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Der Große Riss - Wie die Gesellschaft auseinanderdriftet und was wir dagegen tun müssen. Ein Essay

Der Große Riss - Wie die Gesellschaft auseinanderdriftet und was wir dagegen tun müssen. Ein Essay

Jean-Pierre Wils

 

Verlag S.Hirzel Verlag, 2022

ISBN 9783777631059 , 100 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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23,90 EUR

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Der Große Riss - Wie die Gesellschaft auseinanderdriftet und was wir dagegen tun müssen. Ein Essay


 

Anstelle eines Vorworts


»Irgendetwas ist grundfalsch an der Art und Weise,
wie wir heutzutage leben.«

Tony Judt[5]

Die Ungeheure Unterbrechung


Vor zehn Jahren erschien ein eindrückliches Buch über eine heimtückische Krankheit, die vor allem alte Menschen trifft – Alzheimer. Der österreichische Autor Arno Geiger erzählte in »Der alte König in seinem Exil« von der Erkrankung seines Vaters. Es begann mit ersten Anzeichen der Vergesslichkeit und der Desorientierung, dann aber nahm die Krankheit ihren unerbittlichen Lauf und äußerte sich vor allem in der Empfindung des Vaters, kein Zuhause mehr zu besitzen. Das Voranschreiten der Vergesslichkeit löste in der Familie anfangs vor allem Irritationen aus, nötigte alsbald zu zunehmend schwierigen Arrangements und zu aufwendigen praktischen Hilfestellungen. Die Angehörigen mussten sich der unaufhaltsamen Verschlimmerung der Krankheit anpassen. Es ist vor allem der Wunsch des Vaters, nicht heimatlos zu werden, der Arno Geiger dazu bringt, über die Bedeutung des Zuhauseseins nachzudenken.

Es schmerzt den alten Herrn, dass er ab einem bestimmten Zeitpunkt sein eigenes Haus nicht mehr wiedererkennt. Nicht einmal die Hausnummer, die er in seinem löchrigen Gedächtnis noch behalten hat, vermag den Vater davon zu überzeugen, vor der eigenen Haustüre zu stehen. Als die Schwester des Autors ihn fragt, was diese Hausnummer zu bedeuten habe, antwortet ihr Vater, dass wohl jemand das Schild gestohlen und es an dieser Stelle neu angeschraubt habe. Die Welt des Erkrankten ist rissig geworden, und irgendwann beschleicht Geiger der Gedanke, die Alzheimererkrankung könne – über die Situation des Vaters hinaus – womöglich auch etwas über den Zustand unserer Welt aussagen:

»Alzheimer ist eine Krankheit, die, wie jeder bedeutende Gegenstand, auch Aussagen über anderes als nur über sich selbst macht. Menschliche Eigenschaften und gesellschaftliche Befindlichkeiten spiegeln sich in dieser Krankheit wie in einem Vergrößerungsglas. Für uns alle ist die Welt verwirrend, und wenn man es nüchtern betrachtet, besteht der Unterschied zwischen einem Gesunden und einem Kranken vor allem im Ausmaß der Fähigkeit, das Verwirrende an der Oberfläche zu kaschieren. Darunter tobt das Chaos.

Auch für einen einigermaßen Gesunden ist die Ordnung im Kopf nur eine Fiktion des Verstandes. Uns Gesunden öffnet die Alzheimererkrankung die Augen dafür, wie komplex die Fähigkeiten sind, die es braucht, um den Alltag zu meistern. Gleichzeitig ist Alzheimer ein Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft. Der Überblick ist verlorengegangen, das verfügbare Wissen nicht mehr überschaubar, pausenlose Neuerungen erzeugen Orientierungsprobleme und Zukunftsängste. Von Alzheimer reden heißt, von der Krankheit des Jahrhunderts reden. Durch Zufall ist das Leben des Vaters symptomatisch für diese Entwicklung. Sein Leben begann in einer Zeit, in der es zahlreiche feste Pfeiler gab (Familie, Religion, Machtstrukturen, Ideologien, Geschlechterrollen, Vaterland), und mündete in die Krankheit, als sich die westliche Gesellschaft bereits in einem Trümmerfeld solcher Stützen befand.

