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Zauberberge - Als es die Dichter und Denker auf die Schweizer Gipfel zog

Zauberberge - Als es die Dichter und Denker auf die Schweizer Gipfel zog

Andreas Lesti

 

Verlag BERGWELTEN, 2022

ISBN 9783711250186 , 192 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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15,99 EUR

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Zauberberge - Als es die Dichter und Denker auf die Schweizer Gipfel zog


 

KAPITEL EINS


DAVOS


Eineinhalb Jahre waren vergangen, ehe ich mich wieder auf den Weg machte. Ein Zeitraum, in dem sich die Welt verändert hatte. Jener Freitag, der 13., war nur der Anfang, und das Virus kursierte noch immer, mittlerweile mehrfach mutiert. Es gab einen Impfstoff, aber es würde noch lange dauern, bis sich alle Menschen impfen lassen. Selbst die Sprache hatte das Virus befallen. Woche für Woche tauchten neue Begriffe auf: Wellen und Lockdowns, Homeoffice und FFP2-Masken, R-Werte und Inzidenzen, Vakzine und Mutanten, Priorisierungen und Virusvariantengebiete. Und in dieser neuen, von Krankheit bestimmten Welt, wagte ich an einem strahlenden Sommertag einen zweiten Versuch, in die Schweiz zu kommen, nach Davos. »Davos ist ein weißer Vogel, schwebend in der Luft«, schrieb einstmals die russische Autorin Wiktorowa, »ein Tal begossen mit Menschenblut und Tränen, ein ruhiger Friedhof gewesener Freuden und die Wiege neuer Hoffnungen.«

Diesmal vermied ich Landeck, in der Hoffnung, mehr Erfolg zu haben. Ich fuhr wieder mit dem Zug, aber nun genauso, wie es Hans Castorp in Thomas Manns Roman Der Zauberberg gemacht hatte. Dieses überforderte Einzelkind mit Krokodillederhandtasche, dessen Eltern verstorben waren und das in die Schweiz reiste, um seinen Vetter in den Bergen zu besuchen, stimmte sich gerade auf seine Ingenieurslaufbahn ein. Castorp las das broschierte Buch Ocean steamships, während er von Hamburg aus »durch mehrere Herren Länder, bergauf, bergab, von der süddeutschen Hochebene, hinunter zum Gestade des Schwäbischen Meeres« fuhr. Am Bodensee setzte er mit dem Schiff über. Von Rorschach aus fuhr er wieder mit dem Zug und kam bald nach Landquart, wo er in eine Schmalspurbahn wechselte. Das dauerte alles seine Zeit, aber beklagen konnte er sich nicht. Denn als Thomas Mann seine Romanfigur 1907 in die Schweiz kommen ließ, hatte das Land eine regelrechte Modernisierungsexplosion hinter sich. Allerorten wurden Straßen, Tunnels, Brücken, Bergbahnen und Hotels gebaut. Hätte er seinen Protagonisten 40 Jahre früher reisen lassen, dann hätte er in Landquart in eine Pferdekutsche steigen müssen und noch mal sechs Stunden nach Davos gebraucht.

Noch heute ist die Zugreise von Norddeutschland nach Davos eine elfstündige Reise, quer durch Deutschland und die Schweiz. Die Züge waren meist nur halb voll, und diesmal erreichten mich während der Fahrt keine neuen Hiobsbotschaften. In Augsburg stieg ich um und folgte nun der Castorp-Route weiter nach Friedrichshafen und von dort mit der Fähre einmal quer über den Bodensee. Das Schiff hatte auch Thomas Mann genommen, als er 1912 in die Schweiz reiste, und wandelte damals selbst schon auf den Spuren eines prominenten Vorreisenden: Richard Wagner, der die Schifffahrt bereits ein halbes Jahrhundert zuvor unternommen hatte, um in die Schweiz zu kommen. Ein grauer Zeppelin schwebte durch die Luft, rote Tretboote schaukelten in den Wellen und zwei symbolträchtige Schwäne schwammen durch den Hafen. Eine Stunde lang pflügte die Fähre über den See, und während auf der rechten Seite das Land flach auslief, reckten sich links die ersten Schneeberge im Dunst auf. Der Säntis mit seiner großen Antenne auf dem Gipfel war deutlich zu erkennen. In Romanshorn legte die Fähre an und ich betrat die Schweiz. Ganz unbehelligt, keiner wollte einen Ausweis, eine Test- oder Impfbescheinigung sehen. Nun brachten mich rote Züge weiter durch Apfelbaumplantagen und durch herausgeputzte kleine Ortschaften nach Rorschach, wo auch Hans Castorp umgestiegen war. Eine Schulklasse stieg ein und wieder aus, zwei Bauarbeiter tranken Bier und unterhielten sich über Gelegenheitsjobs. Wenig später erhoben sich im Rheintal links und rechts von den Gleisen die ersten Berge, einer hatte die Form eines Flaschenöffners, ein anderer die einer Urzeitechse. Dann kündigte der nervtötende Dreiklang der Schweizer Bahn Landquart an.

