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Der Himmel über Amerika - Leahs Traum - Roman

Der Himmel über Amerika - Leahs Traum - Roman

Karin Seemayer

 

Verlag Aufbau Verlag, 2022

ISBN 9783841229274 , 416 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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Der Himmel über Amerika - Leahs Traum - Roman


 

1. Kapitel

Jacobstown, Januar 1917


Leah, beeile dich. Dein Vater hat schon angespannt.«

Die Stimme ihrer Mutter klang durch das Treppenhaus. Hastig riss Leah die dunkle Haube aus dem Schrank, setzte sie auf und verknotete die Bänder unter dem Kinn. Heute würde sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester Deborah in die Stadt fahren und Stoff kaufen. Deborah brauchte welchen für ihr Hochzeitskleid, und Leah sollte ebenfalls ein neues Kleid bekommen. Sie schlüpfte in die Stiefel, band mit fliegenden Fingern die Schnürsenkel zu und rannte die Treppe hinunter.

Ihre Mutter wartete im Flur auf sie. »Du rennst immer noch, als wärst du ein Kind. Dabei bist du achtzehn Jahre. Und deine Haube hast du auch nicht richtig auf.«

Sie reichte Leah ihren Mantel, dann schob sie einige Locken zurück, die sich aus Leahs Haarknoten gelöst hatten und sich um ihr Gesicht ringelten, und zog die Haube so weit nach vorne, dass Leahs Haaransatz bedeckt war. Leah seufzte. Nur wenige Frauen aus ihrer Gemeinde trugen noch so eine große Haube. Die meisten hatten kleinere Bonnets, die den Haaransatz freiließen. Manche gingen auch nur mit der »Kapp« nach draußen, der leichten weißen Organdy-Haube, die vor allem im Sommer angenehmer zu tragen war. Doch ihr Vater bestand darauf, dass sie ihr Haar in der Öffentlichkeit vollständig bedeckt trug. Denn selbst wenn nur der Haaransatz zu sehen war, zog ihr Haar, das so rot war wie der Ahorn im Indian Summer, zu viele Blicke auf sich, sagte er.

Bei den Amisch von Jacobstown war die Farbe Rot verpönt. Es gab keine roten Häuser, keine roten Stoffe für Vorhänge oder rote Gebrauchsgegenstände, denn es war die Farbe des Blutes, das Jesus für die Sünden der Menschen vergossen hatte. Und außerdem war rotes Haar nicht »schlicht«.

Leah hatte sich oft gefragt, warum Gott sie mit dieser auffälligen Farbe bedacht hatte. Das Blond ihrer Schwester Deborah hatte nur einen rötlichen Schimmer, ebenso wie das dunkelbraune Haar ihrer Brüder. Und nicht nur die Farbe ließ jegliche Schlichtheit vermissen, nein, ihr Haar war so lockig, dass es sich kaum bändigen ließ. Egal, wie straff sie es zurückkämmte und wie fest sie den Knoten schlang, immer wieder lösten sich einzelne Strähnen, mogelten sich unter der Haube hervor und ringelten sich um ihr Gesicht. Es schien, als wehrten die roten Locken sich dagegen, verborgen zu werden.

Ihre Mutter setzte sich neben ihrem Vater auf die vordere Bank des Dachwägeles, Leah und Deborah kletterten auf die hintere Bank und legten sich die Decke über die Beine. Es war ein unangenehmer feuchtkalter Tag. Ihr Vater schnalzte mit der Zunge. »Hopp, Joschi, lauf.«

Das Pferd trabte an. Sie fuhren vom Hof auf eine schmale Straße, die am Mill Creek entlangführte. Die Mühle, die dem Bach den Namen gegeben hatte, lag hinter ihnen. Sie gehörte schon seit fast hundert Jahren der Familie Hochleitner. Leahs Ururgroßvater hatte sie 1819 erbaut.

Am Hof der Kauffmanns bogen sie auf die Straße nach Jacobstown ab. Plötzlich wurde das Klappern der Pferdehufe durch ein immer lauter werdendes Rattern übertönt. Leah sah aus dem rückwärtigen Fenster. Auf der Straße näherte sich eines dieser neumodischen Automobile. Als es direkt hinter ihnen war, ertönte ein Krachen, der Motor heulte auf, dann scherte das Gefährt aus und fuhr an ihrer Kutsche vorbei.

Leah erhaschte einen Blick auf die Insassen. Der Fahrer trug eine eng anliegende Mütze, die Frau neben ihm hatte sich einen Schal um den Kopf geschlungen.

Sie sah zu ihnen herüber, und dann war das Automobil schon neben dem Pferd. Joschi warf den Kopf zurück und scheute, als das Fahrzeug ihn überholte und vor ihm einscherte.

»Hoooh, ganz ruhig«, rief ihr Vater besänftigend und nahm die Zügel kürzer. Joschi machte ein paar Galoppsprünge und fiel dann wieder in seinen üblichen gleichmäßigen Trab.

