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Der Fluss ist eine Wunde voller Fische - Roman

Der Fluss ist eine Wunde voller Fische - Roman

Lorena Salazar

 

Verlag Aufbau Verlag, 2022

ISBN 9783841229250 , 176 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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14,99 EUR

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Der Fluss ist eine Wunde voller Fische - Roman


 

1


Der Junge und ich gelangen zum Kai von Quibdó. Wir halten Ausschau nach einem Boot, das uns nach Bellavista bringt, uns beide und den Stoffpinguin, den er mit sich trägt, seit wir das Haus verlassen haben. Wir setzen uns auf die Betonstufen, die zum Fluss Atrato führen, ich kaufe ihm bei einer Frau eine Mango mit Zitrone und Salz, und wir warten. Der Morgen gehört den Vögeln, sie singen aus den Bäumen, die am Ufer des Flusses aufragen; selbst die jüngsten Vögel haben ein Nest mit nackten, wehrlosen, hungrigen Küken.

»Ma, schau mal, ein Vögelchen«, sagt er.

»Das ist kein Vögelchen, das ist ein Geier«, antworte ich, den Mund mit Mango voll.

Der Geier mit seinem roten Kopf sitzt auf einem Müllbeutel. Ich will dem Jungen nicht den Unterschied zwischen einem so finsteren Tier und einem Vögelchen erklären, und er fragt auch nicht.

Das Tier hebt zum Flug an und die Strömung nimmt den Beutel flussabwärts mit.

Das Dorf breitet sich vom rechten Uferrand her aus, dringt in einen Dschungel hinein, der seinen Preis fordert und seinen Raum, indem er die Wände mit Feuchtigkeit und Moder durchtränkt. In Quibdó riecht der Atrato nach salzigem Fisch, nach Orange und nassem Holz. Tief ist das Flussbett, bewacht von alten Häusern, an seiner Seite Kinder und Frauen, die am Ufer Wäsche waschen. Es ist der Fluss in seinen jungen Jahren. Er entspringt in El Carmen de Atrato und mündet in die Karibik. Die Bewohner des Dorfes leben vom ihm: sie fischen, befahren ihn und singen dabei, beten zu ihm. Ein breiter Strom aus schwarzer Erde.

Im Inneren, im Urwald, spiegelt der Atrato nicht wie der Amazonas, er ähnelt auch nicht dem grünen Cauca und auch nicht dem Magdalena, der das Land wild und schäumend durchbraust. An manchen Stellen ist er erdbraun, an manchen zimtfarben, mit einem Geruch wie aus einem Fotoalbum, das man nach langer Zeit aufschlägt.

An der Mole befestigt, auf Passagiere und Essensladungen wartend: drei Einbäume und zwei weißliche Schnellboote. Jedes von ihnen mit seinem Fahrer an Bord, der sich auf die Reise vorbereitet. Am Morgen, auf dem Weg zur Schule, spielen der Junge und ich Dorfaufwecken: Wir überqueren die Straße Alameda, während die Geschäfte ihre Türen öffnen, wir grüßen den Mann von der Fleischerei, streicheln die Hühner in der Tierhandlung, schauen verstohlen die Betrunkenen an, die auf den Tischen der Bar schlafen, für den Jungen sind sie Puppen. Männer, die Reissäcke schleppen und abladen. Die Läden des Bordellbalkons sind geschlossen – dort schläft man lange –, Karren mit Bananen und Körbe voller Zitronen reihen sich entlang des Bürgersteigs auf. Eine ungekämmte Alte, die ich seit Langem kenne, ruft uns von ihrem Balkon aus zu, dass wir spät dran seien, und wir beeilen uns.

Das Dorf erwacht mit der Vorfreude eines Kindes, das ein Buch zum ersten Mal aufschlägt. Eine Freude, die schwindet, wenn die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht und gen Dschungel zu sinken beginnt. Die Schwüle der Nachmittage von Quibdó mit ihrer sengenden, erstickenden Sonne drückt. Sie glänzt auf den Gesichtern der Menschen, bis sie um vier oder um fünf als Wolkenbruch explodiert. Es ist kein eigentlicher Regen: Der Himmel entlädt sich über die Geschäfte, deren Waren seit dem Morgen unter freiem Himmel stehen.

Die Leute wissen nicht, wohin ich mit dem Jungen gehe, sie laufen neben uns, als ob nichts wäre. Einige Jeeps warten auf die grünen Bananenstauden, die die Schnellboote von den Höfen bringen, damit sie in die Geschäfte der Viertel geliefert werden. In eines der Boote – das kleinste – steigen drei Dunkelhäutige, sie haben zwei Säcke für den Markt dabei. Sie durchqueren den Fluss rudernd, zu Fuß, sicheren und gelassenen Schrittes. In ihren Sporthosen, orangefarben, limonengrün, himmelblau. Der Anleger füllt sich langsam mit Menschen, wir bereiten uns auf den Einstieg in das günstigste Boot vor. Der Junge versteht nicht ganz, wohin wir fahren. Ich sage ihm, wir machen einen Ausflug, ich verheimliche ihm, wie wehmütig es mich macht, zu dem Ort zurückzukehren, der einst meine Heimat war, wo nichts übrig geblieben ist von meiner Kindheit. Aber doch von der des Jungen.

