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Wir sind nur noch wenige - Erinnerungen eines hundertjährigen Ritchie Boys

Wir sind nur noch wenige - Erinnerungen eines hundertjährigen Ritchie Boys

Guy Stern

 

Verlag Aufbau Verlag, 2022

ISBN 9783841229458 , 304 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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16,99 EUR

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Wir sind nur noch wenige - Erinnerungen eines hundertjährigen Ritchie Boys


 

Vorwort


Nachdem ich den unwiderruflich letzten Satz dieser Autobiographie in ihrer ersten, der englischen Fassung beendet hatte, dachte ich über einen passenden Titel nach. Drei kamen in die engere Wahl. Einer beschrieb Ereignisse, die meinem Leben immer wieder eine neue Richtung gaben – und davon gab es reichlich. Nur wenige dieser Vorkommnisse waren vorhersehbar. Ich nannte sie »Zufallsbegegnungen«, und für eine Weile dachte ich, mein Buch würde diesen Titel tragen.

Ich nenne hier nur eine Auswahl an Ereignissen, die diesen Titel so passend erscheinen ließen, um die Berg- und Talfahrt meines Lebens zu beschreiben; dazu gehören zahlreiche Zufallsbegegnungen mit Fremden, die an verschiedenen Wendepunkten auftauchten: Als ich 15 Jahre alt war, rettete mir die Begegnung mit einem gütigen amerikanischen Konsul das Leben. Meine Familie wurde ermordet, nachdem ein engstirniger Rechtsanwalt in St. Louis ihre Rettung vereitelte. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurden meine Pläne durcheinandergewirbelt. Eines der seltenen Treffen mit einem meiner militärischen Vorgesetzten, der im Zivilleben als Ressortleiter für die New York Times arbeitete, brachte mich nach New York. Ein kurzes Telefonat förderte den Aufenthaltsort eines lange vermissten Cousins zu Tage. Meiner Frau begegnete ich nur, weil man sie in letzter Minute überredet hatte, einen meiner Vorträge zu besuchen. Einen bis dahin unbekannten Zweig ihrer Familie machte ich ausfindig, indem ich mich eines Nachts in der Schweiz nahe Locarno verlief. Als ich diese Autobiographie schrieb, holten mich ferne Kriegserinnerungen ein, ausgelöst durch die Zufallsbegegnung mit einem britischen Gentleman, der früher in Bristol gelebt hatte: Wie wir die größte Invasion in der Geschichte vorbereiteten, tauchte in allen Einzelheiten wieder in meiner Erinnerung auf. Anders als Einstein meint, würfelt Gott – oder ist es das Schicksal? – vielleicht doch.

Eine andere Titelidee lautete: »Von Leben, Leid, Liebe und Literatur«, daran gefiel mir vor allem der wohlklingende Stabreim. Während meines langen und ereignisreichen Lebens bin ich von vielen Weggenossen überreich mit Liebe beschenkt worden. Für viel zu kurze Zeit überwiegend von Eltern und Geschwistern. Mein Leid lässt sich mit dem Holocaust und dem viel zu frühen Tod meines Sohnes Mark und meiner Frau Judy zusammenfassen. Was die Literatur angeht, so tauchte ich schon als Kind in die Bücherwelt ein. Ich wurde Professor für Literatur, und Literatur hielt mich auch als Emeritus fest im Griff. Sprache war die Leidenschaft meines Lebens und Rettungsring zugleich. Die Fähigkeit, mit Worten zu überzeugen, hat sich mein ganzes Leben hindurch in gefährlichen Situationen als hilfreich erwiesen. Zum Beispiel gelang es mir während meiner Zeit als Dekan in den 1960er Jahren, einen eskalierenden Studentenaufstand zu beruhigen, indem ich an die Vernunft der Protestierenden appellierte. Viele Jahre zuvor, 1937, stand ich vor einem US-amerikanischen Konsularbeamten und bat ihn um ein Visum für Amerika als Zufluchtsort. Damals 15 Jahre alt, stammelte ich die richtigen Antworten auf seine Fragen in leidlichem Englisch, erhielt den nötigen Stempel in meine Papiere und entging dadurch dem Schicksal meiner Großmutter und meiner Eltern und Geschwister – sie alle kamen im Holocaust um.

Immer war mir Sprache Stütze und Inspiration, Arbeit und Muße, Leitstern und Liebe. Neue Wörter haben mich stets fasziniert: Als Kind saugte ich sie auf wie ein Schwamm und brachte manchmal die Erwachsenen mit meinem reifen Wortschatz aus der Fassung. Die Besitzer der Zigarrengeschäfte in meiner Vaterstadt Hildesheim, die wir Kinder unaufhörlich wegen Sammelbildern nervten, verscheuchten meine Spielkameraden meistens barsch aus ihren Läden. Aber mich hörten sie oft an, wahrscheinlich, weil meine gehobene Ausdrucksweise sie amüsierte. Und so landeten etliche der begehrten Karten mit Bildern von Autos, Tieren, Länderflaggen und Städten in meinen Alben.

