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Ungefähre Tage - Roman

Ungefähre Tage - Roman

Annika Domainko

 

Verlag Verlag C.H.Beck, 2022

ISBN 9783406781568 , 222 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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17,99 EUR

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Ungefähre Tage - Roman


 

1


Als ich erwachte, wusste ich nicht, wo ich war, der Boden vor dem Fenster lag in sattem Licht, ich selbst tauchte ohne Zeitgefühl und Orientierung aus einem randlosen Zustand an die Oberfläche. Es war früher Abend, stellte ich nach einer Weile fest, er fiel senffarben ins Zimmer, und ich hatte den Nachmittag verschlafen.

Meine Schläfen pochten und Unwille erfasste mich, körperlich und schwer und endgültig, ein Gefühl, das mich seit Monaten anfiel, wann immer ich unvorbereitet war, nach dem Aufwachen, im Nachtdienst, betrunken. Ich stand auf, dehnte den verkrampften Nacken, legte die Wolldecke zusammen und öffnete das Fenster. Das Haus lag still, Josefine war mit der Kleinen bei ihrer Schwester geblieben. Die Luft, die durch das offene Fenster hereinströmte, war kühl und roch erdig nach dem verwelkenden Laub, das die Bäume seit drei Wochen in den Hof warfen und auf unsere Fensterbank im dritten Stock fallen ließen. Mein rechtes Auge, unter dessen Lid die Kleine gestern ihren winzigen Zeigefinger geschoben hatte, tränte und legte einen milchigen Schleier über meinen Blick.

Der Himmel war hoch und klar und ich lehnte mich aus dem Fenster. Kein einziger grauer Fleck zwischen den aufragenden Altbauten verhieß, dass etwas hereinbrechen könnte, alles lag porös und offen da, die aufgebrochene Gartenerde unten im Hof, das Brennholz unter dem Unterstand der Nachbarn, das Laub auf der Fensterbank. Ich griff mit beiden Händen hinein und schob es zu einem Haufen zusammen. Genauso hatten sich die Blätter in ihrem Haar gestern angefühlt, dachte ich. So brüchig, dass sie mir zwischen den Fingern zerfielen und wie Konfetti auf ihre Schultern und den ausgetretenen Parkettboden gerieselt waren. Sie hatte nicht geläutet, und dass ich sie bemerkt hatte, genau in dem Moment, als sie wie auf Kommando in sich zusammenfiel, war Zufall gewesen. Ich hatte ihren taumelnden Schatten hinter dem Milchglas gesehen, sie fiel so leicht, dass kein Laut durch die verschlossene Tür drang. Als ich aufschloss, musste ich ihren Körper mit der Tür über den Boden schieben. Es gab ein heiseres, wischendes Geräusch. Der Widerstand hallte in meinem Muskel nach.

Das Foyer war leer gewesen, die Frau vom Empfang nirgendwo zu sehen. Die automatische Schiebetür am Eingang hatte sich lautlos geöffnet und wieder geschlossen, ohne dass jemand eingetreten wäre. Ich hatte mich hingekniet, die Hand an ihren Hals gelegt, um den Puls zu messen, und sie angesprochen. Sie hatte nicht reagiert, die Augen nicht geöffnet, ihr Körper war ohne Spannung gewesen. Ich hatte lauter gesprochen, ihre Stirn befühlt, leicht mit der flachen Hand auf ihre Wange geschlagen. Als ich sie hatte hochheben wollen, um sie auf die Station zu tragen und den Dienstarzt zu rufen, hatte sie die Augen aufgerissen und mich angesehen. Sie hatte sich nicht gewehrt, aber eine unvermittelte Spannung war durch ihren Körper gelaufen. Etwas Fragendes muss in meiner Geste mitgeschwungen sein, als ich sie hochhob, denn sie nickte kurz, die Antwort in einem stummen Gespräch, das mich noch immer irritierte, weil ich es nicht verstand, und vor allem, weil es eigentlich nie vorkam, dass mich diese Dinge über die unmittelbare Situation hinaus interessierten. Ich hatte die spaltoffene Tür mit dem Fuß aufgedrückt und sie über die Schwelle getragen, die ganze Zeit über hatte ich ihren Blick auf meinem Gesicht gespürt. Sie war wärmer gewesen, als ich nach dem Befühlen ihrer Wange vermutet hätte, ihr Körper spitz, aber unerwartet schwer auf meinem Arm.

Ich packte den Haufen trockenen Laubs, den ich auf der Fensterbank zusammengeschoben hatte, presste ihn zu einem Knäuel und warf ihn in den Hof. Die Blätter wurden vom Wind erfasst und ein Stück mitgetragen. Ich mochte das Knistern, das sie von sich gaben, wie das Knacken eines Feuers. Mit jedem Schritt war sie wärmer und weicher geworden auf meinem Arm, dachte ich. Laub war von uns herabgefallen und hatte eine Spur hinterlassen, von Milchglas zu Milchglas, quer über den Flur bis zum Behandlungszimmer, ich hatte es später mit dem Besen aufgekehrt.

