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Montag oder Dienstag

Montag oder Dienstag

Virginia Woolf

 

Verlag Verlag C.H.Beck, 2022

ISBN 9783406780196 , 112 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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Montag oder Dienstag


 

Eine Gesellschaft


So hat es sich zugetragen: Sechs oder sieben von uns saßen eines Tages nach dem Tee beisammen. Einige schauten flüchtig zu den Fenstern eines Hutmachers auf der anderen Straßenseite, wo das Licht noch leuchtend auf scharlachrote Federn und goldene Pantoffeln fiel. Andere errichteten gedankenverloren kleine Türme aus Zucker am Rand des Teetabletts. Nach einer Weile versammelten wir uns, wenn ich mich recht entsinne, in einem Kreis vor dem Feuer und fingen wie gewöhnlich an, Männer zu rühmen – wie stark, wie edel, wie brillant, wie mutig, wie schön sie waren – wie wir diejenigen beneideten, denen es auf Biegen und Brechen gelang, sich in einen fürs Leben zu verlieben –, als Poll, die nichts gesagt hatte, in Tränen ausbrach. Poll, muss ich Ihnen sagen, war schon immer wunderlich. Zum einen war ihr Vater ein seltsamer Mann. In seinem Testament vermachte er ihr ein Vermögen, aber unter der Bedingung, dass sie alle Bücher der London Library las. Wir trösteten sie, so gut wir konnten, wussten aber innerlich, wie vergeblich das war. Denn Poll, so gern wir sie haben, ist keine Schönheit; sie lässt ihre Schnürsenkel offen, und während wir Männer rühmten, muss sie sich gedacht haben, dass keiner von ihnen sie jemals heiraten würde. Endlich trocknete sie die Tränen. Eine Zeitlang konnten wir uns merkwürdigerweise keinen Reim darauf machen, was sie sagte. Obwohl sie es nach bestem Wissen und Gewissen tat. Sie erzählte uns, dass sie, wie wir wussten, die meiste Zeit in der London Library mit Lesen verbrachte. Sie habe mit der englischen Literatur im oberen Stockwerk begonnen, berichtete sie, und arbeite sich stetig abwärts bis zu The Times im Erdgeschoss. Und nun, da sie zur Hälfte oder vielleicht nur zu einem Viertel durch war, war etwas Schreckliches passiert. Sie konnte nicht weiterlesen. Bücher waren nicht das, wofür wir sie gehalten hatten. «Bücher», rief sie, erhob sich und sprach mit einem Ausmaß an Trostlosigkeit, das ich nie vergessen werde, «sind zum großen Teil unsagbar schlecht!»

Natürlich schrien wir auf; Shakespeare habe Bücher geschrieben, Milton und Shelley.

«Oh ja», unterbrach sie uns. «Ihr habt guten Unterricht erhalten, wie ich sehe. Aber ihr seid keine Mitglieder der London Library.» Hier brach sie erneut in Schluchzer aus. Schließlich, sich ein wenig erholend, schlug sie eines der Bücher aus dem Stapel auf, den sie immer mit sich herumtrug – «Am Fenster» oder «In einem Garten» oder ähnlich betitelt, und geschrieben hatte es ein Mann namens Benton oder Henson oder etwas in der Art. Sie las die ersten paar Seiten vor. Wir hörten schweigend zu. «Aber das ist doch kein Buch», sagte jemand. Also wählte sie ein anderes aus. Diesmal war es ein Geschichtswerk, aber den Namen des Autors habe ich vergessen. Unsere Beklemmung wuchs, als sie fortfuhr. Kein einziges Wort schien wahr zu sein, und der Stil, in dem es geschrieben war, war abscheulich.

«Poesie! Poesie!», riefen wir ungeduldig. «Lies uns Gedichte vor!» Ich kann die Trostlosigkeit nicht beschreiben, die uns befiel, nachdem sie einen kleinen Band geöffnet hatte und die weitschweifige, sentimentale Dummheit deklamierte, die darin stand.

«Das muss eine Frau geschrieben haben», brachte eine von uns vor. Aber nein. Sie sagte uns, ein junger Mann habe es geschrieben, einer der berühmtesten Dichter der Gegenwart. Ich überlasse es Ihnen, sich den Schock dieser Entdeckung vorzustellen. Obwohl wir alle durcheinanderriefen und sie baten, nicht weiterzulesen, bestand sie darauf, uns Auszüge aus dem Leben der Lordkanzler vorzulesen. Als sie fertig war, erhob sich Jane, die älteste und klügste von uns, und sagte, dass sie für ihren Teil nicht überzeugt sei.

«Wenn Männer solchen Schwachsinn schrieben», fragte sie, «warum haben unsere Mütter dann ihre Jugend damit vergeudet, sie in die Welt zu setzen?»

Wir waren alle still, und in der Stille war die arme Poll zu hören, die schluchzte: «Warum, warum hat mein Vater mir das Lesen beigebracht?»

