Suchen und Finden

Titel

Autor

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Ethische Begriffe in biblischer Perspektive

Ethische Begriffe in biblischer Perspektive

Lukas Ohly

 

Verlag utb, 2022

ISBN 9783846358092 , 300 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

Geräte

24,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Ethische Begriffe in biblischer Perspektive


 

Einleitung


In der theologischen Ethik spielt die Bibel aktuell nur noch eine unbedeutende Rolle. Die Zeit, in der die biblischen Gebote auf Themen unserer Zeit angewendet wurden, ist vorbei. Man wittert fundamentalistische Motive, wenn man Abtreibung oder Homosexualität verbieten will mit unmittelbarem Bezug auf biblische Texte. Es stimmt auch: Man müsste zunächst mehrere Probleme lösen, bevor man die biblischen Gebote unmittelbar für heutige Konflikte anwendet. Zum einen müsste man klären, ob göttliche Gebote deshalb ethisch gerechtfertigt sind, weil sie von Gott stammen. Und indem man das klärt, verlässt man bereits den Ansatz, Gott zum Ursprung ethischer Rechtfertigung zu erheben. Daher müsste man, um diesen Widerspruch zu vermeiden, die Bibel fundamentalistisch lesen: Man darf dann nicht die Frage stellen, ob die göttlichen Gebote ethisch gerechtfertigt sind. Sie werden dann aber auch nicht für richtig gehalten, weil sie ethisch wären, sondern weil sie von Gott stammen. Eine fundamentalistische Position wehrt also die Aufgabe der Ethik ab, moralische Aussagen daraufhin zu überprüfen, ob sie sich ethisch rechtfertigen lassen.

Das zweite Problem, biblische Gebote unmittelbar zu verwenden, besteht darin, unterstellen zu müssen, dass die biblischen Gebote von Gott stammen. Historische Forschung jedoch gibt keinen Hinweis darauf. Die Entstehung der biblischen Gebote ist vielschichtig. Sie stammen aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen, sind teilweise den Religionen der Umwelt Israels entnommen und nicht an einem Ort am Berg Sinai Mose übermittelt worden. Und auch die Bergpredigt Jesu (Mt 5–7), der wohl prägnanteste ethische Text des Neuen Testaments, ist nur eine Stilisierung des Matthäusevangeliums und fasst dabei gesammelte Jesus-Worte aus unterschiedlichen Gelegenheiten und Quellen zusammen, von denen man nicht einmal sicher sein kann, ob sie Jesus wirklich gesprochen hat. Man vergleiche nur einmal die Bergpredigt mit der Feldrede aus dem Lukasevangelium (Lk 6), um die Unterschiede zu bemerken. Diese Differenzen lassen sich nicht einfach damit lösen, dass Jesus vielleicht zweimal eine entsprechende Rede gehalten hat. Denn dann hätte er auch verschiedene Gebote aufgestellt. Und welche sind dann gültig?

Jetzt immer noch die biblischen Gebote unmittelbar anzuwenden, würde wieder in einen Widerspruch führen: Denn man würde sie nur deshalb verwenden, weil sie in der Bibel stehen, und nicht, weil sie von Gott stammen. Vielmehr müsste man ja vorher klären, dass das, was in der Bibel steht, von Gott stammt. Und das kann man nicht allein mit biblischen Mitteln leisten.

Das sind die Hauptgründe, warum eine biblische Ethik nicht unmittelbar auf die Gegenwart angewendet werden darf: Sie ist sowohl ethisch als auch theologisch unzureichend. Inzwischen hat sich die Meinung durchgesetzt, die Bibel fasse religiöse Erfahrungen zusammen, die es deshalb auch wert sind, als einzelne Orientierungspunkte für Menschen mit religiösen Erfahrungen heute zu dienen. Die Bibel vermittelt dann keine einlinige Ethik, sondern liefert nur einzelne Schlaglichter. Das macht sie aber theologisch-ethisch nicht bedeutungslos. Es trifft auch nicht zu, dass man mit der Bibel nur moralische Unverbindlichkeiten äußern könne. Auch wenn die Bibel nicht von Gott stammt, thematisiert sie ihn, und zwar so, dass Christen von ihm gar nicht reden könnten, wenn es die Bibel nicht gäbe. Die Bibel thematisiert Gott dabei so, dass sie Verbindliches über ihn aussagen will, woran sich Menschen orientieren sollen.

Dieses Buch macht sich zur Aufgabe, die ethischen Verbindlichkeiten in der Bibel zu entdecken, die einer ethischen Überprüfung standhalten. Dabei nehme ich Begriffe auf, die entweder selbst biblisch sind (z. B. Gerechtigkeit) oder aus unserer Zeit stammen (Menschenwürde), und reflektiere dazu je einen biblischen Text, der ihre Bedeutung entfaltet. Natürlich gibt es für alle Begriffe auch Alternativtexte. Aber das macht die Interpretation der gewählten Texte nicht unverbindlich. Vielstimmigkeit mag für ein logisches System unzufriedenstellend sein. Im faktischen Leben jedoch fragen wir nicht, wenn wir vor einer ethischen Herausforderung stehen, ob ihre Lösung alle anderen Probleme mit löst. Vielmehr ist es umgekehrt: Unser Verhalten in einzelnen Fällen gibt uns eine Grundorientierung, um uns bei anderen Herausforderungen ähnlich zu verhalten oder den gleichen Weg einzuschlagen, wie wir nach einer Lösung suchen.

