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Zonenrandgebiet - Westdeutschland und der Eiserne Vorhang

Zonenrandgebiet - Westdeutschland und der Eiserne Vorhang

Astrid M. Eckert

 

Verlag Ch. Links Verlag, 2022

ISBN 9783862845156 , 560 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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19,99 EUR

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Zonenrandgebiet - Westdeutschland und der Eiserne Vorhang


 

Auf der Westseite des Eisernen Vorhangs


»Friedemann Grün« stand auf dem Lkw, der am 3. August 1984 auf das Gelände des Kohlekraftwerks Buschhaus bei Helmstedt rollte. An vier Polizeisperren und am Werkschutz vorbei. Der fingierte Firmenname ergab erst im Nachhinein Sinn: Peaceman Green, besser bekannt als Greenpeace. Innerhalb weniger Minuten setzten Greenpeace-Aktivisten eine Leiter aus Alustangen zusammen, erklommen den Kühlturm und entrollten ein Transparent, das die Luftverschmutzung durch das Kraftwerk anprangerte. Buschhaus löste eine akute politische Krise in der Bundesrepublik aus, weil es auf dem Höhepunkt der öffentlichen Debatte über sauren Regen und Waldsterben ohne Entschwefelungsanlage in Betrieb gehen sollte. Obwohl eine Rauchgasentschwefelung für neue Kraftwerke seit 1983 gesetzlich vorgeschrieben war, pochte die niedersächsische Landesregierung auf eine Ausnahme, weil Buschhaus bereits Jahre vor dieser Neuregelung genehmigt worden war. Die Befürworter des Kraftwerks argumentierten mit Arbeitsplätzen, die Gegner mit Schadstoffemissionen. Zeitgenossen begriffen Buschhaus als einen klassischen Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie. Der Streit ging als Indiz für das neu entwickelte Umweltbewusstsein der Bundesrepublik in die Geschichte der westdeutschen Umweltpolitik ein.1

Doch was den Konflikt verschärfte, war der Standort des Kohlekraftwerks. Buschhaus befand sich im westdeutschen Grenzgebiet direkt an der innerdeutschen Grenze. Es gehörte zu einem Unternehmen, den Braunschweigischen Kohlen-Bergwerken (BKB), deren Tagebaufelder 1952 durch die Demarkationslinie geteilt worden waren. Ohne Zugriff auf den vollen Umfang seiner Kohlevorkommen war die Existenz der BKB langfristig gefährdet. Die Belegschaft sah in Buschhaus deshalb eine Arbeitsplatzgarantie.

Am 17. Juni 1985 protestierte die Umweltgruppe Robin Wood gegen das Kohlekraftwerk Buschhaus direkt an der innerdeutschen Grenze mit einem Wachturm als Hintergrund.

In der politischen Ökonomie der Bundesrepublik hatten die Regionen entlang der innerdeutschen Grenze einen besonderen Status: Das »Zonenrandgebiet«, in dem sich die BKB befanden, galt als wirtschaftlich benachteiligt und erhielt entsprechende politische Aufmerksamkeit. In die Grenzbezirke flossen staatliche Subventionen zur Schaffung und Bewahrung von Industriearbeitsplätzen. Daher rührte die verbissene Unterstützung der Landesregierung für das dreckschleudernde Projekt. Die Grenznähe vergrößerte aber nicht nur die politische, sondern auch die ökologische Dimension von Buschhaus. Die Rauchschwaden des Kraftwerks waren nicht irgendein Umweltproblem, sie waren ein grenzüberschreitendes Umweltproblem. Zu einer Zeit, als die Bundesrepublik die DDR für ihre beispiellosen Schwefeldioxid-Emissionen rügte, war es diplomatisch unklug, ein Kohlekraftwerk ohne Filtertechnik direkt an der Grenze zum Nachbarn in Betrieb zu nehmen. Die Umweltaktivisten wussten das Stichwort der Grenzüberschreitung für ihre Zwecke zu nutzen. Am 17. Juni 1985, dem Tag der Deutschen Einheit, protestierte die Organisation Robin Wood an der Grenze. Ihr Banner, an Ballons über der Demarkationslinie schwebend, verkündete, dass Luftverschmutzung nun einmal keine Grenzen kenne – ein DDR-Wachturm bildete die Kulisse. Der Konflikt um Buschhaus war weit mehr als ein Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie. Er war geprägt von der Nähe zur innerdeutschen Grenze und erinnerte daran, dass Deutschland nach wie vor ein geteiltes Land war.

Dieses Buch untersucht die Bedeutung der innerdeutschen Grenze für das westliche Deutschland. Es betrachtet die Geschichte der »alten« Bundesrepublik und des Wiedervereinigungsprozesses aus der räumlichen Perspektive der westdeutschen Grenzgebiete, die entlang der Demarkationslinie des Kalten Krieges entstanden. Im Gegensatz zur Berliner Mauer verlief die 1393 Kilometer lange innerdeutsche Grenze vornehmlich durch ländliche Regionen – schier endlose Sperranlagen schlängelten sich über Wiesen und Felder. Doch in den westlichen Grenzregionen befanden sich auch Städte wie Lübeck, Wolfsburg, Braunschweig, Salzgitter, Göttingen, Kassel, Fulda, Coburg und Hof. Je nach wirtschaftlichem Profil entwickelten diese Städte und Landkreise aufgrund ihrer neu definierten geografischen Lage ihre je eigenen Defizite.

