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The Racing Flower Pilgrim - Der Camino de Santiago. Künstliche Blumen. Und ich.

The Racing Flower Pilgrim - Der Camino de Santiago. Künstliche Blumen. Und ich.

Philipp Döhrer

 

Verlag epubli, 2021

ISBN 9783754929551 , 532 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz frei

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19,99 EUR

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The Racing Flower Pilgrim - Der Camino de Santiago. Künstliche Blumen. Und ich.


 

Warum denn eigentlich?


23.07.2019 00:20 Uhr

Ich sitze in meiner Bude. Ja, in meiner Bude. In meinem Stitz. Einen hochwertigeren Begriff gibt es dafür nicht. Ich bin dankbar, dass ich ihn habe, aber es ist eben einfach nur ein Stitz. Ich sitze in meinem unfassbar bequemen und gleichzeitig vollkommen durchgesessenen DDR-Rollsessel, bei dem ich nach jeder Bewegung die linke Rolle an der Unterseite nachziehen muss, um nicht halb auf dem Boden zu sitzen. Das hat was. Aber nicht viel.

Vor mir auf dem Bildschirm flimmert irgendein Film, irgendeine Serie, vor sich hin. Grundsätzlich flimmert bei mir immer irgendetwas vor sich hin. In diesem Moment aber hauptsächlich ich selbst. Ich bekomme absolut nichts von dem Treiben auf dem Bildschirm mit. Es könnte ein surreales Werk aus der Feder von Darren Aronofsky sein. In den Hauptrollen David Hasselhoff und Annegret Kramp-Karrenbauer. Unter der Regie von Hieronymus Bosch, Klaus Kinski und einem sprechenden Schimpansen. Auch sowas kann man mögen. Muss man aber nicht.

Nichts davon interessiert mich gerade. Es flimmert einfach. Ich sitze also einfach da. Ich lasse mich von diesem cineastischen Meisterwerk unterbewusst einlullen und denke. Nur denken. Das kann ich und tue ich leider oftmals viel zu gut. Ich kriege dieses hässliche, fast haarlose Ding, welches aus meinem Hals hervorragt, einfach nicht ausgestellt. Ich habe keinen Schalter dafür. Lieferfehler. Hat Hermes vor knapp 33 Jahren einfach verkackt. Jegliche Bemühung um Nachlieferung fehlgeschlagen.

Ich schlafe nun seit fast drei Wochen so gut wie gar nicht. Mit „so gut wie“ meine ich absolut. Und mit „gar nicht“ meine ich GAR NICHT. Ich esse seit fast drei Wochen sehr, sehr wenig. Nur Kleinkram. Ich habe seit fast drei Wochen eine Nervenstörung am Hauptnerv des Hinterkopfes. Ich fühle mich taub und unkonzentriert. Ich habe seit fast drei Wochen ein riesiges Loch in meinem Leben. Größer als je zuvor. Es ist eher wie eine riesige, zerklüftete Schlucht. Als hätte eine gewaltige, hässliche, fette, warzenbewachsene Kröte ihren gigantischen Schlund geöffnet und… Lassen wir das. Dieser Vergleich hinkt. Auf beiden Beinen. Sogar auf allen dreien. Lieber in Form eines Gleichnisses, so wie unser guter, alter Freund J.C. vor einigen Jährchen schon immer gerne redete:

Es ist, als hätte ich einen fantastischen Baumeister kennengelernt und angeheuert. Dieser Baumeister begann ein Gebäude zu errichten. Er maß dem Werk eine riesige, bedeutungsvolle Zukunft bei. Vor meinen Augen stellte er es Schritt für Schritt fertig. Ich konnte währenddessen noch nicht so ganz daran glauben, da meine Erfahrungen mit vorherigen Baumeistern nicht die besten waren. Mit jedem Stein, den er setzte, begann ich, immer mehr zu glauben, immer mehr zu wissen, dass dieses Werk wirklich standhaft sein wird. Standhaft bis zu dem Tag, an dem die Hölle einfriert und Roberto Blanco weiß wird. Als der Schlussstein des Bauwerks gesetzt werden sollte, als ich alle Zweifel abgelegt hatte, riss der Baumeister sein Werk vollständig ein. Einfach so. Dann schnappte er sich ein Klatschblättchen, eine Rolle Klopapier und setzte einen gewaltigen Haufen darauf. Und lachte dabei. Dieser Vergleich ist zwar irgendwie widerlich, aber er trifft’s.

