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Das versunkene Dorf - Roman

Das versunkene Dorf - Roman

Olivier Norek

 

Verlag Blessing, 2022

ISBN 9783641260675 , 384 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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13,99 EUR

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Das versunkene Dorf - Roman


 

16

Bahnhof von Viviez-Decazeville.

Im Aveyron.

Nur zwei weitere Personen stiegen mit ihr aus dem Zug. Sieben Stunden Fahrt mit dem Bummelzug hatte sie hinter sich und tausend Umwege über Ortschaften, von denen sie noch nie gehört hatte. Und an die sie sich sicherlich nie mehr erinnern würde. Bei Namen wie Laroque-Bouillac, Boisse-Penchot und Lacapelle-Marival musste man schon ein sehr gutes Gedächtnis haben oder dort mal mit dem Auto liegen geblieben sein, um sie nicht gleich wieder zu vergessen.

Anstelle von Wohnvierteln mit Wolkenkratzern gab es Wälder und Felder, auf denen vereinzelt Bauernhäuser standen. Anstelle mehrspuriger Alleen wanden sich Straßen durch die Landschaft, welche hie und da in Feldwege mündeten, die zu einsamen Häusern führten. Strohballen, Traktoren und Pferde. Paris hatte sie definitiv hinter sich gelassen. Allerdings mutete der Bahnhof von Viviez-Decazeville nicht so idyllisch an wie die vorherigen Haltestellen.

Sie fand sich ganz allein auf einem in der prallen Sonne gelegenen Bahnhofsparkplatz wieder. Vor ihr ein menschenleeres Restaurant mit dem subtilen Namen »Zum Bahnhof«. Hinter ihr kränklich aussehende Hügel mit zerrupften Grünflächen, die von über hundert Jahren Schwermetallbelastung durch Zinkabbau zeugten. Am Fuß der Hügel zogen sich über mehrere Hundert Meter Lagerhallen aus grauem Wellblech hin. Nicht weit davon entfernt breitete sich auf rund tausend Quadratmetern Fläche eine stillgelegte Fabrik mit einem Labyrinth aus verrosteten Metallröhren und einem Geflecht alter Förderbänder aus, die seit den 1960er-Jahren stillstanden.

Auf einmal erklang eine recht angenehme Stimme hinter ihr. »Man sollte sich nicht vom ersten Eindruck abschrecken lassen, Capitaine.«

Noémie drehte sich um, und der junge Dorfpolizist, der geschickt worden war, um seine neue Vorgesetzte abzuholen, erblickte nun seinerseits zum ersten Mal ihr Gesicht.

»Genau das Gleiche wollte ich Ihnen auch gerade sagen«, erwiderte sie.

Es wäre gelogen, wenn sie behaupten würde, dass er nicht zurückgeschreckt wäre. Er machte aber weiter kein Aufhebens daraus und redete einfach weiter.

»Ich wollte damit nur sagen, dass die Region viel Schönes zu bieten hat, wenn man sie ein bisschen kennt. Es reicht eigentlich schon, wenn sie diesen Bahnhof verlassen. Der könnte sogar mich depressiv machen.«

Dann reichte er ihr die Hand.

»Lieutenant Romain Valant.«

»Capitaine Noémie Chastain.«

Er war höchstens fünfunddreißig Jahre alt, schaute sie aus einem freundlichen jungenhaften Gesicht an, das von einem zerzausten blonden Haarschopf gekrönt war und dem die gute Laune wohl mit in die Wiege gelegt worden war, so grinste er sie zumindest an.

