Suchen und Finden

Titel

Autor

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Diese Vergangenheit nicht zu kennen heißt, sich selbst nicht zu kennen - Deutsche Geschichte im Zeitalter der Extreme

Diese Vergangenheit nicht zu kennen heißt, sich selbst nicht zu kennen - Deutsche Geschichte im Zeitalter der Extreme

Ernst Piper

 

Verlag Ch. Links Verlag, 2022

ISBN 9783862845149 , 352 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

18,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Diese Vergangenheit nicht zu kennen heißt, sich selbst nicht zu kennen - Deutsche Geschichte im Zeitalter der Extreme


 

Einleitung


Meine Eltern waren keine Helden.1 Sie taten das, was unvermeidlich war. Aber das, was man vermeiden konnte, taten sie nicht. Als die zuständige Ortsgruppe der NSDAP meinen Vater zu einem Gespräch einlud, schickte er einen Freund, den Komponisten Karl Amadeus Hartmann, der behauptete, Klaus Piper sei schwer krank und könne nicht kommen. 1940 wurde mein Vater Gesellschafter im väterlichen Verlag und fragte sich, ob er als „Betriebsführer“, der er nach dem Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. Januar 1934 nun war, vielleicht doch der Partei beitreten musste. Er holte sich Rat bei dem bayerischen Erzähler Wilhelm Dieß, der von Beruf Rechtsanwalt war und den Verlag in rechtlichen Fragen beriet. Dieß sagte ihm: „Sie müssen, lieber Piper, überhaupt nicht in die Partei. In keinem Fall!“2

Mein Großvater Reinhard Piper war Mitglied der Reichsschrifttumskammer, sonst hätte er seinen Beruf als Verleger nicht ausüben können. (Vgl. den Beitrag „Kunst ist eine erhabene und zum Fanatismus verpflichtende Mission“ in diesem Band.) Und für die Kammermitgliedschaft war ein Ariernachweis erforderlich, den er nolens volens erbrachte. Aber mein Großvater gehörte, wie auch die anderen Mitglieder meiner Familie, keiner nationalsozialistischen Parteiorganisation an. Das hat später vieles erleichtert. Es musste nichts verschwiegen oder verheimlicht werden. Im Gegenteil waren die jüngsten Ereignisse der deutschen Geschichte in meinem Elternhaus ein sehr präsentes Gesprächsthema, und das hat mich bleibend geprägt.

Ein entscheidendes Datum für meine politische Sozialisation ist das Jahr 1965. Im Mai wurde die KZ-Gedenkstätte Dachau mit einer ersten Dokumentarausstellung eröffnet. Meine Eltern besuchten sie bald nach der Eröffnung, weil sie der Überzeugung waren, das dort Dokumentierte gehöre zum notwendigen Grundwissen eines in Deutschland Heranwachsenden. Am 19. September 1965 fand die erste Bundestagswahl statt, die ich bewusst wahrnahm. Mein Vater hatte, gemeinsam mit seinem Verlegerkollegen Carl Hanser und anderen Vertretern des öffentlichen Lebens, in der Süddeutschen Zeitung zur Wahl der SPD aufgerufen. Solche öffentlichen Aufrufe waren damals noch ziemlich ungewöhnlich.

Im März 1965 war es zu einer Debatte im Deutschen Bundestag gekommen, da wenige Wochen später alle in der NS-Zeit begangenen und noch ungesühnten Mordtaten unter die damals 20 Jahre betragende Verjährungsfrist gefallen wären. 1960 hatte es eine erste Verjährungsdebatte über den Straftatbestand des Totschlages gegeben, der nach nur 15 Jahren verjährte. Die SPD-Fraktion beantragte damals, angesichts der unzureichenden Möglichkeiten der Strafverfolgung in der frühen Nachkriegszeit mit der Berechnung dieser Frist nicht schon 1945, sondern erst im September 1949 zu beginnen, doch der Antrag wurde von der Regierungsmehrheit verworfen.

1965 war die Situation anders als fünf Jahre zuvor. Der greise Bundeskanzler Adenauer hatte seinen Stuhl für seinen langjährigen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard geräumt. Der entscheidende Mann der CDU/CSU-Fraktion war nicht mehr der reaktionäre Fritz Schäffer, sondern Ernst Benda, den der sozialdemokratische Abgeordnete Martin Hirsch als „Sprecher der jungen deutschen Generation“ begrüßte. Benda stellte den Antrag, die Verjährungsfrist für Mord auf 30 Jahre zu verlängern. 1965 war die Zeit noch nicht reif für diese Idee, aber gleichzeitig war erkennbar, dass eine Mehrheit der Parlamentarier zu einem konstruktiven Ergebnis kommen wollte. Am Vorabend der Parlamentsdebatte veröffentlichte der Spiegel unter dem Titel „Für Völkermord gibt es keine Verjährung“ ein Gespräch zwischen Rudolf Augstein und Karl Jaspers, in dem Jaspers, der auch dem Auschwitz-Prozess als Zuhörer beigewohnt hatte, vehement für die Aufhebung der Verjährungsfrist plädierte.

Die Debatte vom 10. März 1965 wurde zu einer der Sternstunden in der Geschichte des Deutschen Bundestages. Einer der Höhepunkte war die Rede des sozialdemokratischen Rechtspolitikers Adolf Arndt, er schloss mit den Worten: „Es geht darum, dass wir dem Gebirge an Schuld und Unheil, das hinter uns liegt, nicht den Rücken kehren.“3 Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (CDU), der am 20. Juli 1944 verhaftet und vom Volksgerichtshof zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt worden war, dankte Arndt ausdrücklich für seine Rede, die Fraktionen von SPD und CDU/CSU applaudierten anhaltend.