Genau SO fühle ich mich in diesem Moment. In der wohligen Umarmung dieses sesselförmigen Meisterwerks. Diese bedeutungsvolle Zukunft, an die mich der Baumeister glauben ließ, als ich es selbst noch bezweifelte. Das Gebilde, das er mit mir seit mehr als zwei Jahren aufgebaut und mir versprochen hat. Er hat es nun eingerissen. Unwiderruflich. Und hat danach genüsslich schmatzend ein gewaltiges Exkrement darauf hinterlassen. Während ich in diesem dampfenden Chaos noch nach der Ursache für all das suche, ist der Baumeister längst dabei, das nächste Gebilde für den nächsten Klienten zu errichten. Ich suche derweil noch in diesem Berg aus Scheiße und stelle mir die ganze Zeit die hochwissenschaftliche und philosophische Frage: Hä?

Nun dürfte jedem Einzelnen klar sein, was ich damit meine. Nun dürfte jedem Einzelnen klar sein, dass das irgendwie ein merkwürdiges Gleichnis ist. Nun dürfte sich jeder Einzelne fragen: „Was hat der Typ genommen? Was hat er vergessen zu nehmen?“ Nun dürfte jedem Einzelnen klar sein, dass der Baumeister kein Mann war. Ja, manchmal kann ich schon sehr emotional und melancholisch sein. Gedanklich und beim Schreiben. Gefühlschaos der krassesten Sorte. In diesen Ausmaßen allerdings auch für mich völlig neu. Ich möchte das nicht noch genauer vertiefen. Nicht an dieser Stelle. Man kommt momentan sowieso nicht auf den Grund der Entstehung dieses aufgerissenen Loches. Höchstwahrscheinlich wird man das auch nie.

Halten wir also in diesem Moment fest:

1. Ich sitze.

2. Dieser Sessel ist auf eine geniale Weise bequem und total beschissen zugleich.

3. Ich habe einen mittleren Nervenschaden am Kopf, der mich taub und unkonzentriert macht.

4. Meine Baumeisterin hat mich entsorgt.

5. Das ganze versprochene Gebäude gleich mit.

6. Holzklotz reimt sich nicht auf Bitterorange.

7. Nein.

8. Punkt 7 bedarf einer genaueren Untersuchung.

9. Ich muss jetzt irgendetwas tun, um wieder einen freieren Kopf zu bekommen.

10. Listen mit mehr als zehn Punkten sollte man keine Bedeutung beimessen.

11. Was zur Hölle mache ich jetzt?



Seit dem mythenumrankten Jahr 2010 habe ich einen Gedanken. Damals, als das Gras noch grün war und Schlumpf-Eis wirklich noch nach echten, handgejagten Schlümpfen schmeckte, prägte mich ein ganz besonderes Erlebnis. Wir unternahmen eine Reise. Wir waren zu dritt, mein Opa, mein Onkel und ich. Eine Reise durch Südfrankreich und Nordspanien mit dem sehr speziell ausgerichteten Reiseveranstalter Rotel-Tours.

