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Was ist chinesische Philosophie? - Kritische Perspektiven

Was ist chinesische Philosophie? - Kritische Perspektiven

Fabian Heubel

 

Verlag Felix Meiner Verlag, 2021

ISBN 9783787338610 , 404 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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21,99 EUR

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Was ist chinesische Philosophie? - Kritische Perspektiven


 

Einleitung


Die Frage »Was ist chinesische Philosophie?« führt in Europa nach wie vor häufig zu der Gegenfrage: Ist chinesische Philosophie denn überhaupt Philosophie? Dieser Zweifel erinnert an die Frage, die dem Komponisten John Cage in den 1950er Jahren einmal nach einem Konzert gestellt worden ist: Ist das denn überhaupt noch Musik? Cage gab darauf die legendäre Antwort: »you must not call it music, if this expression hurts you« (Riehn 1990: 97); »Sie brauchen es nicht für Musik zu halten, wenn dieser Ausdruck Sie choquiert.« (Metzger 1969: 142) Es ist an der Zeit, mit ähnlich gelassener Ironie auf die sich hartnäckig haltende Behauptung zu antworten, dass »chinesische Philosophie« doch gar keine »Philosophie« sei: »Du brauchst es nicht Philosophie zu nennen, wenn dich dieser Ausdruck schmerzt.«

Oder ist es besser, der Frage »Was ist chinesische Philosophie?« aus dem Weg zu gehen? Ist φιλοσοφία (philosophia) nicht griechisch? Warum nicht einfach von Denken sprechen? Aber denkt »China« denn überhaupt? (Cheng 2009) Ist das Chinesische eine »Sprache«, in der philosophisch gedacht werden kann? Diese Fragen mögen absurd klingen. Sie werden jedoch in Europa seit Jahrhunderten ernsthaft diskutiert. Die Antwort auf die Frage »Was ist chinesische Philosophie?« muss deshalb immer auch mit diesen alten Gespenstern kämpfen. Dieses Buch kreist um widerstreitende Perspektiven, aus denen es möglich ist, sich chinesischer Philosophie anzunähern. Kritische Perspektiven werden sichtbar, indem diese verschiedenen Denkwege sich wiederholt be-gegnen. In dieser Bewegung taucht etwas auf, was ich frei-gelassene Philosophie nennen möchte. Damit scheint es indes zunehmend unwichtig zu werden, ob die Sache, um die es geht, den Namen »Philosophie« erhält – oder »Denken« oder sonst einen anderen. Wenn dieses Buch es verdient, eine Übung in kritischem Denken genannt zu werden, dann ist es auch eine Übung darin, sich von vorgefertigten Meinungen darüber zu lösen, was als »chinesisch« und was als »Philosophie« gilt.

Dieses Buch geht davon aus, dass die Beantwortung der Frage »Was ist chinesische Philosophie?«, heute jedenfalls, notwendig politisch ist. Die »kritischen Perspektiven« im Untertitel führen deshalb auch immer wieder in Erörterungen, die in den Umkreis politischer Philosophie gehören. Von diesem ausgehend nähert sich der Denkweg dieses Buches sodann ästhetischen, ethischen und (nach-)metaphysischen Fragen. Der Grund für dieses Vorgehen ist die veränderte Stellung Chinas in der Welt. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts haben Generationen von chinesischen Gelehrten und Intellektuellen nach Wegen gesucht, um auf die Aggressivität des westlichen Imperialismus zu antworten. Das Studium europäischer Philosophie vom Altertum bis in die Gegenwart war Teil von langwierigen Bemühungen, diese Geschichte zu verstehen und aus ihr zu lernen. Etwa seit dem Jahr 2000 äußert sich das wachsende »Selbstvertrauen« (zìxìn 自信) in den gewundenen Weg chinesischer Modernisierung zunehmend als geophilosophische »Selbstbesinnung« (zìjué 自覺) auf die Notwendigkeit, »chinesische Philosophie« als Weltphilosophie zu verstehen: demnach ist chinesische Philosophie als »chinesische«, also als regionale, nationale oder bloß kulturspezifisch begrenzte, überhaupt keine »Philosophie«, weil sie unfähig ist, über Chinas Verhältnis zur »Welt« im Ganzen nachzudenken. Die Entwicklung einer weltphilosophischen Perspektive verlangt allerdings, das Potenzial jener transkulturellen Dynamik von Altem und Neuem, Östlichem und Westlichem ernst zu nehmen, die China seit dem 19. Jahrhundert tiefgreifend verändert hat. Diese durch den Westen erzwungene Veränderung wirkt nun zunehmend auf den Westen zurück und untergräbt die von westlichen Staaten dominierte Weltordnung.

