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Unterwegs im weiten Land - Gespräche über die Psyche

Unterwegs im weiten Land - Gespräche über die Psyche

Dagmar Weidinger

 

Verlag Picus, 2022

ISBN 9783711754684 , 220 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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19,99 EUR

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Unterwegs im weiten Land - Gespräche über die Psyche


 

VERENA KAST

Gefühle sind unsere Orientierung


Die Schweizer Tiefenpsychologin Verena Kast ist die große »Gefühlslehrerin« im deutschsprachigen Raum und weit darüber hinaus. Ihre mehr als fünfzig Bücher zu Freude, Angst, Wut et cetera sind Klassiker der psychologischen Literatur. Im Gespräch berichtet sie nicht nur über ihre »Lieblingsgefühle«, sondern auch darüber, wie es um unsere Akzeptanz des Fremden bestellt ist – und warum Schnelligkeit eine Gefahr für die Seele ist.

Frau Kast, in Ihren Büchern erklären Sie Ihren Lesern ihre Gefühle. Mir fällt, auf, dass Sie sich dabei besonders oft mit zwei Emotionen befassen: der Freude und dem Ärger – warum?

VERENA KAST: Angefangen habe ich eigentlich mit der Trauer. Und ich habe mich auch sehr intensiv mit der Angst beschäftigt. Aber sie haben schon recht, dass diese beiden Emotionen, Freude und Ärger, im zwischenmenschlichen Zusammensein eine besondere Rolle spielen. Im Kontakt mit anderen kommt man nicht darum herum, mit seinem Ärger umgehen zu lernen. Und Freude finde ich deshalb so wichtig, da sie eine komplett unterschätzte Emotion ist. Wir Menschen freuen uns eigentlich viel zu wenig, zumindest wir Erwachsenen. Kinder können das meistens noch recht gut, sie strahlen einen oft so richtig herzlich an.

Ich habe mich vor unserem Gespräch ein bisschen in den Gassen umgeschaut: Die Touristen strahlen, die Einheimischen strahlen überhaupt nicht. Die Wiener machen Gesichter, als ob sie einen fast auffressen wollten! Natürlich lange nicht alle, aber doch so einige, oder? Dabei gibt es mittlerweile neurowissenschaftliche Forschungen, die belegen, dass wir das Bindungshormon beziehungsweise den Neurotransmitter Oxytocin ausschütten, wenn wir von einem anderen Menschen freundlich angeschaut werden. Ein freundlicher Blick heißt eigentlich immer: Ich nehme dich wahr. Das ist eine Wertschätzung, die einem ein gutes Gefühl gibt. Früher dachte man, dass die Oxytocin-Ausschüttung nur mit Geburt oder Sex zu tun hat. Heute weiß man, dass es dabei auch wesentlich ums Streicheln und um Freundlichkeit geht. Man hat außerdem festgestellt, dass Oxytocin bewirkt, dass wir friedlicher werden und weniger Stress haben.

Jedes Mal, wenn ich beim Kiosk vorbeigehe, lachen mir aber mindestens zwanzig »glückliche« Frauen auf Titelblättern von Magazinen entgegen. Das passt doch gar nicht zu dem, wie Sie die Wiener beschreiben …

Da sprechen Sie ein ganz großes Problem an, das wir heute mit der Freude haben. Sie taucht nämlich an vielen Orten auf, an denen sie eigentlich gar nicht vorhanden ist. Heutzutage muss man gut aufgestellt und immer gut drauf sein, was so viel bedeutet wie: Ich freue mich ständig. Dabei ist das oft emotional überhaupt nicht gedeckt. Ich treffe durchaus freudige Menschen, aber viele benutzen das einfach wie ein Vokabel, eine Worthülse. Im Sport sieht man den Gebrauch dieser Worthülse besonders gut. Jeder Fußballer, der vor einem Spiel interviewt wird, verkündet groß: Ich freue mich unheimlich auf das Match.

Aber kommen wir zurück zur echten Freude. In der Freude sind wir einverstanden mit uns, mit den anderen, dem Leben, der Welt. Wir haben mehr bekommen als erwartet. Freude ist die Emotion, die auch Solidarität bewirkt. Wenn wir uns miteinander freuen, können wir miteinander etwas bewirken. In solchen Momenten verbrüdern und verschwestern wir uns ganz leicht. In der Freude sind wir auch noch nicht so neidisch, das kommt erst hinterher.

Sie haben einmal den Satz geschrieben »Wir könnten es doch alle so viel leichter miteinander haben …«. Würde der zum eben Angesprochenen passen? Beziehungsweise führt der Weg in Richtung einer solidarischen Gesellschaft demnach über die Freude?

Dieser Satz gefällt mir auch noch immer sehr gut. (lacht) Den habe ich darauf bezogen, dass wir Menschen einander immer wieder den Selbstwert kaputtmachen. Wir müssten wirklich dringend lernen, freundlicher miteinander umzugehen. In der Freude schauen wir einander freundlich an. Sartre hat in » Das Sein und das Nichts« eine ganz wunderbare Geschichte des Angeblickt-Werdens verfasst. Er beschreibt darin den beschämenden Blick der Großeltern, der immer im Raum ist, sogar wenn diese nicht anwesend sind. Unter diesem Blick zerbröselt man. Ist das nicht auch der Blick, den wir einander oft zuwerfen: Du solltest dich eigentlich schämen. Das zerbröselt den Selbstwert und tötet die Freude. Der Philosoph Emmanuel Lévinas hat jedoch eine Antwort auf Sartre geschrieben: Ja, das stimmt, aber die Mitmenschen haben nicht nur diesen kritischen, zerstörerischen Blick, sondern eben auch den freundlichen Blick. Dessen sollten wir uns im Alltag mehr bewusst sein.