Auf den Spuren des Jakobsweges nannte es sich. Im Nachhinein würde ich es gerne etwas anders taufen:

Unterwegs in einem rollenden Hühnerkäfig namens ‚Rotel-Tours-Bus‘, in dem jegliche Privatsphäre schlicht nicht vorhanden ist, du allerdings sehr viel siehst, während du nachts von den urwaldartigen Geräuschen der zwei schwäbischen Lesben, die in den Kabinen über dir schlafen, unterhalten wirst, die dir wahlweise ein Lächeln oder die blanke Wut ins Gesicht zaubern, du dich danach frisch ‚gestärkt‘ in einen neuen Tag voller Sightseeing begibst und halt so allgemein, na ja….auf den Spuren des Jakobsweges halt.

Guter Titel der Reise. Macht sich aber nur bedingt gut in einem Reisekatalog. Wohl eher gar nicht.

Ich fand es genial. Ich habe Fernweh. Immer gehabt. Ich will alles sehen, alles erleben. Ich möchte am liebsten überall hin. In jedes Land, zu jedem Ort. Muss wohl ein Erbfehler sein. Herzlichen Dank, Familie. Es war jedenfalls ein bis dato einmaliges Erlebnis. Nicht falsch verstehen, es war bei weitem nicht die erste große Reise meines Lebens, im Gegenteil. Ohne jetzt angeben zu wollen, möchte ich einfach mal von mir behaupten, ich kenne mich in der Welt schon ganz gut aus. Aber diese Reise, diese Tour mit diesem Veranstalter, die Art und Weise des Trips, das war eine ganz andere Hausnummer als alles zuvor Erlebte. 20 Tage mit anfänglich wildfremden Menschen auf engstem Raum unterwegs zu sein, in relativ kurzer Zeit extrem viele Orte zu besuchen, gemeinsam Essen zuzubereiten, zu verspeisen und wieder hinaus zu befördern, eine Gegend nicht nur zu sehen, sondern einfach zu erleben, unbeschreiblich. Keine meiner anderen Reisen kommt diesem Erlebnis nahe. Entschuldigung mein verehrtes Rom. Ich liebe dich trotzdem noch.

Diese Tour hatte einige der schönsten und merkwürdigsten Begebenheiten und einige der besten menschlichen Begegnungen meines bisherigen Lebens inklusive. Danke an den Rotel-Gott, falls es ihn gibt. Die Route der fahrenden Schlafkabinen führte entlang der Strecke des französischen Jakobsweges, über Toulouse und Lourdes und natürlich entlang des eigentlichen Jakobsweges, des Camino Francés, durch Spanien. Zu allen wichtigen Orten, die in Zusammenhang mit diesem altehrwürdigen Weg stehen. Selbstverständlich gehörten zum Reiseprogramm auch einige Etappen des Camino. Jeweils nur ein paar putzige, kleine Kilometerchen. Man bekam zumindest einen klitzekleinen Eindruck des Pilgerns und der verschiedenen Landschaften entlang der hunderte Kilometer langen Strecke. So kurz und knapp die jeweiligen Etappen waren, ich lief meistens allein, ganz für mich. Es war der Wahnsinn.

Die Menschen, die auf diesem Weg unterwegs waren. Die Geschichten, die ich nur auf diesen wenigen Ausschnitten des jahrhundertealten Weges gesehen und gehört habe. Unfassbar. Man kann es nicht alles in Worten zusammenfassen. Ein Pilger, der seinen Rucksack nicht trug, sondern in einem Bollerwagen, hinten an seinem Gürtel befestigt, hinter sich herzog. Zwei junge Typen, die sich als Thüringer aus Suhl entpuppten, die einfach mal Bock darauf hatten. Mal sehen was hier so passiert. Ein Mann, der absolut nichts bei sich hatte, außer einem Wanderstock und den zerlumpten Klamotten am Leib. Ein zerfressener Kartoffelsack war gegen ihn ein luxuriöses Gut. Von Prada. Marktlücke.

Was bewegt einen Menschen dazu, sein normales Leben für viele Wochen zurückzulassen und je nach genauem Ausgangs- und Bestimmungsort circa 800 Kilometer in großer Entbehrung durch Spanien zu laufen? Zum vermeintlichen Grab eines...