Im Zentrum dieses Buches werden dabei nicht biblische Gebote stehen, sondern eher biblische Beschreibungen und Interpretationen Gottes und der Menschen, die aber eine lebensorientierende Wirkung haben. Ein Beispiel: Sagt man, dass Gott die Ungerechten straft, so hat diese Aussage eine orientierende Wirkung, und zwar so oder so. Entweder werden Menschen dann versuchen, gerecht zu sein und darüber nachzudenken, worin Gerechtigkeit besteht. Oder sie werden sich gegen einen Gottesbegriff auflehnen, der Gott diese strafende Rolle zuweist. Dazu könnten sie sich über einen solchen Gottesbegriff lustig machen oder auch theologische Gründe suchen, die ihm widersprechen. Man kann sich also nicht unbetroffen stellen, wenn man mit der Ansage eines strafenden Gottes konfrontiert ist.

Es mag etwa auf dem ersten Blick überraschen, wenn ich zur Lösung auf die ethische Frage, was Gerechtigkeit ist, das Gleichnis vom Verlorenen Sohn behandle. Denn diese Geschichte enthält weder ein Gebot, noch beschreibt sie, worin Gerechtigkeit unter Menschen besteht. Und dennoch hat dieses Gleichnis eine orientierende Kraft auch für Gerechtigkeitsdiskurse. Kurz gesagt: Auch was nur über Gott gesagt wird, gibt doch zugleich eine ethische Orientierung für Menschen.

Dieses Buch richtet sich vor allem an Theologiestudierende sowie an Christen in theologischen Berufen. Es vermittelt zentrale ethische Begriffe, die Studierende brauchen, um erfolgreich ethische Themen zu bearbeiten. Und es dient als Nachschlagewerk für Religionslehrerinnen und -lehrer, die im Unterricht oft ethische Themen behandeln und dabei einer Grundlage bedürfen, die zwar pluralismusfreundlich ist, ohne dabei jedoch beliebig zu werden. Dazu benutze ich einschlägige Begriffe, die den Unterrichtseinheiten in Lehrplänen oder Schulcurricula oft vorangestellt sind. Ebenso brauchen Pfarrerinnen und Pfarrer zunehmend ethische Kompetenz. Das trifft zum einen auf die Frage zu, welche Prioritäten in der pfarramtlichen Tätigkeit angesichts von Arbeitsverdichtung zu setzen sind. Zum anderen berühren auch seelsorgerische Fragen ethische Themen. Da die Autonomie des Menschen in den letzten Jahrzehnten angewachsen ist, wächst auch der individuelle Entscheidungsdruck. Bis in Traupredigten, Beerdigungs- oder Taufansprachen fließen daher ethische Themen mit ein. Dabei soll das Buch eine Hilfestellung sein, um einen dritten Weg zu gehen. Weder soll in theologischen Berufen die ethische Normativität mit göttlicher Autorität verordnet werden, noch sollen die moralischen Bewertungsmaßstäbe von außen an biblische Texte angelegt werden. Vielmehr soll die Orientierungskraft biblischer Texte selbst zur Entfaltung kommen. Dass sie dazu fähig sind, für Fragen zu sensibilisieren, die ihre Verfasser damals noch nicht im Blick haben konnten, lässt sich sogar an aktuellen Themen wie dem der Digitalisierung zeigen.

Die vorliegende Auswahl biblischer Texte mag willkürlich anmuten. Die Gründe für die Auswahl lagen für mich daran, die dort enthaltenen moralischen Ansprüche nicht einfach hinzunehmen, sondern an ihnen eine Überprüfung ihrer normativen Plausibilität vorzunehmen. Eine theologische Ethik kann sich eben nicht einfach auf Bibelverse beziehen, um damit schon ihre ethische Richtigkeit festzustellen. Vielmehr vermitteln biblische Texte unterschiedliche Ahnungen ethischer Orientierungen. Wie daraus eine in sich stimmige und gerechtfertigte Leitorientierung wird, ist der ethischen Überprüfung überlassen. Insofern handelt es sich mit dem vorliegenden Arbeitsbuch nicht etwa um eine bloße Darstellung, sondern um die kritische Untersuchung, welche ethischen Horizonte biblische Texte zu Recht abstecken dürfen. Ihre kritische Überprüfung lässt sich davon leiten, dass ethisch valide Aussagen schlüssig und überzeugend sein sollen. Ich behaupte also nicht, dass ich einen einheitlichen Querschnitt einer biblischen Ethik rekonstruiert habe, den es vermutlich nicht gibt; denn dafür ist die Bibel zu vielstimmig. Vielmehr verstehe ich die Bibel als theologische Ressource, auf unterschiedliche Probleme einzugehen, die Menschen zwar zu anderen Zeiten gehabt haben, deren jeweilige Vorschläge die Bibel aber dennoch als Ideengeberin für die heutige...