Ich schloss das Fenster. Die kalte Luft hatte den Schlaf aus dem Arbeitszimmer vertrieben. Wir nannten es noch immer so, obwohl ich es schon lang nicht mehr zum Arbeiten nutzte. Das Fernstudium ruhte, seit die Kleine auf der Welt war, ich las hier, wenn auch immer seltener, schrieb E-Mails, telefonierte, kam meistens nach der Schicht hierher, wenn ich für mich sein wollte. Anders als Josefines Homeoffice, mit Teak, bodentiefen Regalen voller Gesetzestexte, Marcel-Breuer-Stühlen und Tecto-Leuchte im Fenster, strömten hier noch immer meine Studentenjahre aus jeder Pore, nicht einmal von den Postern hatte ich mich getrennt, auf dem rauen Wollteppich hatte ich schon mit Mira geschlafen. Am liebsten wäre ich auch nachts hier, mit der Kleinen neben mir und ihren leisen Schmatzgeräuschen im Schlaf, ganz für mich und ohne einen fremden Blick.

Mit steifen Beinen schlüpfte ich in die Jeans, die ich beim Heimkommen am Boden hatte liegen lassen, zog einen Kapuzenpullover über das T-Shirt, in dem ich geschlafen hatte, und ging in die Küche, um mir einen Kaffee zu kochen. Ich füllte den Wasserkocher, zog die Blechdose mit dem gemahlenen Kaffee vom Regal und kippte zwei Löffel in die French Press. Als ich das Wasser auf das Pulver goss, beobachtete ich die braunen Moorblasen, die träge aufstiegen. Während mir der Kaffee in die Nase stieg, packte ich Tabakbeutel, Filter und Zigarettenpapier auf den Tisch und begann zu drehen. Das Pochen in meinen Schläfen wurde lauter. Mit dem Daumennagel kratzte ich die Klebstoffreste vom Tabakbeutel.

Ich goss mir den schwarzen Kaffee ein, steckte mir die Zigarette zwischen die Lippen, ging zur Balkontür und drückte die schwere Klinke mit dem Ellbogen nach unten. Ich gab der Tür einen Stoß mit der Hüfte, quietschend schwang sie ins Freie, wie jedes Mal, Handgriff nach Handgriff, die Routine der kleinen Dinge. Ich setzte mich auf die Bank neben der Tür, mit Blick auf Tomatensträucher und Gräser, die Füße auf den kalten Holzpaneelen, und öffnete Spotify, um eine Folge des archäologischen Podcasts zu hören, dem ich seit einigen Wochen folgte. Reminiszenz an frühere Zeiten, das erste Studium, das ich vor über zwanzig Jahren kurz vor dem Abschluss abgebrochen hatte. Das nächste Fremde hatten sie ihn genannt, wenig originell, wie ich fand, die alte Leier von der Antike als fremd und vertraut zugleich, als das Andere im Eigenen und umgekehrt. Aber die Themen waren gut, die beiden Organisatoren, die wechselnde Gäste einluden, jünger im Ton, als der Titel hätte vermuten lassen. Ich legte das Smartphone hinter mir auf die Fensterbank und zündete die Zigarette an. Der Rauch mischte sich in meinem Kopf mit der Musik des Intros.

Ich hatte ihr auch eine Zigarette gedreht, dachte ich, als ich den ersten Zug nahm, weil es ihr nicht gelungen war, das Papier um die Tabakfäden zu schlingen. Es hatte ausgesehen wie der ungelenke Bastelversuch eines Kindes. Dabei hatte sie ihre Hände die ganze Zeit im Blick gehabt, den Tabak schließlich auf ihrem Schoß liegen lassen, das zerrissene Papier daneben wie ein Stillleben. Wir hatten uns stockend unterhalten. Kurz davor, nachdem ich sie ins Behandlungszimmer getragen und auf der Liege abgelegt hatte, hatte ich ihr noch das Laub aus den Haaren gepflückt, ihr die Jacke ausgezogen, wie einem Kind, die Schuhe, die merkwürdigerweise vollkommen durchnässt waren. Sie war dehydriert gewesen, und ich hatte ihren Kopf mit einer Hand gestützt, während ich ihr mit der anderen aus einem Plastikbecher Wasser einflößte. Die ganze Zeit über war sie still gewesen, mir ausgewichen. Ich hatte ihr den Ärmel hochgeschoben, um den Blutdruck zu messen. Da war ein Pflaster in ihrer Armbeuge, darunter ein Wattepad, wie auch wir es verwenden. Da erst war mir überhaupt in den Sinn gekommen, dass sie sich vielleicht gar nicht zu uns verirrt hatte, nicht vom Himmel gefallen, sondern zurückgekommen war.

Wollen Sie mir Ihren Namen sagen?

Sie hatte ihn genannt. Ich hatte in der Datenbank nachgesehen. Sie war tatsächlich bereits seit acht Tagen auf Station. Ich hatte keinerlei Erinnerung an ihr Gesicht.

Ich zog an der Zigarette und hielt den Rauch für einen Moment in der Lunge. Das Pochen in den Schläfen wurde weniger. Ich ging mit der brennenden Zigarette zurück in die Küche, um mir eine zweite Tasse Kaffee einzuschenken,...