»Diese Dinger sind eine Plage«, schimpfte ihr Vater. »Sie machen Krach, stinken und kosten unnötig viel Geld für Treibstoff.«

Leah und Deborah wechselten einen Blick. Einige der jungen Leute bei den Amisch dachten anders über Automobile, manche besaßen sogar welche. Erst kürzlich hatte Leah in einer Zeitung einen Artikel über zwei junge Männer aus Mifflin gelesen, über die der Bann verhängt worden war, weil sie sich weigerten, ihre Fahrzeuge abzugeben.

»Ich würde zu gerne einmal in so einem Automobil fahren«, raunte Leah ihrer Schwester zu.

Deborah nickte. »Ich auch. Papa sagt immer, sie wären nicht viel schneller als ein Buggy, aber schau doch nur, wie weit es jetzt schon weg ist.«

Tatsächlich hatte das Fahrzeug einen beträchtlichen Vorsprung.

Leah seufzte. »Wenn wir so etwas hätten, könnten wir viel schneller in die Stadt kommen.«

»Und dort dem Müßiggang frönen.« Deborah kicherte leise. »Vielleicht hat die Gemeindeversammlung die Automobile deswegen verboten. Aus Angst, die Leute hätten dann zu viel Zeit.«

Eine halbe Stunde später zügelte ihr Vater das Pferd vor Peter Landers Stoffladen und ließ sie aussteigen.

»Ich fahre zum Eisenwarenhandel und hole euch danach wieder ab.«

Vor dem Laden stand ein Automobil, aber es sah anders aus als das, das sie überholt hatte.

Als sie eintraten, klingelte ein Glöckchen über der Tür.

Im Laden stand eine Frau in einem Kleid, das ihr nur bis zum Knöchel ging. Ihre Füße steckten in hochhackigen Schuhen aus glänzendem Leder. Auf dem Kopf trug sie einen breitkrempigen Hut, der mit einer künstlichen Blume verziert war. Sie drehte den Kopf, und ihr Blick wanderte von Leahs Haube über ihr schlichtes dunkelgraues Kleid zu ihren einfachen geschnürten Schuhen, die gegen ihre zierlichen Schühchen plump wirkten. Sie hob eine Augenbraue und wandte sich dann wieder dem Tisch zu, auf dem mehrere Ballen gemusterte Stoffe halb ausgerollt lagen.

An der Wand lehnte ein Mann im Anzug und drehte seinen Hut in den Händen. »Du wolltest Stoff für ein Ausgehkostüm kaufen und nicht deinen gesamten Kleiderschrank neu bestücken, Liebling. Also entscheide dich.«

»Aber ich kann mich nicht entscheiden«, klagte die Frau. »Der gestreifte hier ist wunderschön, aber ich weiß nicht, ob mir dieses Dunkelblau und Weiß steht. Vielleicht sollte ich doch besser den mit dem zartgrünen Karomuster nehmen?« Unschlüssig schob sie die Stoffe zusammen. »Wobei dieser dunkelrote auch sehr schön ist.«

Leah betrachtete die Auswahl an Stoffen, die vor der Frau ausgebreitet lag. Es waren bestimmt zehn verschiedene. Wie lange sie hier wohl schon stand? Wenn sie die Ungeduld in der Miene ihres Begleiters richtig deutete, ziemlich lange.

»Nimm den karierten«, sagte der Mann.

»Wirklich? Aber Streifen sind dieses Jahr viel moderner. Ich könnte aus dem gestreiften Stoff einen Rock machen lassen und aus diesem dunkelblauen die passende Jacke dazu, im Matrosenstil.«

»Kostüme im Matrosenstil sind in dieser Saison der letzte Schrei«, schaltete sich Mr. Landers ein. »Vielleicht möchte die Dame einen Blick in dieses Modemagazin werfen.«

Er holte ein Heft aus einer Schublade unter der Verkaufstheke. Leah warf einen Blick auf das Titelblatt, auf dem eine Frau in einem dunkelgrünen Mantel abgebildet war. Harper’s Bazar stand in Großbuchstaben darüber.

Mr. Landers legte das Heft auf den Tisch. »Lassen Sie sich Zeit«, sagte er. »Ich bin gleich wieder bei Ihnen.« Dann wandte er sich an Leahs Mutter. »Guten Tag Mrs. Hochleitner. Was kann ich für Sie tun?«

»Wir brauchen Stoff für ein Hochzeitskleid.«

»Oh, herzlichen Glückwunsch. Wer ist denn die Glückliche?«

»Meine Tochter Deborah.« Sie winkte Deborah heran.

»Nun, ich habe ein paar schöne Leinenstoffe hier.« Mr. Landers deutete auf das Regal mit den Ballen. »Welche Farbe darf es denn sein? Vorige Woche war Mrs. Wenger aus ...