Ich saß also im Zug und las den Zauberberg und las, wie Hans Castorp im Zauberberg im Zug saß und Ocean steamships las. Vielleicht hatte Thomas Mann davor in diesem Zug gesessen und Wagner gelesen, der seinerseits zuvor hier reiste und vielleicht Nietzsche gelesen hatte. Wird irgendwann, schoss es mir durch den Kopf, jemand mit dem Buch Zauberberge in diesem Zug sitzen und darin lesen, wie ich im Zug sitze und im Zauberberg lese, wie Hans Castorp Ocean steamships liest? Ein literarischer Versailles-Spiegel. Ich hatte einen ganzen Stapel an Büchern dabei, der als ziemlich schwere Kost in meiner Reisetasche lag: neben dem Zauberberg Thomas Manns Doktor Faustus, Kästners Zauberlehrling, Adornos Minima Moralia und Nietzsches Also sprach Zarathustra. Von Landquart aus quälte sich der rote Zug, der mit Skifahrern und Radfahrern bemalt war, hinauf. Auf zauberhafte Weise verschmolz der Roman mit der Wirklichkeit – oder bildete ich mir das nur ein und es bestand Grund zur Sorge um meinen Geisteszustand? Auch im Zauberberg beginnt nun »der eigentlich abenteuerliche Teil der Fahrt«, es geht »auf wilder, drangvoller Felsenstraße allen Ernstes ins Hochgebirge.« Ich las abwechselnd im Präteritum des Romans und blickte durchs Fenster ins Präsens der Wirklichkeit. Es ging durch Kurven und Bögen und durch Orte, die klangen, als wären sie Figuren in einem Thomas-Mann-Roman: Serneus, Cavadürli und Selfranga. Kurz vor dem Davosersee hatte der Zug endlich das Hochtal erreicht und passierte die Hochgebirgsklinik, nüchterne weiße und graue Zweckbauten zwischen hohen Arven. Hinter diesem Namen verbirgt sich die größte Rehaklinik Graubündens. Es war ein trister Anblick, weil er so gar nichts mit den prunkvollen Jugendstilpalästen zu tun hatte, die Davos zur Jahrhundertwende schmückten. Etwa die Klinik mit dem klangvollen Namen Valbella, deren Fassade es sogar auf das Cover einer Zauberberg-Ausgabe schaffte. Und wenn man liest, wie Thomas Mann den Berghof, das Sanatorium im Roman, beschrieben hat, dann weiß man auch warum: »ein langgestrecktes Gebäude mit Kuppelturm, das vor lauter Balkonlogen von Weitem löcherig und porös wirkte wie ein Schwamm«. Er setzte den »Berghof« allerdings aus verschiedenen Kliniken zusammen: Die Fassade stammte vom Valbella, die Atmosphäre aus dem Waldsanatorium, in dem seine Frau Katia behandelt wurde, das Interieur aus der Schatzalp.

Die klinischen Funktionsbauten der Hochgebirgsklinik verschwanden langsam wieder aus meinem Sichtfeld – doch es blieb der Vorgeschmack auf das Davos des 21. Jahrhunderts. Wir fuhren nun auf ebener Strecke, vorbei am türkisfarbenen Davosersee, wo Wakeboarder surften und am Ufer Beachvolleyball gespielt wurde. Es ging keineswegs »allen Ernstes ins Hochgebirge«, wie es beim Flachländer Thomas Mann heißt. Was für ein Unfug, denn auch wenn Davos auf knapp 1600 Meter Höhe liegt, befindet sich die Stadt immer noch in einem breiten Tal. »5000 Fuss ü. M.« ist auf manchen alten Postkarten zu lesen, vermutlich, weil das einfach viel besser klingt. Aber wenn überhaupt, dann fährt man von hier aus mit einer der vielen Bergbahnen »allen Ernstes ins Hochgebirge«. Als Strafe für diesen blasphemischen Gedanken holte mich, als ich am späten Nachmittag am Bahnhof Davos-Platz ankam, kein »Mann in Livree, mit Tressenmütze« ab.

Ich stieg aus dem Zug aus und sofort beschlich mich ein beklemmendes Gefühl. Ich kannte den Ort, war in den vergangenen Jahren schon ein paarmal hier, und schon damals hatte ich dieses Gefühl, als würde ich in einen Strudel geraten, in ein Bermudadreieck der Alpen, das seine Gäste schwindsüchtig macht und sieben Jahre lang festhält. Als könnte ich hier Hans-Castorpisiert werden. Ich ging an einem brutalistisch betonierten Einkaufszentrum vorbei und über eine schmale steile Gasse zur Kirche und Richtung Schatzalpbahn. Da zischten aus den Straßenwinkeln fistelnde Stimmen:

»Du wirst nie wieder zurück nach unten kommen!«

»Du wirst hier oben sieben Jahre lang festsitzen!«

»Du wirst am Abend vergessen haben, was du tagsüber gedacht hast!«

Ich hörte ein überschnappendes Lachen hinter mir, drehte mich schnell um – doch da war niemand.

Überhaupt: Es war nicht viel los. Mir kam nur ein Mountainbiker mit einem Paar Ski auf der Schulter entgegen, dann ein Mann mit Zigarre im Mund und ein Furcht einflößender Geselle im Camouflage-Outfit und einem Pitbull. Kurz vor der Talstation der Schatzalpbahn wechselten drei orthodoxe Juden mit dunklen Sonnenbrillen und Wanderstöcken grüßend die Straßenseite. Davos präsentierte sich als eine Mischung aus Baustellen und Luxus-Boutiquen, Kirchen und Banken, Outlets und Après-Ski-Bars, Shoppingmalls und Hotels in unterschiedlichen Verfallsstadien. Die Tijuana Bar und der Platzhirsch Club waren zu, nur in der Ex Bar, in der sich im Winter Engländer nach Pistenschluss besinnungslos trinken, saßen ein paar Einheimische. Davos schmückt sich mit dem Superlativ...