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Die Verschwörung der Krähen - Roman

Die Verschwörung der Krähen - Roman

Markus Gasser

 

Verlag Verlag C.H.Beck, 2022

ISBN 9783406781513 , 238 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR

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Die Verschwörung der Krähen - Roman


 

3

Keiner von uns


1660–1703

DANIEL DE FOE SAH SICH ZEITLEBENS als ein Kind der Verfolgung, der Pest und des Feuers. Wovor brauchte er sich eigentlich noch zu fürchten? Man hatte versucht, seine Familie aus dieser Welt zu schaffen, lange bevor er in diese Welt gesetzt worden war. Ihre Feinde belauerten sie sogar in der Nacht seiner Geburt.

Im Herbst 1660, als bei Alice Foe die Presswehen einsetzten, wimmelte ihr Mann James die amtliche Hebamme ab mit den Worten, die er auch bei seinen Handelsgeschäften gern gebrauchte: «Unnötig und unerwünscht!» Die Dissenter hatten damit zu rechnen, dass diese Damen in bischöflichem Auftrag Böses im Schilde führten und ihre Sprösslinge nicht heil ins Leben, sondern zurück ins Dunkel befördern wollten – und die Mütter gleich mit. Sie schmierten die Hände mit Gänsefett ein und stießen sie ihnen in den Leib, um zu fühlen, wie das Kind lag, verletzten dabei die Fruchtblase und erfanden (hieß es) meist eine bewährte Komplikation: Das Kind lag falsch-falsch-falsch, flüsterten sie gereizt und rollten die Gebärende hin und her wie ein Fass, das mit Eisenringen zu beschlagen war. Wenn die Geburtszange dann nicht half, war die Sache erledigt; sie führten einen Haken in die Augenhöhle des toten Kindes und rissen es Stück für Stück heraus.

«Dann ruft eben eine eurer Hexen», schnäuzte die Hebamme James Foe an: «Sie wird das Ding mit der Nabelschnur erdrosseln. Das kriegt der Bischof zu hören», brummte sie noch und trottete davon. «Die machen das Kind doch kaputt.»

Wie abgemacht rannte James zu Hannah de Laune. Vor Erregung rutschte er trotz des Lichts seiner Fackel auf einem Haufen Kohlblätter und Fischgekröse aus. Um ein Uhr nachts unterbrach er die Messe, die Hannahs Mann, der presbyterianische Prediger Thomas de Laune, jede Woche heimlich in seinem Kellergewölbe hielt, packte Hannah am Ärmel, und sie huschten die Mauern der Swan Alley entlang zum vollerleuchteten Haus der Familie Foe. Hannah de Laune schritt mit einem Kribbeln im Magen über die Schwelle: Die Ankunft eines neuen Kämpfers gegen die irdische Finsternis erwartete sie. Und dieser winzige Kämpfer hatte es eilig: Noch nie war Hannah de Laune eine derart rasche und mühelose Geburt geglückt.

Keine zwei Stunden alt, lag der Kämpfer auch bereits, die Fingerchen zu Fäusten geballt, vorm Kamingitter in einem Korb, daneben trockneten eingeknickte, angerissene Stiefel wie zwei desertierte Soldaten, die sich von einer Feldschlacht erholten. Vater James beschnupperte ihn wieder und wieder wie einen Happen Käse, der auf Brot vorm Kamin langsam schmolz: Sein Stern als Kaufmann in Kleiderwaren aller Art ging gerade prächtig auf, und da war er endlich, sein Nachfolger. James durchstöberte seine Gedanken nach allen Rivalen, die sich zwischen den langersehnten Sohn und die Pläne, die er für ihn hegte, drängen könnten. Bloß sein jüngerer Bruder, Henry, fiel ihm ein, dessen Kopf von fantastischem Unfug platzrund geschwollen war. Mit diesem Büchernarren wurde er fertig. Auch war seine Freude über den Sohn zu groß, als dass James in diesem Moment seine Fähigkeit in Zweifel zog, den Willen der anderen nach dem seinen zu formen. Da klopfte es herrisch an der Hintertür.

«Jetzt schon?», stöhnte James. Doch keiner der Dissenter wies die ein Jahrhundert alte Mother Shipton ab. Unter ihnen machte die (allerdings wenig wahrscheinliche) Geschichte die Runde, die Hexenjäger Hopkins und Stearne wären ihr mit einem Spürhund einst über Monate durch ganz Essex gefolgt, ohne sie zu fassen, bis sie sich den eigentümlichen Spaß erlaubte, nun ihrerseits den Hexenjägern zu folgen: Gott, sagte sie, hätte eine Rechnung mit den beiden Herren zu begleichen und werde sie ein für alle Mal lehren, wer hier wirklich des Teufels sei. Einen dicken Strick, an dem man sie aufhängen sollte, brachte sie zu ihrer Festnahme gleich selbst in die Metropole mit: Was man, erklärte der Bischof von London den verblüfften Hexenjägern und ihrem nicht minder verblüfften Spürhund, auch als Geste einer Heiligen deuten könnte. Sie entkam dem Scheiterhaufen, erzählte sie, weil Gott es das ganze Jahr über regnen ließ und weil der für Omen empfängliche Bischof es schließlich mit der Angst bekam und seine Geduld verlor mit dem ewig nassen Holz.

