Suchen und Finden

Titel

Autor

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Durch Schönheit zur Freiheit - Die Welt von Weimar-Jena um 1800

Durch Schönheit zur Freiheit - Die Welt von Weimar-Jena um 1800

Georg Schmidt

 

Verlag Verlag C.H.Beck, 2022

ISBN 9783406785573 , 389 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

22,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet freigegeben

Derzeit können über den Shop maximal 500 Exemplare bestellt werden. Benötigen Sie mehr Exemplare, nehmen Sie bitte Kontakt mit uns auf.

Mehr zum Inhalt

Durch Schönheit zur Freiheit - Die Welt von Weimar-Jena um 1800


 

Prolog – Freiheit und Schönheit


«Wir bleiben hier».[1] Diese trotzige Mahnung auf einem Pappkarton hing im Herbst 1989 am Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar. Die Botschaft des anonymen Schildermalers hielt diejenigen nicht auf, die zur Freiheit, zum besseren Leben und zum Konsum der schönen Dinge in den Westen strömten. Sie erinnerte aber auch daran, dass die beiden Klassiker trotz aller Unzulänglichkeiten und Ungewissheiten geblieben waren, weil sie vor Ort eine bessere Zukunft gestalten wollten. Sie hatten um 1800 von Weimar und Jena aus mit ihren Mitteln, der Literatur und den Wissenschaften, aufklären und durch Schönheit auf die möglich gewordene Freiheit vorbereiten wollen. Wenige Tage nach dem Fall der Mauer blickten die beiden an ihren Granitsockel gefesselten Klassiker auf die Menschen, die Schillers Festlegung, dass «es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freyheit wandert»,[2] allzu wörtlich nahmen und zu den schönen Dingen zogen. Er wollte die Leidenschaften, die in der Französischen Revolution zu Chaos und Barbarei geführt hatten, durch die Harmonie stiftenden schönen Künste zähmen. Zwei Jahrhunderte später drohten die Menschen jedoch erneut die wahre, die möglich gewordene weltbürgerliche Freiheit aus verständlichem, aber kurzsichtigem Egoismus zu verspielen. Damals hatte er gereimt: «Wenn sich die Völker selbst befrein;/Da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn».[3]

Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar mit dem Schild «Wir bleiben hier» (November 1989)

Goethe stand den Forderungen des Volkes skeptisch gegenüber: «Das Wort Freiheit klingt so schön, daß man es nicht entbehren könnte, auch wenn es einen Irrtum bezeichnete».[4] Freiheit war für ihn «die leise Parole heimlich Verschworner, das laute Feldgeschrei der öffentlich Umwälzenden, ja das Losungswort der Despotie selbst, wenn sie ihre unterjochte Masse gegen den Feind anführt und ihr vom auswärtigen Druck Erlösung für alle Zeiten verspricht».[5] Goethe hätte 1989 wohl gefragt, ob denn das Volk wirklich wisse, was es wolle, und er hätte «mehr Licht», mehr Aufklärung gefordert. Die Überlieferung seiner engen Vertrauten berichtet von seiner letzten Bitte, «macht doch den zweiten Fensterladen in der Stube auch auf, damit mehr Licht hereinkomme»,[6] nach der er am Morgen des 22. März 1832 verstorben war. Goethe hatte dem Licht als Wissenschaftler alle Geheimnisse entlocken, mit ihm als Dichter das Geheimnisvolle und Verborgene erhellen und als Politiker die Menschen anleiten, ihnen aber auch konkret helfen wollen. Sein Aufruf, «flieht die dunkle Kammer,/Wo man euch das Licht verzwickt»,[7] betont die Eigenverantwortung der Menschen: sie dürfen ihr Leben niemandem anders überantworten. Vielleicht wollte er in der Helligkeit des Lichts sterben, während die moderne Welt mit den Unruhen 1832 dem dunklen Abgrund von nationalistischer Borniertheit und Gewinnsucht, Umsturz und Kriegen entgegentaumelte.

Goethe, Schiller und die Dichter und Denker in der Doppelstadt Weimar-Jena hätten die kommunikative und wirtschaftliche Globalisierung am Ende des zweiten Jahrtausends nicht als Vorstufe der weltbürgerlichen Freiheit in Frieden und Humanität akzeptiert, die ihnen vorschwebte. 1989/90 siegten die Sachzwänge. Sie führten zur Restitution des deutschen Nationalstaates und zur Bildung neuer Nationalstaaten in Mittel- und Osteuropa. Hat die Geschichte damit die ästhetische Bildung und die gewiss vagen kosmopolitischen Zielvorstellungen der Klassiker widerlegt? Treffen die pointierten Angriffe der Germanisten und Kulturkritiker zu,[8] die Weimar zum Mythos, die Klassik zur Legende und den Musenhof zum Witwenplaisir erklären? Bestand das «Wesen der Weimarer Hofklassik» darin, «daß hier zwei hochbedeutende Dichter die Forderung des Tages bewußt ignorierten»?[9] Richtete sich deren Mahnung, die Macht-, Tages- und Parteienpolitik zu meiden, an die Bürger und Untertanen oder nur an die Schriftsteller und Künstler? Haben sie im Streben nach Schönheit, Klarheit und Einigkeit mit den Musenspielen die Nöte des Volkes aus den Augen verloren? Interessierten sie überhaupt die Lebenswelt ihrer Mitbürger und die sozialen Missstände in ihrem Umfeld? War für sie die Masse nur eine Kulisse und die Schreibhemmung Goethes angesichts hungernder Untertanen nur Rhetorik? Oder war – so die hier verfolgte These – ihre Inszenierung des schönen Scheins ein unterschätzter und verdrängter alternativer Politikentwurf zur Revolution und zur immensen Beschleunigung der Moderne? Könnte sich dessen Rekonstruktion auch zum Zweck des selbstreferentiellen Vergleichs angesichts der heutigen, die individuelle Vernunft außer Kraft setzenden algorithmischen Fremdbestimmung des Menschen lohnen?