Wie sieht in diesem Zusammenhang der gesellschaftliche Auftrag der Psychotherapie aus?

Wenn Sie so fragen, heben Sie viel zu sehr auf die gesellschaftliche Ebene ab. Man muss sich schon klar darüber sein, dass jede Form der Tiefenpsychologie zuerst einmal auf den einzelnen Menschen abzielt. Uns Tiefenpsychologen wurde jahrelang der Vorwurf gemacht, wir hätten die Welt nicht verändert, aber wer von uns ist schon in der Politik!?

Aber hätte nicht gerade die Jung’sche Psychologie einige Konzepte zu bieten, die von großer gesellschaftlicher Relevanz sind? Ich denke da etwa an den »kollektiven Schatten«. So wie Individuen lieber wegschauen, wenn es um Eigenschaften geht, die sie nicht an sich schätzen, hat laut Jung auch jede Gesellschaft gewisse Themen, die sie unterdrückt beziehungsweise nicht hochkommen lässt. Allein dieses Wissen könnte doch zu Veränderung führen, oder verlange ich da zu viel?

Sie sind jung, Sie dürfen noch viel verlangen! (lacht) Aber ich gebe Ihnen im Grunde genommen recht: Wenn genug Menschen eine veränderte Einstellung haben, dann ist auch Bewegung möglich. Dazu brauchen wir eigentlich nur unseren Umgang mit Ärger zu betrachten. Die Tiefenpsychologie sagt: Wer sich ärgert, glaubt noch daran, dass man die Welt verändern kann. Ärger zeigt uns, dass Menschen über unsere Grenzen gehen, oder dass wir unsere Grenzen nicht erweitern dürfen. Andere Menschen dürfen uns aber weder in unserer Integrität angreifen noch an unserer Entwicklung hindern. Würde man allein dieses Wissen ernst nehmen, hätte das bereits gravierende Auswirkungen auf die Gesellschaft.

Veränderung braucht also eine verärgerte Masse: Sind dann die »Wutbürger« die Zukunft der modernen Demokratien?

Es kommt darauf an, was die Wutbürger mit ihrer Wut machen. Wenn man diese Wut in Selbstwirksamkeit umwandeln kann, dann macht das durchaus Sinn. Manchmal bekommt man erst durch den Ärger die nötige Energie, um eine Sache anzugehen. Ich habe die Wutbürger bisher jedoch eher als große Kritiker erlebt, die einfach sagen: »Alles ist scheiße!« Aber wenn alles scheiße ist, verändert man auch nichts. Das rutscht so leicht ins Jammern ab, und dadurch fühlt man sich eigentlich nur selbst furchtbar schlecht. Das Ganze sollte schon an eine positive Vision gekoppelt sein, Dagegensein alleine reicht nicht aus!

Kehren wir noch einmal zurück zum gesellschaftlichen Schatten. Wer sind denn die Schattenträger unserer Zeit, also jene Personen, denen all das zugeschrieben wird, was wir als Gesellschaft ablehnen?

Bei uns in der Schweiz sind das ganz klar die Geflüchteten. Der gesellschaftliche Schatten fällt immer auf die Fremden und das Fremde. Das ist natürlich eine Beunruhigung, die man nachvollziehen kann. Ich glaube, es hat noch selten so eine Völkerwanderung gegeben wie heute. Deshalb hatten wir auch in der Schweiz diese furchtbare Abstimmung (Volksinitiative »Stopp der Überbevölkerung», 2014, Anm.), in der es meiner Meinung nach um teilweise unmenschliche Ideen ging. Eines kommt dabei ganz klar heraus: Wir sind die guten Schweizer, die Nachfolger von Wilhelm Tell, und die Geflüchteten sind die Schmarotzer, die uns unseren Wohlstand wegnehmen wollen. So denkt zwar nicht die ganze Schweiz, aber es sind zu viele, die mittlerweile so denken. Das ganze Leid, das hinter den Geflüchteten steht, wird überhaupt nicht gesehen. Ich finde, wir behandeln sie gerade so, dass man sich nicht schämen muss.

Ich gehöre zur Gruppe der relativ fremdenfreundlichen Schweizer, und mir fällt auf, dass auch schon diese Gruppierung den Schatten abbekommt. Die fremdenfeindlichen Leute, die im Moment die Abstimmungen anleiern, sagen uns knallhart ins Gesicht: »Wir sind die richtigen Schweizer! Ihr seid die falschen Schweizer. Wir wollen die Schweiz bewahren, und ihr seid die Landesverräter!«

Was bedeutet in diesem Zusammenhang »Schattenakzeptanz«?

Schattenakzeptanz würde bedeuten, dass man überhaupt Schatten erkennen kann und weiß: Ich bin mir selber auch fremd. Ich habe ebenso Aspekte, die mir nicht gefallen an mir. Mit den Geflüchteten kommt ganz...