Am Ende beschloss der Bundestag, den Beginn der Verjährungsfrist auf den 31. Dezember 1949 festzulegen, sodass immerhin vier Jahre Zeit gewonnen waren. Dafür stimmten alle Abgeordneten der SPD und 180 der 217 CDU/CSU-Abgeordneten. Die FDP votierte fast geschlossen dagegen. Justizminister Ewald Bucher (FDP) trat anschließend zurück. Im Jahr darauf bildeten CDU/CSU und SPD eine Große Koalition, Ernst Benda wurde bald darauf Bundesinnenminister, danach Präsident des Bundesverfassungsgerichts. 1969 setzte der Bundestag nach einer dritten Debatte die Verjährungsfrist für Mord auf 30 Jahre herauf, 1979 hob er sie nach einer vierten und letzten Debatte ganz auf.

Im April 1966 brachte mein Vater Jaspers’ Buch Wohin treibt die Bundesrepublik? heraus. Das Spiegel-Gespräch bildete den ersten Teil, es folgte eine Analyse der Verjährungsdebatte, außerdem eine kritische Bestandsaufnahme des politischen Zustands der Bundesrepublik Deutschland.4 Das Buch fand sehr große Beachtung und löste eine enorme Diskussion aus. 18 Wochen lang stand es auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste.5

Als am 1. Dezember 1966 der ehemalige Nationalsozialist Kurt Georg Kiesinger Bundeskanzler wurde, gaben Karl Jaspers und seine Frau Gertrud, die schon lange in Basel lebten, aus Protest ihre deutsche Staatsangehörigkeit auf und wurden Schweizer Bürger. Im März 1979, zur vierten Verjährungsdebatte, brachte mein Vater das Spiegel-Gespräch noch einmal in einer preiswerten Neuausgabe6 heraus und schickte auf eigene Kosten jedem Abgeordneten des Deutschen Bundestages ein Exemplar zu, weil ihm als liberalem Antifaschisten die weitere Verfolgung von NS-Verbrechen ein besonderes Anliegen war.

Zurück ins Jahr 1965. Neben dem Besuch der Gedenkstätte Dachau und der Verjährungsdebatte war ein drittes prägendes Erlebnis für mich das Hörspiel Die Ermittlung. Zugrunde lag ihm das Theaterstück Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen, in dem Peter Weiss mit den Mitteln des Dokumentartheaters den ersten Auschwitz-Prozess thematisiert. Am 19. Oktober 1965 wurde das Theaterstück simultan auf 15 verschiedenen west- und ostdeutschen Bühnen uraufgeführt, ein einmaliger Vorgang in der deutschen Theatergeschichte. Es beginnt mit dem „Gesang von der Rampe“ und endet mit dem „Gesang von den Feueröfen“. Die 20 Angeklagten treten mit ihren realen Namen auf, die etwa 400 Zeugen sind in neun anonymen Rollen konzentriert, die 24 Verteidiger zu einem einzigen Rechtsradikalen geronnen.

Die ungeheure Wirkung des Stückes lag vor allem in seiner dokumentarischen Kargheit begründet. Wenige Tage später gab es bereits eine dreistündige Hörspielfassung, die von allen ARD-Anstalten ausgestrahlt wurde und als Höhepunkt deutscher Hörspielkunst gilt. Ich hörte das Hörspiel heimlich unter der Bettdecke, da ich als 13-Jähriger eigentlich schon schlafen sollte. Das Theaterstück findet sich heute auf kaum einem Spielplan, aber das Hörspiel ist seit 2001 auch als Audiobuch lieferbar. Wer es einmal gehört hat, vergisst es nicht mehr.

Ein viertes prägendes Erlebnis sei hier genannt. Im Juni 1968 sprach Fritz Bauer an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität im Rahmen einer von der Humanistischen Union organisierten Vortragsreihe über „Ungehorsam in Geschichte und Gegenwart“. Es war seine letzte große öffentliche Rede, am 1. Juli starb er in seiner Wohnung in Frankfurt am Main. Die Humanistische Union stiftete damals in Andenken an ihren Mitgründer den Fritz-Bauer-Preis, der noch heute verliehen wird. Bauer hat nicht nur als Architekt des großen Auschwitz-Prozesses Rechtsgeschichte geschrieben. Er hat auch durch die Rehabilitierung des Widerstandsrechts einen entscheidenden Beitrag zur Ausbildung einer demokratischen Rechtskultur geleistet. (Vgl. den Beitrag Die Schuldfrage in diesem Band.)

1972 machte ich Abitur und studierte zunächst in München, dann in Berlin Geschichte. Nach meiner Promotion an der TU Berlin 1981 entschied ich mich gegen eine akademische Laufbahn und habe dann von 1982 bis 2002 als Verleger gearbeitet, bevor ich mich wieder intensiver der Welt der Wissenschaft zuwandte und mich 2006 an der Universität Potsdam habilitierte. Auch in meinen Jahren als Verleger habe ich mich jedoch immer sehr stark für Themen der deutschen Zeitgeschichte interessiert und engagiert. Ich will hier keine großen Titellisten...