Clorinda war die Erste, die sich fasste. «Es ist alles unsere Schuld», sagte sie. «Jede von uns kann lesen. Aber niemand, außer Poll, hat sich je die Mühe gemacht, es zu tun. Ich für meinen Teil hielt es für selbstverständlich, dass es die Pflicht einer Frau ist, ihre Jugend mit Kindergebären zu verbringen. Ich bewunderte meine Mutter dafür, dass sie zehn gebar, und mehr noch meine Großmutter, dass sie fünfzehn gebar; es war, muss ich zugeben, mein Ziel, zwanzig zu gebären. Wir haben in all diesen Jahren immer angenommen, die Männer wären gleichermaßen emsig und ihre Arbeit hätte den gleichen Wert. Während wir die Kinder zur Welt brachten, brachten sie, so vermuteten wir, die Bücher auf die Welt und die Gemälde. Wir haben die Welt bevölkert. Sie haben sie zivilisiert. Aber was hält uns nun, da wir lesen können, davon ab, die Ergebnisse zu beurteilen? Ehe wir ein weiteres Kind in die Welt setzen, müssen wir schwören, dass wir herausfinden werden, wie die Welt beschaffen ist.»

Also machten wir aus unserer Runde eine Gesellschaft zum Fragenstellen. Eine von uns würde einen Kriegsveteranen besuchen, eine andere sollte sich im Arbeitszimmer eines Gelehrten verstecken, wieder eine andere würde an einer Versammlung von Geschäftsmännern teilnehmen, während alle Bücher lesen, sich Gemälde anschauen, Konzerte besuchen und die Augen auf der Straße offen halten und fortwährend Fragen stellen sollten. Wir waren jung. Das werden Sie anhand unserer Schlichtheit ablesen können, wenn ich Ihnen sage, dass wir uns, bevor wir uns an diesem Abend trennten, darüber einig waren, dass das Ziel des Lebens darin bestand, gute Menschen und gute Bücher hervorzubringen. Unsere Fragen sollten darauf gerichtet sein, herauszufinden, inwieweit diese Ziele im Augenblick von Männern erreicht wurden. Wir schworen feierlich, wir würden kein einziges Kind mehr gebären, ehe wir nicht zufrieden wären.

Dann zogen wir los, einige ins British Museum, andere zur Königlichen Marine, einige nach Oxford, andere nach Cambridge, wir besuchten die Royal Academy und die Tate Gallery, hörten moderne Musik in Konzerthallen, gingen in die Gerichte und schauten uns neue Theaterstücke an. Keine ging zum Abendessen aus, ohne ihrem Begleiter bestimmte Fragen zu stellen und seine Erwiderungen sorgfältig zu notieren. In Abständen trafen wir uns und verglichen unsere Beobachtungen. Ach, das waren lustige Treffen. Nie habe ich so gelacht wie in dem Augenblick, als Rose ihre Notizen zur «Ehre» vorlas und beschrieb, wie sie sich als äthiopischer Prinz verkleidet hatte und an Bord eines Schiffes Seiner Majestät gegangen war. Als der Schwindel entdeckt wurde, stattete der Kapitän ihr (die nun in der Verkleidung eines Gentleman steckte) einen Besuch ab und verlangte, dass der Ehre Genüge getan würde. «Und wie?», fragte sie. «Wie?», brüllte er. «Mit dem Stock natürlich!» Als sie sah, dass er vor Wut außer sich war, und sich in Erwartung, ihr letztes Stündlein habe geschlagen, vorbeugte, erhielt sie zu ihrer Überraschung sechs leichte Klapse auf den Hintern. «Die Ehre der Königlichen Marine wurde gerächt!», schrie er, und als sie sich aufrichtete, sah sie ihn mit schweißnassem Gesicht eine zitternde rechte Hand ausstrecken. «Hinfort!», rief sie aus und ahmte die Wildheit seines Ausdrucks schauspielernd nach. «Meiner Ehre wurde noch keine Genüge getan!» «Hier spricht ein Gentleman!», entgegnete er und versank in tiefes Nachdenken. «Wenn sechs Schläge die Ehre der Königlichen Marine rächen», grübelte er, «wie viele rächen dann die Ehre eines Gentlemans?» Er sagte, er würde den Fall seinen Offiziersbrüdern vortragen. Sie erwiderte hochmütig, sie könne nicht warten. Er lobte ihre Empfindsamkeit. «Mal sehen», schrie er plötzlich, «hielt sich ihr Vater eine Kutsche?» «Nein», sagte sie. «Oder ein Reitpferd?» «Wir hatten einen Esel», sie besann sich, «der die Mähmaschine zog.» Da hellte sich sein Gesicht auf. «Der Name meiner Mutter –», ergänzte sie. «Um Himmels willen, Mann, erwähnen Sie nicht den Namen Ihrer Mutter!», kreischte er, zitternd wie Espenlaub und bis zu den Haarwurzeln errötend, und es dauerte mindestens zehn Minuten, bis sie ihn dazu bewegen konnte, die Sache fortzusetzen. Schließlich verfügte er, dass sie ihm viereinhalb Schläge ins Kreuz versetzen...