In einer halben Stunde legt das Boot ab, mit ihm werden wir fahren. Die Bootsführerin ist eine Frau, dunkel wie Kakao, sie bewegt sich in einem grünen Kleid mit indigenen Stickereien – Träume, Erscheinungen, irgendeine Weissagung. Und trägt Sandalen, Flipflops. Sie grüßt uns vom Boot aus mit »Guten Tag« und ruft uns zu, das Gepäck hinüberzuwerfen, um es im Laderaum zu verstauen. Ich blicke den Jungen an, ein Floh, der sich an mein Kleid klammert, ich ahne seine Angst. Ich schlage ihm ein Spiel vor: Wir zählen bis drei und dann werfen wir unsere Sachen auf das Boot. Eins, zwei, drei: die Kleidung der nächsten Tage, Pyjama und Zahnbürsten fliegen in einem kleinen Koffer durch die Luft. Die Bootsführerin verstaut ihn in einem Laderaum bei den Motoren und blickt wieder zu uns. Ich werfe noch meine Tasche und den Pinguin des Jungen.

»Und ich, was werfe ich, Ma?«

Die Bootsführerin schaut ihn an und sagt ihm, er solle einfach springen, sie fange ihn auf. Ich nehme das Zitronenamulett, das um meinen Hals hängt, und küsse es. Der Junge blickt mich an und weiß sogleich, dass er springen kann. Das Amulett ist ein Wink, den er ganz selbstsicher eines Nachts erfunden hat.

»Ma, immer, wenn du die Zitrone zwischen den Zähnen hast, sagst du ja zu allem.«

Kinder stellen unumstößliche Regeln auf. Ich unterwerfe mich seinem Gesetz. Im Gegenzug bitte ich ihn, seine Hausaufgaben zu erledigen, bevor er spielen geht. Ich bereite ihn auf ein Leben voll von Geben und Nehmen vor. Wir werden uns gegenseitig erziehen. Ich bringe ihm bei, er zu sein, und er hilft mir, alles für ihn zu tun, unter neuer Gestalt zu leben, neuen Zeichen, die niemand anderes verstehen würde. Er lebt mit mir. Ich habe ihn nicht geboren, aber ich bin seine Mama. Das sage ich mir jede Nacht, ein Gebet, um loszulassen. Ich sehe das Boot und will ihm sagen, dass er nicht springen soll, lieber kehren wir wieder heim, machen den Fernseher an. Will ihm sagen, dass ich ihn brauche. Ich lächele ihm zu, seine rechte Hand lässt mein Kleid los, das jetzt voller Knitter ist.

»Eins, zwei und … drei«, ruft er, springt und die Bootsführerin fängt ihn auf. »Ma, du bist dran!«

Springen oder sich in die Strömung stürzen. Für den Jungen bin ich kurz davor zu springen. Er klingt fröhlich, festlich, es ist ein Spiel. Die Schattenseite des Springens ist das Stürzen. Ich stürze mich hinein, indem ich einen Sprung vortäusche, und der Junge umarmt mich, als würde er aus der Schule kommen. Ich streiche sein Hemd glatt und wir setzen uns auf die Holzbänke, die uns die Bootsführerin zuweist. Weiße Bänke, ohne Rückenlehne. Wenn dies hier ein kleines Flugzeug wäre, würde ich sagen, wir belegen die Plätze 2B und 2C, das Ruder bedient die Bootsführerin von hinten. Im Unterschied zu unseren Flugreisen wundert sich weder sie noch ihr Assistent, der gerade in das Boot gesprungen ist, dass mein Sohn schwarz ist und ich weiß bin.

Fleisch, Kleidung, Salz und Bretter für ein Bett; Kerzen, Stifte, Früchte und drei Kisten mit lebenden Hühnern; Mais, Bettwäsche, Kochtöpfe und Schulbücher. In dieser Reihenfolge reist, was Bellavista braucht. Die Koffer sind voll mit Kerzen, Milchpulver, Windeln. Kleidung wird neu erfunden. Ein Kleid kann zum Rock werden, zum Tuch, Kissen, Küchenhandtuch. Wichtig ist, dass die Leute essen, schlafen, und wenn es möglich ist, lernen.

Das Boot ist unlackiert. Ein großes Stück Mangrovenholz, gekerbt, Farbe ist nicht nötig. Unsere Sitze sind nicht überdacht, ich habe keine Angst vor dem Wasser, das vom Himmel regnet, es macht mir nichts aus, nass zu werden, wenn die Wolken den Gewitterregen niederlassen. Nur für den Jungen brauche ich einen trocknen Platz, vielleicht zwischen den Frauen in der letzten Reihe, lediglich zwei Bänke haben eine Überdachung mit einer schwarzen Plane aus dickem Plastik.

Der Assistent der Bootsführerin verteilt Rettungswesten. Sie riechen nach schlecht getrockneter Wäsche. Ich nehme sie, gebe mich freundlich. Die Frau neben mir, die die Bootsführerin Carmen Emilia genannt hat, schimpft, während sie die Weste zuknöpft: »Die haben sie wohl nie gewaschen.« Der Junge hingegen fühlt sich superstark....