Die frühen und höchsten Vergleiche «Weimars» mit Bethlehem, Athen oder der Arche Noah sollten Aufmerksamkeit erregen und auf den Anbruch einer neuen Zeit einstimmen, in der das verfügbare Wissen frei von moralischen Skrupeln und politischen Zwängen neu durchdacht, gedeutet und zusammengeführt wurde. Bei dieser Reunion des Disparaten und Getrennten bestimmten Menschen das Ziel, die Musen den Ton. Diese humane Dominanz scheint angesichts digitalisierter Informationsflüsse oder des Abgrunds der Klimakatastrophe heute nicht mehr gewährleistet. Um die Freiheit der Entscheidung zurückzugewinnen, könnten die verschütteten, dem Diskurs bisher entzogenen kosmopolitisch-freiheitlichen Vorstellungen wichtige Fingerzeige geben. Sie stehen am Ursprung der modernen Entwicklung des Immer-mehr, Immer-schneller und Immer-komplexer und setzen sich kritisch damit auseinander.

Die Weimar-Jenaer Dichter und Denker wollten Vorurteile, Aberglauben und fragwürdige Traditionen, vermeintliche Sachzwänge und Alternativlosigkeiten, Fehlentwicklungen und vor allem die Entfremdung als Preis des Fortschritts aufdecken und überwinden. Sie hielten die Umschaffung des Menschen, nicht des Systems für vordringlich. Neben dem Verstand und den Gefühlen, die eine inzwischen reflektierte Aufklärung beachtete, rückten sie als neuen Faktor die Musen – Literatur, schöne Künste und Wissenschaften – ins Zentrum ihrer Bemühungen, weil sie davon überzeugt waren, dass ihr schöner Schein Triebe und Leidenschaften beruhige und somit Harmonie verspreche. Die ästhetische Kultur war das neue Medium, das nicht nur die individuelle Bildung zum Wahren, Guten und Schönen, sondern zugleich auch eine Vermittlung zwischen den egoistischen Zielen des Menschen und den gesellschaftlichen Notwendigkeiten herbeiführen sollte.

Das Projekt Nationalstaat verdrängte allerdings schon im frühen 19. Jahrhundert die kosmopolitisch-freiheitlichen Zielvorstellungen. Die Klassiker, die Weimar zum Musenhain, Olymp und Parnass, zum Symbol nicht-machtstaatlicher Größe stilisiert hatten – ihr mit Abstand erfolgreichstes Werk[10] –, wurden als Beginn dieser zum Bismarckreich führenden Erfolgsgeschichte vereinnahmt. Das gab dem neuen Machtstaat geistig-kulturellen Glanz, machte die Klassiker unsterblich und Weimar zur Chiffre des Neuhumanismus. Wer hier das Authentische sucht, erliegt dem schönen Schein der Wirkungsstätten Goethes und Schillers, Wielands und Herders, der Regentin Anna Amalia und des Herzogs Carl August. Was wir sehen, ist keine Fata Morgana und keine Lüge, sondern der von der Imagination der Musen geleitete, die Sinne betörende Abglanz eines Geschehens, das in seiner vollen Tragweite erst in der wiederholten Spiegelung deutlich wird, die das Vorwissen und der zeitliche Abstand ermöglichen. Das seit 1998 zum Welterbe zählende Ensemble «Klassisches Weimar» taucht die nicht immer einzigartigen Bauten und Gärten in den Glanz des Ganzen, das nicht nur ästhetisch und kulturell, sondern auch politisch immer wieder neu zu deuten ist.

Nachdem Wieland und Goethe die kleine Residenzstadt zum Knotenpunkt der Welt erklärt hatten, erweiterte letzterer in den 1780er Jahren den Fokus auf die Jenaer Universität, um Literatur und Wissenschaften enger zu verbinden. Seine Freundschaft mit Schiller, der sich der Zukunft nach dem Terror in Frankreich nicht mehr durch die Rekonstruktion der Vergangenheit vergewissern, sondern jene durch die ästhetische Erziehung gestalten wollte, wurde zum Fundament des Klassischen. Jena, die «Stapelstadt des Wissens und der Wissenschaft»,[11] prägte mit ihren das «Ich» betonenden Gelehrten, den Frühromantikern und herausragenden Journalen den kulturpolitischen Anspruch Weimars maßgeblich mit, steht aber in dessen Schatten. Goethe akzentuierte dagegen 1807 die «Ehre des Weimar-Jenaischen Wesens, welches denn doch eigentlich nicht separirt werden kann, und bey...