Die Regionen entlang der innerdeutschen Grenze waren der sensibelste geografische Raum der alten Bundesrepublik.2 Hier traf Westdeutschland in einer konkreten und alltäglichen Weise auf den ideologischen Gegner des Kalten Krieges, die DDR. Wollte der neue Weststaat erfolgreich sein, mussten die Segnungen seiner wirtschaftlichen, politischen und sozialen Ordnung jeden Winkel der Bundesrepublik erreichen. Im Grenzland mussten sich die westdeutschen Behörden mit den praktischen Folgen der Teilung auseinandersetzen, wollten sie diese Räume fest in das neue Staatsterritorium integrieren – Folgen, die sich in der lokalen Wirtschaft und Infrastruktur bemerkbar machten, sich als ideologische Konkurrenz im kulturellen Bereich manifestierten und die, wie die Buschhaus-Episode zeigt, in Umweltbeziehungen greifbar wurden. Hier spiegelten sich die längerfristigen Entwicklungslinien der Bundesrepublik nicht nur wider, hier wurden sie mitgeformt.

Das Buch folgt neueren Forschungen, die gezeigt haben, dass die Geschichte der innerdeutschen Grenze nicht allein aus der Diplomatie des Kalten Krieges oder im einseitigen Fokus auf die DDR verstanden werden kann. Vielmehr wurde sie durch Aushandlungsprozesse zwischen den beiden deutschen Staaten und dem alltäglichen Mit- und Gegeneinander der Deutschen auf beiden Seiten, durch das Geben und Nehmen, das sich sowohl in der »hohen« Politik als auch in lokalen Begegnungen entfaltete, wesentlich mitgeformt.3 Als sich die Grenze in den späten 1940er Jahren zuerst in der politischen Rhetorik und dann auch physisch verfestigte, schuf sie auf beiden Seiten neue Randgebiete. Auf DDR-Seite etablierte die SED-Führung 1952 eine fünf Kilometer tiefe Sicherheitszone nach sowjetischem Vorbild. Das Alltagsleben der Bewohner dieses Sperrgebiets wurde bis ins kleinste Detail reguliert und überwacht. Bis auf wenige Ausnahmen war es für Nichtansässige tabu und wurde als Pufferzone vor der eigentlichen Demarkationslinie zu einem integralen Bestandteil der Grenzbefestigungen.4 Von der engmaschigen und wenn nötig gewaltsamen Überwachung der »Staatsgrenze West« ausgehend, übertrug sich das Grenzregime wellenartig in den Sozialraum der DDR-Gesellschaft. Die konkrete »Grenzverletzung« am Eisernen Vorhang hatte ein Pendant im DDR-Alltag. Auch hier konnten Grenzen durch Nonkonformität und eigensinniges Verhalten »verletzt« werden. »Das Wissen um die Existenz dieser unsichtbaren Grenzen, und um die Risiken, sie unbedacht oder wissentlich zu ›verletzen‹«, schreibt der Historiker Thomas Lindenberger, »war praktisches DDR-Bürgerwissen.« Auf diese Weise erwies sich das Grenzregime als konstitutiv für die DDR. Lindenberger charakterisiert den SED-Staat deshalb als eine »Diktatur der Grenzen«.5

Auch in der Bundesrepublik entstand ein Grenzgebiet, allerdings wurde es den Menschen nicht von oben aufgezwungen, sondern entwickelte sich aus den wirtschaftlichen Konsequenzen der Demarkationslinie. Die Städte und Gemeinden entlang der Trennlinie zur sowjetischen Besatzungszone hatten zwar durchaus unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen, litten aber alle auf die eine oder andere Weise an der immer undurchlässiger werdenden Grenze. Um auf ihre Misere hinzuweisen, fanden sich gewählte Vertreter aus Bund, Ländern und Gemeinden sowie Repräsentanten aus Wirtschaft und Handel zusammen und verschafften sich als »Grenzlandfürsprecher« bei der frisch konstituierten Bundesregierung Gehör. Damit ihre Regionen nicht weiter ins Hintertreffen gerieten, forderten sie, als Ausgleich für die durch die Grenze verursachten wirtschaftlichen Beeinträchtigungen, staatliche Unterstützung. Zwar ließ Hilfe aus Bonn auf sich warten, doch als Mitte der 1950er Jahre erste Hilfsmaßnahmen in Gang kamen, wurde der Landstrich entlang der innerdeutschen Grenze in Westdeutschland als »Zonenrandgebiet« bekannt. Dabei kamen nicht nur Regionen entlang der Landgrenze mit der DDR in den Genuss von »Zonenrandförderung«. Zum Fördergebiet gehörten auch die schleswig-holsteinische Ostseeküste sowie der bayerische Grenzraum zur Tschechoslowakei. Mit einer Tiefe von 40 Kilometern umfasste das Zonenrandgebiet fast 20 Prozent des Territoriums der Bundesrepublik, knapp 12 Prozent der westdeutschen Bevölkerung lebten hier.6

Die innerdeutsche Grenze bei Rasdorf (Hessen) und Buttlar (Thüringen) in den 1960er Jahren.

»Zonenrandgebiet«: Der sperrige Name dieser Grenzregionen war selbst ein Produkt des frühen Kalten Krieges. Lange hielt sich in der Bundesrepublik die Gewohnheit, die DDR als »Zone« zu titulieren. Der Begriff implizierte, dass sich die DDR nicht wesentlich von der sowjetischen Besatzungszone unterschied, die sie bis Oktober...