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Geschichtstourismus - Theorie - Praxis - Berufsfelder

Geschichtstourismus - Theorie - Praxis - Berufsfelder

Wiebke Kolbe, Stefanie Samida, Irmgard Zündorf

 

Verlag utb, 2022

ISBN 9783846356456 , 186 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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22,99 EUR

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Geschichtstourismus - Theorie - Praxis - Berufsfelder


 

Tourismusgeschichte und Geschichtstourismus


Was ist Tourismus?


Reisen hat es in der menschlichen Geschichte schon immer gegeben, Tourismus hingegen nicht. Er entstand erst zeitgleich mit der modernen westlichen Gesellschaft, in der so genannten Sattelzeit, also Mitte des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts.

Die Sattelzeit ist eine Übergangsphase von der Frühen Neuzeit zur Moderne, angesiedelt etwa 1750 bis 1850. Der Begriff wurde von dem deutschen Historiker Reinhart Koselleck (19232006) geprägt. Er knüpft an die Metapher des Bergsattels an. Koselleck hebt vor allem darauf ab, dass in dieser Zeit Schlüsselbegriffe des politischen Denkens, wie ‚Staat‘, ‚Bürger‘ oder ‚Demokratie‘, einen tiefgreifenden Bedeutungswandel erfuhren. In der Geschichtswissenschaft ist Kosellecks begriffsgeschichtliches Konzept der Sattelzeit um andere Prozesse erweitert worden, die als charakteristisch für diese Übergangszeit gelten: der soziale Wandel von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, ein tiefgreifender demographischer Wandel, der Beginn der Industrialisierung und die Entwicklung neuer Verkehrsmittel sowie die Entstehung neuer Kultur- und Konsumformen.

Das Kennzeichen touristischer Reisen ist, dass sie zweckfrei sind, oder vielmehr: dass ihr vorrangiger Zweck das reine Vergnügen ist. Wenn Menschen in vormoderner Zeit reisten, taten sie das immer aus Notwendigkeit und zu ganz bestimmten Zwecken. Menschen in ur- und frühgeschichtlicher Zeit unternahmen Reisen auf der Suche nach neuen Nahrungsquellen und Siedlungsgebieten. Weitere wichtige Reisezwecke seit der Antike sind Handel und Arbeitssuche sowie das in allen Religionen verbreitete Wallfahren. In der Frühen Neuzeit kamen Entdeckungsreisen, zunächst aus wirtschaftlichen Gründen, später aus wissenschaftlicher Neugier, hinzu. Auch die Wanderschaften von Handwerksgesellen und die Grand Tour junger Adliger waren zweckgebunden; sie dienten der Ausbildung. Entdeckungsreisen, Pilgerreisen, Handelsfahrten und Arbeitsmigration gibt es bis heute. Hinzugekommen sind seit etwa 250 Jahren touristische Reisen, deren einziger Zweck darin besteht, fremde Orte und Länder um ihrer selbst Willen, aus reinem Vergnügen, kennenzulernen oder sich etwas Gutes zu tun. Nicht zufällig tauchte das Wort ‚Tourist‘ (von frz. tour = Reise) in den europäischen Wörterbüchern erstmals zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf, im Jahr 1800 zuerst im Englischen (auch das war kein Zufall, denn die ersten Touristen waren Briten), 1818 im Französischen und um 1830 im Deutschen.

Weshalb entstand der Tourismus zeitgleich mit der Moderne? Hans-Magnus Enzensberger hat in einem für die Tourismusgeschichte klassischen Essay von 1958 die Theorie entwickelt, dass touristische Reisen eine Flucht aus dieser neuen modernen Gesellschaft darstellten. Demnach ist es eine Flucht aus einer selbst geschaffenen Realität gewesen, die erst notwendig und möglich wurde durch eine ganz spezifische historische Konstellation: die Doppelrevolution, das heißt, die politische, bürgerliche Revolution einerseits und die wirtschaftliche, industrielle andererseits sowie die Romantik als Reaktion darauf. Das Freiheitsversprechen, das die bürgerliche Revolution enthalten habe, sei von der nachfolgenden restaurativen Gesellschaft nicht eingelöst worden, den Menschen jedoch in Erinnerung geblieben. Die Romantik habe die Freiheit verklärt und sie in die Fernen der Imagination entrückt, bis sie räumlich zur zivilisationsfernen Natur, zeitlich zur vergangenen Geschichte geronnen sei. Unberührte Landschaft und unberührte Geschichte seien so die Leitbilder des Tourismus geworden. Er sei nichts Anderes als der Versuch, den in die Ferne projizierten Wunschtraum der Romantik zu verwirklichen (Enzensberger 1958, 709).

