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Milch Blut Hitze - Storys

Milch Blut Hitze - Storys

Dantiel W. Moniz

 

Verlag Verlag C.H.Beck, 2022

ISBN 9783406781582 , 230 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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17,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet freigegeben

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Milch Blut Hitze - Storys


 

MILCH BLUT HITZE


I. Monster 


«Rosa ist die Farbe für Mädchen», sagt Kiera. Ava und sie ritzen ihre Handflächen an und lassen das Blut in eine flache Schale Milch tropfen, beobachten, wie sich die Farbe langsam auf der Oberfläche ausbreitet, kleine rote Blumen blühen lässt. Ava betrachtet Kiera. Wie still sie ihre Hand hält – als sei sie es gewohnt, sich aufzuritzen. Sonnenlicht scheint zum Küchenfenster herein und bringt Kieras Locken zum Leuchten. Ihr Mund ist ein gerader, schmaler Strich, aber ihre Augen sind groß, grüngelb, weit offen. Seltsame Augen, sagt Avas Mutter immer und macht das verkniffene Gesicht, mit dem sie sonst die Haarknäuel aus dem Abfluss fischt.

Die Mädchen sind bei Kiera zu Hause, weil deren Eltern die Meinung vertreten, Kinder sollten sich «frei ausleben»; hier dürfen sie auf Bäume klettern und Frösche fangen und stundenlang auf dem Wohnzimmerboden herumlungern, auf den Polstern, die sie vom Sofa gezogen haben, dürfen Zeichentrickserien gucken und dabei zuckersüße Frühstücksflocken aus Rührschüsseln futtern. Bei Ava zu Hause sind sie mal zu wild, mal zu faul und rauben ihrer Mutter den letzten Nerv. Avas Mutter mag Kiera nicht, aber sie sind jetzt seit zwei Monaten beste Freundinnen. Ende August, als die achte Klasse anfing, stellte Kiera sich im Sport neben Ava und sagte: Ich habe das Gefühl, ich ertrinke, und weit und breit war kein Wasser in Sicht. Ava wusste genau, was sie meinte. So fühlte sie sich auch manchmal – wie Blei, wie von der Luft abgeschnitten, aber darüber zu reden, war schwierig, besonders mit ihrer Mutter. Wenn sie es benennen wollte, war es, als müsse sie sich die Worte aus dem Bauch ziehen, Eimer für Eimer, endlos mühsam, und am Ende drückten sie doch nie das aus, was sie eigentlich sagen wollte.

In vielem ähneln Kiera und sie sich auch nicht – je nachdem, welche Mutter man fragt, ist die Geschichte der beiden eine andere –, und Ava überlegt oft, ob sie nur so verschieden sind, weil Kiera weiß ist, oder ob es da noch etwas anderes gibt. Etwas unter der Haut. Seit diesem Jahr ist sie besessen von Doppeldeutigkeiten, davon, dass man ein und dieselbe Sache von zwei ganz unterschiedlichen Seiten betrachten kann: Kieras undurchdringliche, wunderschöne Augen; ihre eigene Traurigkeit, eingebildet und lebendig zugleich.

«Hol einen Löffel», sagt Kiera, und Ava schnappt sich einen Kochlöffel mit Schlitzen darin aus der Schublade. Sie verrührt Milch und Blut, bis alles den gewünschten Farbton hat, das Rosa von Kieras Lippen, eine sanfte Farbe der Hoffnung. Sie setzen die Schale an den Mund, immer abwechselnd, einen Schluck nach dem anderen, bis nichts mehr übrig ist. Mit dem Arm wischen sie sich den rosa Milchschaum aus dem Gesicht und sitzen einen Augenblick still da, feierlich angesichts dessen, was sie gerade getan haben.

«Blutschwestern», murmelt Ava und fühlt sich, als sei die Zeit dehnbar geworden – noch so ein Gefühl, das sie nicht erklären kann. Sie stellt sich vor, wie Kieras Blut von ihrem Körper aufgenommen wird und die Haut des Dünndarms durchdringt, wie sie es sich einverleibt, bis es keinen Unterschied mehr gibt zwischen ihrem eigenen und dem Blut ihrer Freundin.

Jetzt wird abgerechnet, zumindest brüllen sie das, als sie auf den künstlich angelegten Teich hinter Kieras Haus zustürmen, Grasbüschel hochkicken und die Hunde der Nachbarschaft aufschrecken, die ein lautes Geheul anstimmen. Die Mädchen schmeißen Kiesel ins Wasser. Sie sehen den flüchtenden Kaulquappen hinterher und zählen die Ringe an der Wasseroberfläche.

«Rennt, ihr kleinen Schisser!», droht Kiera mit einer hohen, grässlichen Stimme wie eine Schauspielerin in einem schlechten Horrorfilm. Ava stampft schnaubend im flachen Wasser herum; ihre Sneakers hat sie nicht ausgezogen, in den Socken steht der Teichschlamm, zwischen ihren Zehen schmatzt das Wasser. Sie ist Frankensteins Monster. Sie ist die Königin der Vampire. Sie ist gerade dreizehn geworden, ausgehöhlt und neu gefüllt mit Gift und Staubwolkenträumen. Sie wirft den Kopf in den Nacken und heult die Sonne an, tut so, als sei es ein geheimnisvoller, brennender Mond und als gäbe es keine andere Welt als diese hier, in der sie und Kiera leben.

