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Brick Lane - Roman

Brick Lane - Roman

Monica Ali

 

Verlag Klett-Cotta, 2022

ISBN 9783608118346 , 544 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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Brick Lane - Roman


 

1.


Mymensingh District,
Ostpakistan 1967

Eine Stunde und fünfundvierzig Minuten bevor Nazneens Leben begann – es begann, wie es für einige Zeit auch weitergehen sollte, das heißt ungewiss –, spürte ihre Mutter Rupban, wie eine eiserne Faust ihren Bauch zusammenpresste. Rupban saß auf einem niedrigen dreibeinigen Schemel vor der Küchenhütte. Sie rupfte ein Huhn, weil Hamids Cousins aus Jessore gekommen waren und ein Fest gefeiert werden sollte. »Cheepy-cheepy, du bist alt und zäh«, sagte sie und nannte den Vogel wie immer beim Namen, »aber ich will dich essen, verdorbener Magen hin oder her. Und morgen gibt’s nur gekochten Reis, keine Parathas.«

Sie rupfte noch mehr Federn aus und sah zu, wie sie um ihre Zehen schwebten. »Aaah«, sagte sie. »Aaaah. Aaaah.« Dinge stießen ihr zu. Seit sieben Monaten schwoll sie an wie eine Mango am Baum. Sieben Monate erst. Sie schob die Dinge, die ihr zustießen, beiseite. Eine Weile – eineinhalb Stunden lang, aber das wusste sie nicht –, bis die Männer von den Feldern heimkehrten, verstaubt und mit leerem Magen, hielt sich Rupban an Cheepy-cheepys schlaffem, magerem Hals fest und erwiderte auf alle Nachfragen, wo das Huhn bleibe, nur ich komme, ich komme. Die Schatten der Kinder, die Murmeln spielten und einander anrempelten, wurden lang und spitz. Der Duft nach geröstetem Kreuzkümmel und Kardamom wehte über den Hof. Die Ziegen meckerten in hohen kraftlosen Tönen. Rupban schrie weiße Hitze, rotes Blut.

Hamid rannte aus der Latrine, obwohl er sein Geschäft noch nicht erledigt hatte. Er rannte über die Gemüsebeete, an den Türmen aus Reishalmen vorbei, die höher waren als das höchste Gebäude, den unbefestigten Weg entlang, der um das Dorf herumführte, zu seinem Hof und griff nach einem Knüppel, um den Mann umzubringen, der offensichtlich seine Frau umbrachte. Er wusste, dass sie es war. Wer sonst konnte mit einem Schrei Glas zum Bersten bringen? Rupban war in der Schlafhütte. Die Bettrolle war ausgebreitet, sie selbst stand noch. Mit einer Hand klammerte sie sich an Mumtaz’ Schulter, in der anderen hielt sie ein halb gerupftes Huhn.

Mumtaz winkte Hamid ab. »Lauf! Hol Banesa! Worauf wartest du? Auf eine Rikscha? Na los, lauf schon.«