Chinesische Philosophie als Weltphilosophie


Der Weg zu einer von chinesischen Quellen maßgeblich inspirierten Weltphilosophie ist noch weit. Die Sprache der klassischen chinesischen Philosophie in ihrer Entwicklung über die Jahrtausende hinweg ist im Westen nach wie vor weitgehend unbekannt und unübersetzt. Durch den ökonomischen und politischen Aufstieg Chinas zu einer modernen Weltmacht wächst der Druck auf Philosophie in Europa, dieser Entwicklung Aufmerksamkeit zu schenken. In der chinesischen Gegenwartsphilosophie gibt es zunehmend Stimmen, die von geistiger Größe träumen: »Heute gehört das, was zu China gehört, auch zur Welt. Das ist eine Tatsache. Das ökonomische Gewicht bestimmt das Gewicht von Politik, Kultur und Denken (Marx’ Theorie des ›ökonomischen Unterbaus‹ ist nach wie vor gültig). Sobald China ein wichtiger Teil der Welt wird, müssen wir die Bedeutung von Chinas Kultur und Denken für die Welt diskutieren. Wenn Chinas Wissenssystem nicht am Aufbau des Wissenssystems der Welt teilnehmen kann, so dass ein neues, universales Wissenssystem entsteht, und wenn China nicht zu einem großen Land der Wissensproduktion werden kann, dann bleibt es bloß ein kleines Land, unabhängig davon, wie groß sein Umfang auf dem Gebiet der Ökonomie und der materiellen Produktion ist.« (Zhào 2005: 2)

Dies ist ein Zitat aus dem Buch Das System des Himmelunten von Zhào Tīngyáng 趙汀陽. Sein Buch Die Aktualität des Himmelunten – ins Deutsche übersetzt unter dem Titel Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung – hat dazu beigetragen, die Diskussion über damit verbundene Fragen auch in den deutschsprachigen Raum zu tragen. (Zhào 2016) Aus einer Perspektive, die der Schweizer Sinologe Jean François Billeter formuliert hat, lässt sich die Rede vom »Himmelunten« (tiānxià 天下) ohne große Schwierigkeiten als eine Waffe im »Krieg der Ideen« identifizieren, den das »chinesische Regime« gegen »uns« führt. (Billeter 2020: 101) Deutsche Kommentare sehen in Zhàos Versuch, mit Hilfe der Idee eines »Systems des Himmelunten« über die »Weltordnung« nachzudenken, düster das Aufdämmern einer »von China dominierten Weltordnung« (Osterhammel 2020) und eine »politische Kosmologie«, die als »freundliche Ordnung« (Assheuer 2020) daherkommt, hinter der sich aber der Aufruf zu einem neuen »Kampf der Weltanschauungen« verbirgt: »Und wer wollte bestreiten, dass unsere Zeit an der Schwelle einer Konfrontation zweier Weltmächte, der USA und China, steht, eine Zeit, die mithin auch durch die Konfrontation zweier Philosophien geprägt wird: eines westlichen, die Menschenrechte in sein Zentrum stellenden Universalismus, sowie eines Universalismus der friedlichen Koexistenz unterschiedlicher Systeme […].« Es verdichten sich, so Brumlik weiter, »die Hinweise auf eine auch philosophische Konkurrenz zwischen China und dem ›Westen‹, sofern man heute […] überhaupt noch von ›dem Westen‹ sprechen kann«. Dabei wird eine »aus China kommende, erklärtermaßen neokonfuzianische Philosophie gegen die klassische liberale Philosophie, etwa von John Rawls, in Stellung gebracht«. (Brumlik 2020: 81)

Ein Grundprinzip der chinesischen »Kunst des Krieges« lautet: Wer weder den gegnerischen Anderen noch sich selbst kennt, läuft Gefahr, jeden Kampf zu verlieren. (Klöpsch 2009: 20) Auf die Situation des von Brumlik beschworenen »Kampfes der Weltanschauungen« übertragen, stellt sich für Philosophie in Europa die Frage, ob sie von China und chinesischer Philosophie denn überhaupt genug weiß, um auf einen solchen »Kampf« hinreichend vorbereitet zu sein. Unkenntnis und Desinteresse hinsichtlich chinesischer Philosophie sind so offensichtlich und stark, dass diese Frage ohne Zögern verneint werden kann. Wie in der interkulturellen Kommunikation zwischen China und Europa die Gewichte verteilt sind, zeigt das von Brumlik lobend angeführte Beispiel des monumentalen Werkes von Jürgen Habermas Auch eine Geschichte der Philosophie, in dem »Konfuzianismus und Taoismus« ein kurzes Kapitel gewidmet ist (Habermas 2019: 383–405) – das Gewicht, das darin chinesischer Philosophie zukommt, ist so gering wie schon in Hegels Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, der sie unter der Rubrik »orientalische Philosophie« auf wenigen Seiten abhandelt, denn »sie ist nur ein Vorläufiges, von dem wir nur sprechen, um davon Rechenschaft zu geben, warum wir uns nicht weitläufiger damit beschäftigen, und in welchem Verhältnis es zum Gedanken, zur wahrhaften Philosophie steht«. (Hegel 1986/18: 138) Es sieht leider so aus, als ob sich in Europa seitdem fast nichts geändert hat. Daran schließt sich die weitergehende Frage an, ob ein Europa sich selbst kennt, das den gegnerischen Anderen – in diesem Fall China...