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Metternich - Stratege und Visionär

Metternich - Stratege und Visionär

Wolfram Siemann

 

Verlag Verlag C.H.Beck, 2022

ISBN 9783406783708 , 990 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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18,99 EUR

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Metternich - Stratege und Visionär


 

EINLEITUNG


1. Ein Mann – sieben Epochen


Bereits zwölf Jahre vor dieser Paperback-Ausgabe ist eine schmale Monografie erschienen, in der ich mein Bild von Metternich in Umrissen skizziert habe. Ihr Dasein nötigt mir eine Erklärung ab. Ich kann die Lebensgeschichte dieses bedeutenden Staatsmannes hier nicht im gleichen Duktus, nur in erweiterter Form, wieder- und weitererzählen. Die gedrängte Form legte ehedem nahe, das Ergebnis vorwegzunehmen und mit einem Per­sönlichkeits- und Charakterbild des Mannes einzuleiten, das dem Leser ­eigentlich erst am Ende der Lebensbeschreibung hätte anvertraut werden sollen. Die große Form erlaubt einen anderen Zugang, denn sie macht mich freier. Sie schenkt mir eine andere Rolle – bildlich gesprochen die eines kundigen Wegbegleiters und Reiseführers, der den wissbegierigen Leser und die neugierige Leserin auf eine Reise durch die Vergangenheit mitnimmt. Wir werden uns gemeinsam zurückfallen lassen in Zeitalter und historische Landschaften, die uns Heutigen fremd geworden sind. Dabei ist über ein Leben zu berichten, das so viele historische Epochen vereinte, wie sie selten ein Staatsmann erleben, über ein ganzes Menschenalter von rund fünfzig Jahren mitgestalten und dann rückblickend kommentieren konnte.

Es sind – von den bis ins Mittelalter zurückreichenden Spuren der Metternichs einmal abgesehen – insgesamt sieben vergangene Landschaften, getrennt durch sechs historische Umbrüche, die immer wieder poli­tische Systemwechsel markierten und den Zeitgenossen den Weg vom sogenannten Ancien Régime in die Moderne des 19. Jahrhunderts bahnten. Es soll hier ein knapper Reiseprospekt entworfen werden, der im ­Voraus andeutet, was die Leser erwartet, die sich auf diese Fahrt einlassen wollen. Epochal wurde eine historische Erfahrung jeweils dann, wenn sie sich so gewaltig und nachhaltig in das kollektive Gedächtnis der Mitlebenden eingebrannt hatte, dass jene sie zeitlebens nicht mehr losließ und in ihren Gesprächen, Erinnerungen und Deutungen immer wieder auftauchte. Ich will zu jeder epochalen Zeiterfahrung zugleich andeuten, von welchen gegensätzlichen Blickwinkeln sie im Extrem wahrgenommen werden konnte.

1. Für Metternich reichte die erste seiner sieben Epochen von seinen frühen Kindheitsjahren bis ins prägsame Jünglingsalter (1773–1788). Diese Jahre ließen den empfindsamen Beobachter teilhaben an dem Gepränge und der Untergangsstimmung des Ancien Régime und ebenso an der intellektuellen Faszination einer die adligen und bürgerlichen Schichten durchdringenden Aufklärung. Dabei stifteten die Jahre zwischen etwa 1766 und 1777 eine noch näher zu beschreibende Generationsgemeinschaft der später geistig, politisch und militärisch führenden Köpfe der europäischen Welt. Für sie prägte die Geschichtsschreibung die Begriffe der «Generation Metternich» (* 1773) und – gleichsam spiegelbildlich – der «Generation Bonaparte» (* 1769).[1] Alle ihr Angehörenden waren eingebettet in das alte kosmopolitische Europa der aufgeklärten Gelehrsamkeit – distanziert in der geschäftigen Metropole London, ungestüm im flirrenden geistigen Brutofen von Paris, bedächtig und umständlich erörternd auf den Lehrkanzeln und in den Schreibstuben vieler deutscher Universitäts- und Residenzstädte, wo man die vielhundertjährige Tradition eines öffentlichen deutschen Rechts mit den Herausforderungen aufgeklärter Rationalität zu verbinden suchte.

2. Dieses alte kosmopolitische Europa zerbrach unter dem Ansturm einer doppelten Krise. Als die zuvor schon ausgebrochene Atlantische Revolution 1789 als Französische Revolution den Kontinent erfasste, zog sie den jungen Metternich und seine Familie tief in ihre Bahnen, indem sie die Rheinlande, die österreichischen Niederlande und die Generalstaaten überrollte. In einem ersten Krieg (1792–1797) versuchte eine Koalition aus Deutschen, Niederländern, Spaniern, Briten, Italienern und Russen, sich der neuen Zeit zu erwehren. Unter den Zeitgenossen hofften die einen noch verzagt auf die Reform der alten «deutschen Freiheit», während die anderen glaubten, ohne Terror («Terreur») den Widerstand der alten Mächte nicht brechen zu können.