Mother Shipton trug immer Schwarz. An ihrem verrunzelten Hals baumelte neben dem Bleikreuz ein Medaillon, das ein glotzendes Auge darstellte, als Schutz vor dem bösen Blick. Sie trat ans Körbchen, besah sich mit ihren drei Augen den Kleinen und ließ das Kreuz wie ein Pendel über ihm kreisen. «Er wird ein erfolgreicher Kaufmann und unermesslich reich. In die Zukunft schauen kann er bald auch. Vielleicht wird er darum so reich.» Wie zum Einverständnis fing der Kleine zu plärren an.

«Wir werden ihn jedenfalls Daniel taufen», versetzte James sachlich, weil er Mother Shiptons Prophezeiungen zwar erfreulich, aber auch lästig fand. Überdies stammten ihre Vorfahren aus Preußen.

«Hosianna und klingeling», kicherte sie hämisch. «Bist du was, dann weißt du was. Wort Gottes, sechstes Buch Daniel, Vers siebzehn. Schon gelesen, schon wieder vergessen? Oder über deinen Hüten, Strümpfen und Miedern ausgeschwitzt? Bimmeln bei dir da nicht die Glocken in der Birne? Damit holst du unsere Verleumder geradewegs her wie gerufen, damit sie den Jungen in Löwengruben schmeißen.»

«Aber steht nicht auch geschrieben, dass Daniel aus der Grube wieder herausgelangt? Vers einundzwanzig?», fragte James kleinlaut nach.

«Vers vierundzwanzig», berichtigte sie ihn, «und Daniel kommt nur raus», blieb Mother Shipton eisern, «weil Gott es lange davor für ihn so vorgesehen hat. Und damit der König Dareios lernt, wo sein Platz ist.» Andererseits sei es die beste Zeit für niemanden, fuhr Mother Shipton in ihrer manchmal verworrenen Sprechweise fort, jetzt erst geboren zu werden, sie habe drei Kometenengel über die Himmel rauschen sehen, der erste sei matt gewesen, trüb und schwer, der zweite flammenrot, der dritte krachend laut und heftig, als donnerten fette Fäuste gegen Fensterscheiben, und was die drei zu bedeuten hätten, müsse sie ihm wohl nicht genauer erläutern: Pest, Feuer, Gewalt.

James wollte schon einwenden, dass Astronomen inzwischen völlig natürliche Ursachen für solche Erscheinungen angeben und sie kaum als Vorboten von Pest, Feuer, Gewalt respektieren würden. Aber da gab es keine Widerrede. In Glaubensscharmützeln war er ihr nicht gewachsen, und so ging er zum Gegenangriff über: Ob er sie bitten dürfe, die Taufpatin des künftigen Löwenfraßes zu sein? Was ihn vielleicht doch ein wenig vor dem Schlimmsten bewahren könnte?

Mother Shipton stand starr vor Staunen. Niemand aus der Presbyterianer-Gemeinde hatte sie jemals zur Taufpatin bestimmt. «Einverstanden», lächelte sie zu ihm hoch: «Dann darf der Zwerg auch Daniel heißen. Aber getauft werden muss er noch heute. Denn morgen bin ich tot.»

Und ob es nun mit Gott zuging oder dem Teufel, diese eine Weissagung Mother Shiptons erfüllte sich nicht: Sie starb erst vier Jahre später an einem Geschwür im Rachen und hatte so eben noch Zeit, dem kleinen Daniel einzuschärfen, dass Krone und Kirche zwar Bedrohungen und Beleidigungen über alle Dissenter verhängten wie Todesurteile; dass jede Bedrohung und Beleidigung jedoch zu ertragen war; und dass Demut bewahrt werden musste, weil man ihnen, den einzig Gerechten und Erwählten des Herrn, zuletzt nichts anhaben konnte. Gott würde schon dafür sorgen, dass kein Vergehen gegen die Dissenter unvergolten blieb. «Aber drüben. Nicht hier.» Gott werde seine Feinde zu Staub zermahlen, lichtlosem Sternenstaub, «und schwups geht’s dann ab ins Nirgendwo mit denen», die Übrigen werde der Herr mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer toter Seelen werfen. «Sie alle», versprach sie, «kratzen drüben erst richtig ab, verstehst du?» Tolle Aussichten: Es war ratsam, auf Mother Shiptons Seite zu bleiben.

Daniel verstand nicht jedes ihrer Worte, doch bekam er sie zu spüren, wenn er allein durch die Straßen von St. Giles neben der Swan Alley strich und ihn dort Gleichaltrige mit Steinen bewarfen, in die Straßengräben stießen und zwangen, Hundekot zu kauen, langsam und gründlich, bis ein noch wehrloseres Dissenterkind ihnen ein noch kühneres Abenteuer versprach. Bald suchte er unbekanntere Wege, Hintergassen, wo er eines Januartages 1665 an einer Häuserwand ein riesiges, rotes Kreuz gemalt sah.

Die Farbe am Holz war noch frisch. An der Ecke links schrie ein zum Wachmann abkommandierter Sattlergeselle zu den verschlossenen Fenstern hoch: «Schafft eure Toten raus!»

Daniel...