Banesa hielt Nazneen an einem Knöchel hoch, stieß zwischen den zahnlosen Kiefern Luft hervor und blies verächtlich über den winzigen blauen Körper. »Sie will nicht einen Atemzug tun. Manche Menschen meinen, unbedingt ein paar Takas sparen zu müssen, und holen keine Hebamme.« Sie schüttelte den haarlosen, runzligen Kopf. Banesa behauptete, einhundertzwanzig Jahre alt zu sein, und das seit mindestens einem Jahrzehnt. Da sich niemand im Dorf an ihre Geburt erinnerte und da Banesa vertrockneter war als eine alte Kokosnuss, trat niemand dieser Behauptung entgegen. Sie behauptete zudem, eintausend Babys auf die Welt gebracht zu haben, von denen nur drei verkrüppelt und zwei Mutanten waren (ein Hermaphrodit und ein Buckliger), eins war eine Totgeburt und ein anderes eine Affe-Eidechse-Hybride-Sünde-gegen-Gott-die-lebendig-tief-im-Wald-vergraben-wurde-und-die-Mutter-wurde-Gott-weiß-wohin-geschickt. Nazneen, offenbar tot, konnte nicht zu diesen Fehlschlägen gezählt werden, da sie geboren worden war, kurz bevor Banesa sich in die Hütte schleppte. »Schau dir deine Tochter an«, sagte Banesa zu Rupban. »Von oben bis unten perfekt. Sie hätte nur jemanden gebraucht, der ihr den Weg in die Welt erleichtert hätte.« Sie schielte nach Cheepy-cheepy, der neben der unglücklichen Mutter lag, und saugte die Backen ein; ein hungriger Blick vergrößerte ein wenig ihre Augen, die zwischen Runzeln vergraben waren. Seit vielen Monaten hatte sie kein Fleisch mehr gegessen, da ihr zwei junge Mädchen (sie hätte sie bei der Geburt erwürgen sollen) Konkurrenz machten.

»Ich will sie für die Beerdigung waschen und anziehen«, sagte Banesa. »Natürlich sind meine Dienste umsonst. Vielleicht nur das Huhn für meine Mühen. Es sieht alt und zäh aus.«

»Ich will sie halten«, sagte Nazneens Tante Mumtaz und weinte.

»Ich dachte, ich hätte mir den Magen verdorben«, sagte Rupban und fing ebenfalls an zu weinen.

Mumtaz griff nach Nazneen, die noch immer am Knöchel baumelte, und spürte, wie ihr der kleine glitschige Torso durch die Finger glitt und mit einem Schrei auf der blutbefleckten Matratze landete. Mit einem Schrei! Mit Geplärr! Rupban nahm sie in den Arm und gab ihr einen Namen, bevor sie erneut namenlos sterben konnte.

Banesa machte leise schmatzende Geräusche mit den Lippen. Mit dem Ende ihres vergilbten Saris wischte sie sich Spucke vom Kinn. »So etwas nennt man Todesröcheln«, erklärte sie. Die drei Frauen brachten die Gesichter nahe an das Kind. Nazneen fuchtelte mit den Armen herum und plärrte, als könnte sie diesen erschreckenden Anblick sehen. Sie war nicht länger blau, sondern wurde allmählich braun und lila. »Gott hat sie auf die Erde zurückgeholt«, sagte Banesa und blickte angewidert drein.

Mumtaz, die Banesas ursprüngliche Diagnose zu bezweifeln begann, sagte: »Hat Er sie nicht vor ein paar Minuten zu uns geschickt? Meinst du, dass Er Seine Meinung alle paar Sekunden ändert?«

Banesa murmelte etwas vor sich hin. Sie legte die Hand auf Nazneens Brust, ihre Finger glichen den Wurzeln eines alten Baums, die sich aus dem Erdreich herausgegraben hatten. »Das Baby lebt, aber es ist schwach. Du hast jetzt zwei Möglichkeiten«, sagte sie und wandte sich dabei ausschließlich an Rupban. »Du kannst sie in die Stadt in ein Krankenhaus bringen. Sie werden Drähte an ihr anschließen und ihr Medizin geben. Das wird sehr teuer. Du wirst deinen Schmuck verkaufen müssen. Oder du wartest ab, wie sich das Schicksal entscheiden wird.« Sie drehte sich kurz zu Mumtaz um, um sie mit einzuschließen, dann wandte sie sich wieder an Rupban. »Selbstverständlich wird das Schicksal letztlich den Ausschlag geben, gleichgültig, welchen Weg du nimmst.«

»Wir werden sie in die Stadt bringen«, sagte Mumtaz, und auf ihren Wangen erblühten trotzige rote Flecken.