»Ich habe einen Onkel, der in der Grube von Aubin in einem Verbindungsgraben Opfer einer Schlagwetterexplosion wurde. Der war damals noch keine zwanzig. Im Vergleich zu ihm beeindrucken Sie mich damit nicht.«

»Dann sollten Sie jetzt noch mal einen richtigen Blick drauf werfen, um ihre Neugier zu befriedigen, damit wir mit dem Wesentlichen fortfahren können.«

Noémie war sich ihrer etwas trockenen Art bewusst, und es tat ihr jetzt schon leid, dass sie ihm bei ihrem ersten Aufeinandertreffen so kühl begegnete, aber offensichtlich bedurfte es weitaus mehr, um der immerwährenden Fröhlichkeit des Lieutenant Valant Abbruch zu tun. Unerwartet freimütig erwiderte er darauf:

»Gut, wenn Sie das schon vorschlagen, mache ich das gern.«

Als der Unbekannte daraufhin jede einzelne ihrer Narben genau inspizierte und dabei lächelte, als wäre es das Normalste von der Welt, wurde Noémie dann doch unbehaglich zumute.

»Also, ich kann mich nur wiederholen, bei meinem Onkel war das schon eine andere Hausnummer.«

Als wäre nichts weiter gewesen, ging er zur Tagesordnung über.

»Ich bringe Sie zu Ihrem Haus. Es liegt neun Kilometer von hier entfernt, in dem Dorf Avalone. Ich denke, dass Sie sich dort wohlfühlen werden. Avalone ist schön. Warten Sie, ich kümmere mich um Ihr Gepäck.«

Valant verstaute Noémies Gepäck neben einem Maxi-Cosi-Kindersitz auf der Rückbank seines Minivans. Sichtlich bemüht, seine Aufgeregtheit zu unterdrücken, glich er einem pfeifenden Wasserkessel. Mit nur einer Frage gab Noémie ihm die Gelegenheit, seinen Druck loszuwerden.

»Verschaffen Sie mir einen Überblick? Ich hatte vor meiner Fahrt hierher kaum Zeit, mich mit allem vertraut zu machen.«

Das musste sie ihm nicht zweimal sagen.

»Also, das wird erst mal eine Umstellung für Sie. Das Einzugsgebiet des Kommissariats von Decazeville besteht aus den fünf Kommunen Aubin, Cransac, Firmi, Viviez und Avalone, wo Sie auch wohnen werden. Es ist in etwa so groß wie Paris, hat aber nur knapp fünfzehntausend Einwohner, im Vergleich zu Ihren zwei Millionen Einwohnern. Man kann also sagen, wir haben jede Menge Platz. Im Jahr werden etwa hundert Personen in Gewahrsam gebracht. Zum Vergleich: In der kleinsten Gemeinde des 93er-Problem-Départements werden über tausendfünfhundert Personen pro Jahr verhaftet. Man kann also sagen, wir haben viel Zeit. Und achtundvierzig Polizeibeamte, um dem Ganzen Herr zu werden. Man kann also auch sagen, dass wir ziemlich viele sind. Der letzte Mord geschah vor fünf Jahren. Ja, das wird eine ganz schöne Umstellung für Sie.«

Ohne es zu wollen, hatte Valant die Zweifel des Ministeriums an der Notwendigkeit dieses Kommissariats bestätigt. Und die rührende Arglosigkeit, mit der er soeben einen Großteil dessen ausgeplaudert hatte, was Noémie in Erfahrung bringen sollte, bestätigte ihr wiederum, dass niemand hier über ihren Auftrag Bescheid wusste. Missvergnügt stellte sie fest, dass sie die nächsten Wochen damit verbringen würde, alle Menschen um sie herum anzulügen. Sie musste zusehen, dass sie niemanden zu nah an sich heranließ.

»Und was ist mit der Belegschaft?«, hakte sie nach.

