Hagos an. Der zwinkerte ihr zu. Deela spürte einen Hoffnungsfunken, und ihr Gehirn begann wieder zu arbeiten. Anscheinend hielten die Wachen Hagos für König Belamus, auch wenn Deela völlig schleierhaft war, wie er das angestellt hatte. Dennoch war es wohl klug, schnell einen wackligen Knicks zu machen.

Eine der Wachen zog ein paar Handschellen hervor. »Nicht nötig«, winkte Hagos ab. »Ich nehme die Gefangene.« Der Wächter sah enttäuscht aus. König Belamus hatte in den letzten zehn Jahren die meisten der noch verbliebenen Einwohner Rekadoms einsperren lassen, und wegen des berüchtigten Kerkerfiebers gab es nicht mehr allzu viele Gefangene, denen man Handschellen anlegen konnte. Um genau zu sein, war Deela im Augenblick die einzige Gefangene, und ihr Eintreffen war das Ereignis in einem sehr langweiligen Monat gewesen. Aber der König wusste natürlich am besten, was zu tun war.

Hagos trat in den winzigen Raum, und Deela spürte seine knochige Hand auf ihrem Arm. Folgsam ließ sie sich von ihm aus der Zelle führen, fort von dem trostlosesten Ort, an dem sie je gewesen war, während die Wachen ihnen dicht auf den Fersen blieben und im Licht der Laternen gespenstische Schatten vor ihnen hertanzten. Hagos führte Deela durch das Labyrinth aus Gängen unter der Stadt, bis sie den Fuß einer Treppe erreichten, die zu beiden Seiten von brennenden Fackeln erleuchtet war. Hier drehte er sich zu den Wachen um und kommandierte: »Abtreten!«

Die Wachen salutierten, schlugen die Hacken zusammen und marschierten davon.

»Sie dachten, du wärst der König«, flüsterte Deela ehrfürchtig. »Wie hast du das gemacht?«

»Leicht war es jedenfalls nicht«, erwiderte Hagos trocken. »Komm, lass uns von diesem grässlichen Ort verschwinden.«

»Wir fliehen?«

Hagos seufzte. »Na ja, nicht ganz. Ich habe einen Handel abgeschlossen.«

»Einen Handel?«

»Mit dem König. Und du bist ein Teil dieses Handels, allerdings weiß er das noch nicht. Also beeil dich. Niemand darf uns sehen.«

Zittrig vor Erleichterung stützte sich Deela auf Hagos, als er sie die Stufen hinauf Richtung Sonnenlicht führte. Sie atmete lange und tief die salzige Luft ein, die vom Meer herübergeweht wurde, und musste an den Orakelfels denken. »Deine Tochter, Alex«, sagte sie, »ist in Sicherheit. Palla hat sie versteckt. Deshalb hat die Schakalerie mich geholt.«

Hagos drehte sich zu seiner alten Freundin um. »Das hat der König mir schon mitgeteilt. Danke, Deela.« Er seufzte. »Belamus hat auch gesagt, dass er den Ungeheuern befohlen hat, Alex bei der nächsten Ebbe zu holen.«

Deela lächelte. »Keine Sorge. Da wird deine Alex schon längst mit ihrem Freund davongesegelt sein.«

Hagos verzog das Gesicht. »Bei dem Sturm?«

»Der flaut bald ab«, sagte Deela. »Vertrau mir. Ich lebe seit dreißig Jahren auf diesem Felsen, so langsam kenne ich das Wetter.«

Sie traten auf eine große, freie Fläche, die als der Sternenhof bekannt war. Hier, genau in der Mitte von Rekadom, erhoben sich drei Türme – der Goldene, der Silberne und der Eiserne Turm – in den stürmischen Himmel. Früher war der Sternenhof ein beliebter Treffpunkt gewesen, doch jetzt lag er verlassen da. Nach dem großen Auszug der Magier und ihrer Familien vor zehn Jahren hatte die verbliebene Bevölkerung von Rekadom den Verfolgungswahn ihres Königs weiter ertragen müssen, und der einst so lebhafte Ort war nur noch eine Geisterstadt.

Nervös spähte Hagos zur Spitze des Goldenen Turms hinauf, wo König Belamus, wie er wusste, nichts Besseres zu tun hatte, als herumzulungern und durch die goldgerahmten Fenster auf den leeren Platz zu blicken. Hagos’ Ausflug in den Kerker hatte länger gedauert als erwartet, es war schon kurz vor elf – und pünktlich um elf würde König Belamus, der sich an einen strengen Zeitplan hielt, sein vormittägliches Stück Schokoladentorte verspeisen und ein Kapitel des Buchs überarbeiten, das er schrieb: Mein Rekadom – Die vollständige und ungekürzte Geschichte der Stadt. In alter Zeit, als Hagos nicht nur der Magier des Königs, sondern auch sein bester Freund gewesen war, hatte Belamus regelmäßig seine Schokoladentorte mit ihm geteilt und ihm sein neuestes Kapitel vorgelesen. Die Torte vermisste Hagos, auf das Zuhören konnte er dagegen gut verzichten.

Hagos zog Deela über den leeren Hof, vorbei an einer missmutigen Ziege, die an einer einsamen Sonnenblume knabberte, durch den Schatten des düsteren Eisernen Turms, dessen winzige Fenster mit Gittern versperrt waren, und wieder ins Offene. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, den leeren Raum zwischen dem Eisernen und dem Silbernen Turm zu überwinden, aber endlich erreichten sie doch den Torbogen, der in den...