Aber Rupban, die nicht aufhören konnte zu weinen, drückte ihre Tochter an die Brust und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, »wir dürfen uns dem Schicksal nicht in den Weg stellen. Was immer passieren wird, ich akzeptiere es. Und mein Kind soll keine Kraft verschwenden und gegen das Schicksal kämpfen. Auf diese Weise wird es stärker.«

»Gut, dann ist es geregelt«, sagte Banesa. Sie blieb noch kurz, weil sie vor Hunger am liebsten das Baby gegessen hätte, aber nach einem Blick von Mumtaz schlurfte sie zurück zu ihrer Bruchbude.

Hamid kam, um sich Nazneen anzusehen. Sie lag in ein Mulltuch gewickelt auf einem alten Jutesack auf der Bettrolle. Ihre Augen waren geschlossen und geschwollen, als wäre sie zweimal fest geschlagen worden.

»Ein Mädchen«, sagte Rupban.

»Ich weiß. Macht nichts«, sagte Hamid. »Was kann man machen?« Und dann ging er wieder.

Mumtaz kam mit einem Blechteller voll Reis, Dal und Hühnercurry herein.

»Sie trinkt nicht«, sagte Rupban. »Sie weiß nicht, wie es geht. Wahrscheinlich ist es ihr Schicksal zu verhungern.«

Mumtaz verdrehte die Augen. »Morgen wird sie trinken. Iss jetzt was. Sonst wirst du auch verhungern.« Sie lächelte in das kleine traurige Gesicht ihrer Schwägerin, deren Miene wie immer von Trauer um alles, was bereits geschehen war und noch geschehen würde, zeugte.

Aber auch am nächsten Morgen trank Nazneen nicht. Ebenso wenig am Tag darauf. Am folgenden Tag wandte sie das Gesicht von der Brustwarze ab und gab würgende Geräusche von sich. Rupban, die berühmt für ihre nie versiegenden Tränen war, konnte die Nachfrage kaum befriedigen. Leute kamen: Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, Brüder, Neffen, Nichten, Schwiegerleute, Frauen aus dem Dorf und Banesa. Die Hebamme schleifte ihre krummen Beine über den harten Lehmboden der Hütte und betrachtete das Baby. »Ich habe von einem Kind gehört, das nicht bei seiner Mutter getrunken hat, sondern von einer Ziege gesäugt wurde.« Sie lächelte und entblößte ihr schwarzes Zahnfleisch. »Das war selbstverständlich keins von meinen Babys.«

Hamid schaute ein-, zweimal vorbei, aber nachts schlief er draußen auf einem Choki. Am fünften Tag, als Rupban wider Willen zu wünschen begann, das Schicksal möge sich beeilen und eine Entscheidung fällen, schloss Nazneen den Mund um eine Brustwarze, so dass tausend rotglühende Nadeln in Rupbans Brust stachen, und sie schrie auf vor Schmerz und – redliche und geduldige Frau, die sie war – vor Erleichterung.

Während Nazneen heranwuchs, hörte sie viele Male die Geschichte Wie-du-deinem-Schicksal-überlassen-wurdest. Dank der klugen Entscheidung ihrer Mutter überlebte Nazneen und wurde zu einem breitgesichtigen aufmerksamen Mädchen. Gegen das eigene Schicksal anzukämpfen kann das Blut schwächen. Oft oder vielleicht auch meistens hat es den Tod zur Folge. Kein einziges Mal stellte Nazneen die Logik der Geschichte Wie-du-deinem-Schicksal-überlassen-wurdest in Frage. Im Gegenteil, sie war dankbar für den stillen Mut ihrer Mutter und ihren tränenreichen Stoizismus, den sie nahezu täglich unter Beweis stellte. Hamid sagte – er blickte immer weg, wenn er das sagte –, deine Mutter ist eine geborene Heilige. Sie stammt aus einer Familie von Heiligen. Und als ihre Mutter ihr riet, im Geist und im Herzen ruhig zu sein, die Gnade Gottes anzunehmen, das Leben mit der gleichen Indifferenz zu behandeln, mit der das Leben sie behandeln würde, hörte Nazneen aufmerksam zu, den...