Tourismushistoriker*innen teilen Enzensbergers Auffassung, dass der Tourismus in der Sattelzeit entstand, doch ist die Fluchtthese umstritten. Einig sind sich hingegen die meisten Tourismushistoriker*innen, dass die Entstehung des Tourismus mit einer veränderten Auffassung von Ästhetik und einer neuartigen Landschaftswahrnehmung einherging. Tourist*innen waren, anders als vormoderne Reisende, auf der Suche nach neuen Erfahrungen und Erkenntnissen. Der schwedische Kulturwissenschaftler und Tourismushistoriker Orvar Löfgren betrachtet Tourismus als ein kulturelles Laboratorium, in dem Menschen in der Lage sind, mit neuen Aspekten ihrer Identität, ihrer sozialen Beziehungen oder ihrer Interaktion mit der Natur zu experimentieren und dabei ihre Fantasie spielen zu lassen (Löfgren 1999, 7). Kennzeichnend für den modernen Tourismus war zudem, dass er sich rasch zu einem Massenphänomen entwickelte, das weit mehr als nur kleine Eliten der Bevölkerung erfasste. Dem amerikanischen Tourismussoziologen Dean MacCannell zufolge verkörpert ‚der Tourist‘ geradezu exemplarisch den modernen Menschen im Allgemeinen (MacCannell 1976, 1).

Während Tourismushistoriker*innen es bei einer Bestimmung dessen, was Tourismus ist, bei solchen Charakteristika belassen, versuchen Tourismussoziolog*innen und -wissenschaftler*innen, eine genauere Definition von Tourismus zu geben. Dabei geht es darum, ihn zeitlich und räumlich gegenüber Tagesausflügen einerseits und dauerhaftem Umzug andererseits abzugrenzen. Eine gängige Definition ist, dass eine touristische Reise einen Wechsel vom gewöhnlichen Aufenthaltsort an einen anderen Ort beinhaltet und mindestens 24 Stunden, maximal ein Jahr dauert. Die Reise soll freiwillig sein und das Geld, das am Zielort ausgegeben wird, soll nicht auch dort verdient werden. Diese Definition wird u.a. von der World Tourism Organisation (UNWTO) verwendet (Opaschowski 2002, 2123; Mundt 2013, 5f.), die jedes Jahr Statistiken über den weltweiten Tourismus veröffentlicht.

Die World Tourism Organisation (abgekürzt UNWTO, um sie nicht mit der World Trade Organisation [WTO] zu verwechseln) ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen mit Sitz in Madrid und rund 100 Mitarbeiter*innen. 2013 waren 155 Staaten und 450 Organisationen Mitglied der UNWTO. Sie versteht sich als internationales Forum für Tourismuspolitik und als eine Schnittstelle für zwischenstaatliche Kommunikation. Sie verfolgt das Ziel der Entwicklung eines nachhaltigen und für alle zugänglichen Tourismus und will damit weltweit zu ökonomischer Entwicklung, internationaler Verständigung, Frieden, Wohlstand und der Einhaltung der Menschenrechte beitragen. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist der Tourismus in Entwicklungsländern. Die UNTWO veröffentlicht jährlich Tourismusstatistiken, die den globalen Tourismus abbilden, und gibt Empfehlungen für die Harmonisierung verschiedener internationaler Tourismusstatistiken, beispielsweise der OECD und der EU.

Während für die geschichtswissenschaftliche Definition von Tourismus der Reisezweck entscheidend ist, spielt dieser bei der sozialwissenschaftlichen Definition lediglich eine untergeordnete Rolle. Die UNWTO-Definition von Tourismus umfasst nämlich auch Geschäftsreisen und Verwandtenbesuche und überhaupt alle Reisen, die die oben genannten Kriterien erfüllen. Aus rein praktischen Gründen können die Welttourismus- und andere Tourismusorganisationen den Reisezweck nicht zum Kriterium machen, weil das eine Befragung aller Reisenden voraussetzen würde. Die UNWTO erfasst in ihren Statistiken auch nur den internationalen Tourismus und erhebt jährlich seine internationalen Ankünfte, Ausgaben und Top-Destinationen.

In diesem Buch wird es dagegen häufig, aber nicht ausschließlich, um Inlandstourismus gehen. Der Schwerpunkt liegt auf Deutschland, doch es werden auch Beispiele aus anderen Ländern einbezogen. Die vorgestellten touristischen Angebote heben überwiegend auf Tourist*innen aus dem eigenen Land ab und sind daher in der Regel in der Landessprache gehalten. Einige richten sich aber auch an internationale Tourist*innen und sind mehr- oder zumindest auch englischsprachig.

Tourismus ist heutzutage ein integraler Bestandteil unserer Lebensführung, er ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Auch global spielt er eine bedeutende Rolle. Er ist der weltweit größte Dienstleistungssektor, steht für zehn Prozent des globalen Bruttosozialprodukts und sieben Prozent des weltweiten Handels. Einer von zehn Arbeitsplätzen weltweit ist im Tourismussektor angesiedelt, der jährlich um vier Prozent wächst. Unter den Nationen, die am meisten für Reisen ausgeben, stand Deutschland 2016 mit 81 Milliarden US-Dollar nach China (261 Mrd. US$) und den USA (122 Mrd. US$) weltweit an dritter Stelle (UNWTO...