Angesichts dieser mir während der Jahre heraufdämmernden Erkenntnis lag es nahe, dass ich mich mit dem Vater mehr und mehr solidarisch fühlte.«[6]

Man braucht das Wort Alzheimer nur durch Corona zu ersetzen, um ein neues Sinnbild zu erhalten. Und dieses weicht in seiner Aussagekraft kaum von seinem Vorgänger ab. Auch die Corona-Pandemie hat uns mit menschlichen Eigenschaften und gesellschaftlichen Befindlichkeiten konfrontiert, die zu überraschen vermochten. Wir wurden zu Zeugen einer bereits verschüttet geglaubten Hilfsbereitschaft und sahen Beispiele dafür, wie Menschen sich bis zur Selbstaufgabe für Verwandte und Fremde einsetzten. Aber es zeigten sich ebenso die harsche Weigerung, sich in das Schicksal anderer auch nur elementar einzufühlen, und die bequeme Haltung, sich zu verschanzen in einer alternativen Wirklichkeit, in der das Virus zu einem Phantom umdefiniert wurde. Die Dauererregung, in der wir uns normalerweise befinden, war plötzlich abgebremst worden, die zur Gewohnheit gewordene Hast all unserer Verrichtungen jäh zum Stehen gebracht. Was den einen eine willkommene Reflexionszeit war, erschien den anderen als ein Affront gegen ihre Lebensweise, auf die sie ein Anrecht zu haben meinten. Insgesamt zeigte sich wie unter einem Vergrößerungsglas, wie zerbrechlich unsere Gesellschaft geworden war. Wir gewannen den Eindruck, dass am fahrenden Schiff auf stürmischer See erhebliche Reparaturen angebracht werden sollten.

Das Virus hatte den prekären Zustand unseres Zusammenlebens aufgezeigt. An der Oberfläche lief bis kurz zuvor noch manches in einigermaßen geordneten Bahnen. Politische und ökonomische Routinen prägten unser Alltagsbewusstsein. Es war uns irgendwie gelungen, die wohl allergrößte aller Krisen – die Klimakrise – auszulagern und diese mental zu kaschieren. Die Stabilität, die wir uns vorgaukelten, war aber bereits trügerisch geworden. Plötzlich zeigte sich, wie unter jener Oberfläche bereits das Chaos tobte. Vielleicht hatten wir uns bisher tatsächlich in einer Fiktion des Verstandes aufgehalten, in einem verkrampften Bemühen, Normalität zu spielen, während die Zukunft uns bereits längst eingeholt hatte und ihre Botschaft, dass es keine Welt mehr geben wird, wie wir sie kannten (Claus Leggewie/Harald Welzer), im Grunde kaum mehr zu überhören gewesen war.

Auch wenn wir manche Pfeiler, die Geigers Vater abhandengekommen waren, nicht mehr vermissen, ist die Lage der Dinge dennoch vergleichbar. Unter dem Vergrößerungsglas der Pandemie zeigt sich auch uns ein Trümmerfeld der Stützen. Im Nu waren die für unsere Art des Wirtschaftens so elementaren Lieferketten unterbrochen, und es zeigte sich, dass auf eine regional einigermaßen robuste Versorgung keinerlei Verlass mehr war. Angst nötigte viele Menschen zu teils absurden Hamsterkäufen, so als müssten sie ihre Haut retten, bevor andere das auch versuchten. In den Institutionen des Gesundheitswesens brachen Paniken aus. Es war kaum zu übersehen, welcher Leichtsinn am Werk gewesen war, als die Pandemievorsorge überall in der Welt, trotz deutlicher Warnungen, vernachlässigt worden war. Die psychosozialen Folgen der Krise sind im Einzelnen noch nicht genau abzuschätzen, aber es wird Heerscharen von Verlierern geben. Konflikte und Zerwürfnisse sind überall zu beobachten. Ökonomische Verwerfungen in großem Ausmaß zeichnen sich ab. Von Orientierungsproblemen und Zukunftsängsten muss tatsächlich die Rede sein.