»Wir haben keinen Kommissar, sondern einen Brigadekommandeur, der die Gendarmerie leitet. Mit ihm, mir und Ihnen sind wir zu dritt. Aber einen Vorgesetzten mit Ihrer Karriere, sechs Jahre bei der Organisierten Kriminalität und acht Jahre bei der Drogenfahndung, das hatten wir noch nie. Ich muss gestehen, dass wir ganz schön stolz darauf sind, Sie jetzt in unserem Kommissariat zu haben. Wir dachten schon, wir würden auf der Abschussliste stehen, und da schickt man uns eine neue Kollegin, und nicht mal irgendeine. Das ist ein gutes Zeichen und beruhigt uns alle sehr.«

»Sie scheinen ja gut über mich Bescheid zu wissen«, bemerkte Noémie, der immer unbehaglicher zumute wurde.

»Richtig. Über Ihr Gesicht wusste ich auch Bescheid, das hat in unseren Kreisen hohe Wellen geschlagen. Aber wie ich Ihnen bereits sagte …«

»Ja, ja, ich weiß, Ihr Onkel, das Bergwerk, die Explosion«, unterbrach sie ihn.

Valant prustete los und lachte hemmungslos – vor allem über sich selbst. Da hätte sie sich einmal gewünscht, auf einen Widerling zu treffen …

Sie fuhren von der Bundesstraße ab und schlängelten sich auf schmaleren, mit Eichen gesäumten Straßen durch die Landschaft hinauf, bis sie ganz oben am Ortseingang von Avalone angelangt waren. Mit einem einzigen Blick erfasste Noémie die Ortschaft.

Vor ihnen lag ein ruhiger See, dessen Ufer von Häuserblöcken gesäumt war; die Gebäude waren mit moosbewachsenen Mäuerchen voneinander getrennt und hatten alle einen Gemüse- oder Obstgarten. Entlang der Häuser führte eine Hauptstraße, die beim Rathaus begann und ein paar Hundert Meter weiter an der Kirche endete. Eine saubere Trennung zwischen Kirche und Staat.

»Und? Wie finden Sie’s?«, fragte Valant stolz.

Noémie, die immer schon mit Leib und Seele Großstädterin gewesen war, hätte sich niemals träumen lassen, dass sie einmal in einer Postkartenidylle leben würde. Etwas in ihrem Bauch löste sich langsam auf, wie ein Knoten, der aufging, eine Last, die ihr genommen wurde. Ein Knoten von vielen Tausenden, die noch darauf warteten, entknotet zu werden, aber es war immerhin ein Anfang.

Sie wollte lächeln, aber ihr Gesicht blieb ausdruckslos.

Der Minivan rollte langsam den Abhang hinunter, überquerte die Hauptstraße und den Hauptplatz und bog dann in einen gut ausgebauten Feldweg, der quer durch einen Kastanienwald führte. Am Ende des Wegs erschien nach einer engen Kurve ein Haus aus Stein und Holz mit einer großen Glasfront mit Blick auf den Garten, an dessen Ende sich ein Steg befand, der mit seinen vier Füßen in besagtem See stand. Der lang gezogene See war mit seiner glatten Oberfläche von einem schmalen Uferstreifen mit Kieselsteinen und braunem Sand gesäumt und vermittelte das Gefühl von Ruhe und wilder Natur.

Ein wunderschönes Fleckchen Erde. Und welch unerwarteter Luxus, sie hatte sogar ein Stückchen See ganz für sich allein. Wieder ein Knoten weniger in Noémies Bauch.

»Wie ich bereits erwähnte, wenn es Ihnen nicht behagt, gibt es auch ein Gästezimmer neben der Kirche.«

»Was ist mit der Miete?«, fragte Noémie, die sich in Paris nie mehr als eine Fünfzig-Quadratmeter-Wohnung hatte leisten können.

»Das können Sie dann mit dem Eigentümer klären. Mit meinem Vater. Aber das eilt nicht.«

»Sagen Sie mal, Valant, wie viele solcher Häuser hat Ihr Vater denn?«

Er fuhr sich mit der Hand durch das verstrubbelte Haar und wirkte zum ersten Mal etwas unangenehm berührt.

»Pierre Valant ist der größte landwirtschaftliche Unternehmer der Region. Er ist auch der Bürgermeister von Avalone. Er...