3. Die nahezu 25 Jahre (1792–1815) eines kaum unterbrochenen Weltkriegs, wie man aus der Sicht heutiger Forschung ohne Übertreibung ­sagen kann, ließen Metternich erst als Gesandten, dann als Außenminister der österreichischen Monarchie den neuartigen Zusammenprall von Nationen und Imperien erfahren. Dieser Auseinandersetzung prägte Napoleon, die vermeintliche «Weltseele zu Pferde» (Hegel), seinen Stempel auf, für die einen der «Mann des Jahrhunderts», für die anderen der Ausdruck des übelsten Militärdespotismus. Diese Epoche verwirrte die Zeitgenossen und die unterworfenen Völker, weil sie blutige Kriege bisher nie gesehenen Ausmaßes hervorbrachte, zugleich aber Freiheit und moralischen Fortschritt der Menschheit verhieß. Der Mythos Napoleon schien dieses Doppelgesicht geradezu symbolhaft zu verkörpern. Was Krieg bedeutete, was er anrichtete und wie sich mit ihm auf neue Weise im Dienste des Fortschritts und der rücksichtslosen Vernichtung seiner Feinde operieren ließ: Das war ein weiteres generationsprägendes Erlebnis.

4. Die anschließende Epoche (1815–1830) umspannte die Rekonstruktion eines europäischen Staatensystems, das zwischen dem Wiener Friedenskongress von 1814 / 15 und den europäischen Revolutionen von 1848 / 49 als großer Mechanismus der Kriegs- und Revolutionsverhinderung arbeitete. Metternich agierte darin als der angebliche «Kutscher Europas», der selbst meinte, das fragile europäische Gebäude lasse sich nur immer wieder notdürftig flicken und stabilisieren, um wenigstens einem neuen großen europäischen Krieg auszuweichen, der nach seiner Sicht verheerender sein musste als alle anderen zuvor. Die Gegner erlebten diese Politik als das sogenannte Metternichsche System der «Restauration».

5. 1830 schien es so weit zu sein, als von Paris aus die Julirevolution den größten Teil des europäischen Kontinents, vor allem aber seinen Süden erfasste. Fortan schwankte die zeitgenössische Wahrnehmung zwischen einerseits der Hoffnung auf einen «Völkerfrühling», den nur eine große Erhebung, notfalls ein großer Krieg der verbündeten unterjochten Völker bringen könne, propagiert durch ein «Junges Deutschland», ein «Junges» Polen, Italien oder Ungarn, und andererseits der permanenten Furcht vor dem Ausbruch neuen unbezähmbaren Terrors, der den Zusammenbruch der Zivilisation bedeuten könne.

6. Die sechste epochale Erfahrung ging hervor aus den europäischen Revolutionen von 1848 / 49. Für die einen bedeuteten sie den Aufbruch zu geeinten nationalen Staaten mit freiheitlich-demokratischen Verfassungen. Für die anderen verkündeten die Revolutionen den Beginn einer Zeit des Exils, wie Metternich es erlebte, und eine nicht bewältigte Modernisierungskrise, welche die neuen nationalistischen Potenzen erst freisetzte und mit ihnen die Beziehungen zwischen den herkömmlichen Staaten zerstörte.

7. Die siebte Epoche schließlich umfasste die Revolutionsbewältigung, die «Reaktion» und – in der Habsburgermonarchie – die nachgeholte büro­kratische Modernisierung im Neoabsolutismus. Metternich beobachtete all das, wie sein erster großer Biograf schrieb, «aus der Loge» (Heinrich von Srbik); gleichwohl zog er noch mehr, als man bisher wusste, aus dem Hintergrund die Fäden, und sein Rat war in den eingeweihten politischen Kreisen weiterhin gefragt. Diese Periode ging über den Zusammenbruch des «Wiener Systems» im Krimkrieg (1853–1856) hinaus und reichte bis zu den ersten Kämpfen der entstehenden Nationalstaaten. Ungewollt wurde die Habsburgermonarchie seit 1859 in diese Staatsbildungskriege hinein­gezogen, und Metternich, der im selben Jahre starb, sah sein Erbe, wenn es ein solches gab, letztendlich verspielt.

Sieben epochenprägende Erfahrungen reihten sich für ihn also aneinander: Aufklärung, Französische Revolution, Krieg als permanente Existenzbedrohung, europäische Rekonstruktion («Restauration»), «Völkerfrühling», revolutionäre Modernisierungskrise und staatsbildende Nationalitätenkonflikte. Jede einzelne hätte in anderen Zeiten für eine Generation ausgereicht – hier erlebte sie ein Mann alle nacheinander in einer Person. Was machte dies mit ihm? Metternich sah als Abkömmling eines traditions­reichen Grafengeschlechts und zugleich als aufgeklärter Freigeist alte Ordnungen untergehen, die Existenz seines Hauses beinahe eingeschlossen; vor seinem Auge entstanden neue Ordnungen, an denen er mitwirkte, und er musste sich durch Diskurse bewegen, die von der alteuropäischen («feudalen») Ständegesellschaft in den marktorientierten Kapitalismus führten. Er kam aus dem von bäuerlichen Untertanen getragenen Reichsadel und wuchs als Besitzer einer Eisenhütte mit 400 Arbeitern in den Stand eines früh­industriellen Fabrikanten hinein.

Frühere Biografien Metternichs gingen ausnahmslos von einem fast statischen Persönlichkeitskern aus. Ob die einschneidenden, systemstürzenden Erfahrungen seiner Zeit nicht auch in diesem Leben ihre Spuren und Wandlungen hinterlassen haben könnten, blieb unbedacht. Metternich war von frühester Jugend an bis ins höchste Alter ein Homo scribens, ein Intellektueller, den viele irrtümlich als unbeweglichen Doktrinär abstempelten, auch sein führender Biograf Heinrich von Srbik. Doch dieser Intellektuelle versicherte sich durch seine unentwegten schriftlichen Äußerungen immer neu seiner Beweggründe und Ziele. Er las ohne...