Zwei Quellen speisten meinen unersättlichen Appetit auf sprachliche Leckerbissen: Zum einen las ich mich quer durch alle Regale und verschlang alles von Cowboygeschichten bis zu deutschen Klassikern. Aber wichtiger noch waren die beständigen Gespräche mit meiner Mutter. Mein Deutsch ist im wahrsten Sinne des Wortes meine Mutter-Sprache. Sie war eine unerhört kluge Frau mit einem unfehlbaren Gespür für das richtige Wort. In unserer ganzen weitverzweigten Familie war sie die Gelegenheitsdichterin. Anlässlich meiner Bar Mizwa stellte sie ein umfangreiches Gedichtalbum zusammen, in dem sie liebevoll die Eigenheiten aller Abendgäste – und es waren einundzwanzig – aufs Korn nahm. Auch mich verschonte sie nicht: »Zigarrentabak schmeckt auch aus der Pfeife.« Ich hatte einmal eine der Zigarren, die mein Vater für Kunden bereithielt, aufgedröselt und aus einer tönernen Spielzeugpfeife zu rauchen versucht.

Mein eigenes Bemühen, jemanden zu veräppeln, konnte viel zügelloser ausfallen, so bei der einzigen – und ziemlich beschämenden – Begegnung mit Ausländern in meiner Kindheit. Offenbar waren wir Hildesheimer wohl etwas provinziell und fremdenfeindlich. Eines Tages, ich war 14 Jahre alt, begegnete ich zwei jungen französischen Damen, die elegant angezogen und sorgfältig geschminkt waren. Sie überquerten den Marktplatz vor der St.-Andreas-Kirche. Eine beträchtliche Anzahl von Jugendlichen und Erwachsenen umkreiste sie wie Satelliten. Noch nie hatten wir geschminkte Frauen gesehen, und darum ließen wir um die Wette witzige (nein, ehrlich gesagt: dämliche) Kommentare los. Ich selber bot den Damen meinen Malkasten an. Wenn ich an diesen Jugendstreich zurückdenke, färbt sich mein Gesicht röter, als das Rouge auf den Wangen der beiden armen Französinnen. Aber mein Sprach-Gusto wurde bei dieser Gelegenheit befriedigt. Eine der Damen antwortete mit einem Ausdruck, den ich im Französischunterricht noch nicht gehört hatte. »Ta gueule«, sagte sie zu mir. Als ich den Marktplatz verließ, dämmerte mir, was mir da energisch gesagt worden war: »Halt’s Maul!« Natürlich war ich erst einmal betreten. Aber zuletzt war ich stolz wie Oskar: Ich hatte einen Ausdruck gelernt, der in meiner Französischstunde verpönt gewesen wäre. Nur ein Jahr später wurde ich wie meine jüdischen Mitbürger zum Ziel von Beleidigungen.

Als ich 14 Jahre alt wurde, nahmen meine Eltern mich zu Stücken für Erwachsene in unserem Stadttheater mit. Ich kann mich noch immer an vereinzelte Szenen erinnern, so aus einem Drama mit dem Titel Onkel Bräsig. Ich weiß noch, dass der Darsteller der Titelrolle immer dann aufs Hinterteil plumpste, wenn man es am wenigsten erwartete, und ich habe die komische Aufforderung behalten, die er dauernd seinem Freund an den Kopf warf: »Dass du die Nas’ ins Gesicht behältst!« Ich begriff nicht, warum sich das Publikum an dieser Stelle vor Lachen ausschüttete. Aber da mag etwas Zweideutiges im Text oder im Spiel gewesen sein, das sich dem Verständnis des Vierzehnjährigen entzog.

Kein Zweifel, meine Besuche im Hildesheimer Stadttheater waren eine gute Vorbereitung für ein Leben als Literaturprofessor. Hätten meine Eltern weiterleben dürfen – sie wären stolz darauf gewesen, welchen Beruf ich ergriff und was ihre prägende Rolle dabei gewesen war. Das macht mich natürlich traurig, aber unendlich viel mehr quält es mich, wenn ich mir vorstelle, wie sie, die die deutsche Sprache liebten, ebendiese Sprache wahrscheinlich in den Momenten vor ihrem Tod durch Mörderhand in ihrer niederträchtigsten Form zu hören bekamen. Ein Satz, den mein verstorbener Kollege Robert Kahn von der Rice-University prägte, drückt das kurz und bündig aus: »Ich hasse die Sprache, die ich liebe.«

Ich kann nur mutmaßen, wie meine Eltern oder mein Bruder Werner oder meine Schwester Eleonore »liquidiert« worden sind, um es im Nazi-Jargon zu sagen. Auch Werner wird wohl bei seinem Tod die geliebte und verhasste Sprache gehört haben. Es war das Todesurteil für ihn mitsamt seinen jugendlichen Traumvorstellungen. Als ich mich von dem knapp Elfjährigen verabschiedete, konnte ich seine Talente noch gar nicht ermessen. Aber vor Jahren erhielt ich den Brief eines mir unbekannten Arztes im Ruhestand aus dem Rheinland: »Ich war ein Klassenkamerad Ihres Bruders am Gymnasium Josephinum in Hildesheim. Ich muss Ihnen sagen, im Sport war Ihr Bruder eher linkisch. Aber immer, wenn unser Deutschlehrer...