In Arno Geigers Buch über den Vater gibt es aber auch Trostreiches, wozu die folgenden zwei Sätze gehören: »Das Leben ist ohne Probleme auch nicht leichter.« Es gibt auch für uns keinen Grund zu resignieren, aber genauso wenig einen Grund zu zögern. Der von der Pandemie ausgelöste Krisenzustand ist nämlich lediglich das Vorspiel einer viel größeren Krise, die sich bereits überall abzeichnet – das Vorspiel zur Klimakrise. Die Überschwemmungen im Jahre 2021 könnten zu einem Kippmoment werden, der die Realität der klimatischen Katastrophe endgültig bis vor die Haustüre gekehrt hat. Wir sind jedenfalls dabei zu straucheln und auf der mühsamen Suche nach einigermaßen zukunftsfesten Auswegen. Es wird enorme Anstrengungen brauchen, für unsere Gesellschaften neue Stützen zu finden, und das Trümmerfeld aufzuräumen. Aber wie hieß es bei Geigers Vater: »Ein guter Stolperer fällt nicht.« Ob diese Frohbotschaft zutreffen wird, wissen wir allerdings nicht.

Die Covid-19-Pandemie, die sich im Frühjahr 2020 in Europa auszubreiten begann, war und bleibt ein Jahrhundertereignis. Man kommt nicht umhin, sie mit der Spanischen Grippe zu vergleichen, die nahezu exakt 100 Jahre früher die Welt verheert hatte und das Leben von vermutlich 50 Millionen Menschen forderte, damals etwa 2,5 bis fünf Prozent der Weltbevölkerung. Auch wenn wir nur ahnen, welche Katastrophen vergleichbaren Ausmaßes in den nächsten Jahrzehnten noch auf uns zukommen werden, wird das Jahr des Ausbruchs der Corona-Pandemie im späteren Rückblick der Historiografen ein symbolisches Datum bleiben. Globaler, plötzlicher, schneller und einschneidender in seiner Art war vermutlich kein Ereignis der jüngeren Geschichte. In dieser Prädikatenreihung fehlt jedoch die Kennzeichnung unerwartet. Sie fehlt zu Recht, denn die Pandemie war erwartet worden. Zwar hatte man keine Einzelheiten wissen können. Zeit und Ort ihres Ausbruchs, die genaue Virusart und deren medizinische Komplikationen waren unvorhersehbar. Aber dass eine Pandemie uns in nicht ferner Zeit heimsuchen würde, war mehrfach warnend vorhergesagt worden. Wir wollten davon nichts wissen.

Wir haben die Alarmsignale tatsächlich gern überhört. Immer anderweitig unterwegs, im Kokon unserer Geschäftigkeit und unserer privaten Lebenserfüllungsstrategien eingezwängt, und angesichts der bereits vorhandenen Anzeichen lernunwillig und kurzsichtig geblieben, schlug die Pandemie wie ein Meteor in unsere Umgebung ein. Wir konnten anfangs kaum glauben, was da mit uns passierte, und gingen davon aus, die Angelegenheit würde sich in wenigen Wochen erledigen. Wir freuten uns allzu bereit auf den baldigen Rückblick auf das Geschehen. Der niederländische Historiker Geert Mak hat diese Haltung trefflich beschrieben:

»Es kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel, plötzlich waren wir an der Reihe. Wir, die sonnenverwöhnten Generationen der zurückliegenden Jahrzehnte, wurden im Frühjahr 2020 unsanft aus unserem Rausch geweckt und kosteten vorsichtig das vergessene Wort ›Schicksal‹. Waren wir denn nicht unsterblich? Galt in unserem selbstbewussten Teil der Welt nicht das Gesetz, dass wir sicher waren und jedes Problem in den Griff...