Kiera lässt sich ans Ufer fallen, zieht die Beine an die Brust, schlingt die Arme um die Knie und beobachtet Ava. Die Hände hängen an ihren schmalen Handgelenken wie Klauen. Sie lacht, als Ava vor ihr posiert, die Hüften in den unmöglichsten Winkeln dreht und die Augen zu Schlitzen verzieht. Kiera formt mit den Fingern ein Rechteck und tut so, als würde sie Fotos machen, sie wirft sich auf den Bauch, um auch wirklich das perfekte Bild einzufangen.

«Du bist ein sexy Monster!», schreit sie, flitzt für eine Nahaufnahme zum Teichrand, lässt das Wasser spritzen, sodass die Tröpfchen einen Augenblick als Regenbogen in der Luft hängen. «Sag’s mir! Du bist es!»

«Ich bin ein sexy Monster!», brüllt Ava und bleckt die Zähne. Kiera zieht sie an den Armen, und sie fallen übereinander ins Gras, ein kicherndes Mädchenbündel. Sie schnappen nach Luft und warten. Dass ihre Herzen aufhören, so zu hämmern, dass die Hitze aus ihren Gesichtern weicht. Sie warten darauf, dass das Heulen, dem sie keine Stimme geben, verstummt. Doch das wird es nie. Es beruhigt sich, wird ein kaum zu hörendes Schnurren, das hinter ihren Rippen und in der Haut zwischen ihren Fingern zu Hause ist.

Ava weiß, dass sie ein Monster ist, zumindest fühlt sie sich so: unnatürlich und fremd in ihrem eigenen Körper. Als sie noch keine dreizehn war, wusste sie nicht, dass man Leere mit sich herumtragen kann. Aber wer hat die Leere in ihren Körper gesteckt? Manchmal fragt sie sich, ob dieses Gefühl je wieder weggehen wird, in anderen Augenblicken will sie es nie wieder hergeben. Es ist etwas, das ihr ganz allein gehört.

Kiera richtet sich auf und wischt über Avas nasse Sneakers.

«Deine Mom bringt dich um.»

Die Mädchen rennen ohne Schuhe weiter, sie flüchten sich in den Schatten des Wäldchens hinter dem Teich, die nackten Füße drücken sich in die kühle, lockere Erde. Sie geben keinen Mucks von sich, wenn sich die Spitzen abgebrochener Zweige oder Eicheln ins weiche Fleisch ihrer Fußsohlen bohren. Sie beißen die Zähne zusammen und rennen weiter. Sie schlucken den Schmerz.

Auf einer Lichtung, wo die Sonne bis zum Boden hinabscheint, finden sie einen toten Vogel auf dem Rücken, einen wunderschönen Rotkardinal, die zarten, zerbrechlichen Krallen in die Luft gestreckt. «Nicht anfassen», sagt Kiera und beugt sich so dicht darüber, dass die Spitze einer abgeknickten Feder fast ihre Nase streift. «Vogelgrippe.» Aber sie beugen sich beide hinunter, ganz nah, und atmen den Tod tief ein.

Ava möchte mit dem Finger über die weichen schwarzen Federn rund um den Schnabel fahren. Sie ist neidisch auf das offene, hohle Auge, die vollkommene Reglosigkeit des kleinen Körpers. Sogar auf den süßlichen Verwesungsgeruch. Sie legt sich neben den Vogel, ihr Kopf neben seinem, und starrt hoch in den durch Baumkronen eingerahmten Ausschnitt des Himmels. Sie stellt sich vor, sie hätte Frieden gefunden. Kiera legt sich auch auf den Boden, und so bleiben sie, bis die Sonne hinter den Kiefern versinkt und die Welt in ein kühl-goldenes Nachtschattengrün taucht.

Als Ava abends von ihrer Mutter abgeholt wird, mustert die sie sofort kritisch von Kopf bis Fuß – sie sucht nach aufgegangenen Flechtzöpfen, Schrammen und Kratzern, nach Beweisen für wildes Benehmen. Ihr Blick bleibt an Avas Schuhen hängen. Ihre Mutter spricht mit künstlicher Süßstoffstimme, jedes Wort klar und deutlich artikuliert, als benutze sie eine Sprache, die sie zwar beherrscht, aber viel, viel lieber nicht sprechen würde. Diese Stimme verwendet sie für die Mailbox und wenn sie beruflich mit Fremden zu tun hat. Diesen Tonfall knipst sie auch an, wenn sie mit der weißen Mutter der Freundin ihrer Tochter spricht. «Danke, dass Ava heute bei Ihnen sein durfte», sagt sie lächelnd, aber ihre Augen sind kohlschwarz und kalt. Kieras Mutter ist eine luftig flatternde Erscheinung in der Tür, ihre Haut angenehm kühl an Avas Wange. «Wir freuen uns immer, wenn Ava kommt», sagt sie, und ihre Zuckerwattestimme klingt so echt, so ernst, als könnte sie jeden Moment schmelzen.

«Warum sind deine Turnschuhe so dreckig?», will Avas Mutter wissen, als sie zum Auto gehen, kaum hat sich die Tür hinter ihnen geschlossen. «Jedes Mal, wenn ich dich da abhole, siehst du unmöglich aus, kannst du mir das erklären? Beide Eltern sind zu Hause, und sie können trotzdem nicht vernünftig aufpassen?» Ava erwidert nichts; wenn sie etwas sagt,...