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Montaigne - oder Das Glück, mit Büchern zu leben

Montaigne - oder Das Glück, mit Büchern zu leben

Sarah Bakewell

 

Verlag Verlag C.H.Beck, 2022

ISBN 9783406777592 , 112 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,49 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet freigegeben

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Montaigne - oder Das Glück, mit Büchern zu leben


 

PROLOG

Über sich selbst schreiben


Die Welt des 21. Jahrhunderts ist voll von Menschen, die sich intensiv mit sich selbst beschäftigen. Ein halbstündiger Streifzug durch das Meer von Blogs und Tweets, von Tubes, Spaces, Faces, Pages und Pods erbringt eine reiche Ausbeute an Individuen, die von sich selbst fasziniert sind und nach Aufmerksamkeit gieren. Sie kreisen um sich selbst. Sie schreiben Tagebuch, sie chatten und stellen ihre Fotos ins Netz. Hemmungslos extrovertiert, sind sie zugleich auf beispiellose Weise introspektiv. In einer gemeinsamen großen Feier des Ichs teilen Blogger und Networker ihre intimsten Erfahrungen miteinander.

Ein paar Optimisten haben versucht, diesen globalen geistigen Austausch zum Ausgangspunkt einer neuen Art der Kommunikation zu machen. Der Historiker Theodore Zeldin hat die Webseite «The Oxford Muse» ins Leben gerufen und fordert die Menschen auf, ihr Alltagsleben, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten in kurzen Selbstporträts zu beschreiben, die von anderen gelesen und kommentiert werden können. Für Zeldin ist diese öffentliche Form der Selbstdarstellung der beste Weg, Vertrauen und Kooperation zu fördern und stereotype Vorstellungen von Menschen aus anderen Ländern durch ein realistisches Bild von Individuen zu ersetzen. Das große Abenteuer unserer Zeit, sagt er, bestehe darin, «zu entdecken, wer diese Welt bewohnt, und zwar jeden Einzelnen». «The Oxford Muse» ist daher angefüllt mit persönlichen Texten und Interviews, die Titel tragen wie:

Warum eine gebildete Russin als Reinigungskraft in Oxford arbeitet.

Warum der Friseurberuf das Perfektionsbedürfnis befriedigt.

Wie man anhand eines Selbstporträts erkennt, dass man nicht der ist, der man zu sein glaubt.

Was man entdecken kann, wenn man nicht trinkt oder tanzt.

Warum man schriftlich mehr über sich preisgibt als mündlich.

Wie man gleichzeitig erfolgreich und faul sein kann.

Wie ein Koch seine Menschenfreundlichkeit zum Ausdruck bringt.

Indem die Teilnehmer beschreiben, worin sie sich von allen anderen unterscheiden, verraten sie, was sie mit allen anderen gemeinsam haben: ihr Menschsein.

Diese Idee, über sich selbst zu schreiben und damit anderen einen Spiegel vorzuhalten, existierte durchaus nicht immer. Sie musste erst in die Welt gesetzt werden. Und anders als bei vielen anderen kulturellen Erfindungen lässt sich in diesem Fall eine bestimmte Person als Schöpfer dingfest machen: Michel Eyquem de Montaigne, ein Adliger, Staatsbeamter und Besitzer eines Weinguts, der zwischen 1533 und 1592 im Périgord im südwestlichen Frankreich lebte.

Montaigne etablierte diese Idee schlicht dadurch, dass er sie praktisch umsetzte. Anders als den meisten Memoirenschreibern seiner Zeit ging es ihm nicht darum, seine Verdienste und Leistungen zu dokumentieren. Er lieferte auch keinen Augenzeugenbericht historischer Ereignisse, obwohl er auch das hätte tun können: Er lebte in einer Zeit der religiösen Bürgerkriege, die sein Land verwüsteten, während die Idee zu den Essais in ihm reifte und er zu schreiben begann. Seine Generation wuchs ohne jenen hoffnungsvollen Idealismus auf, der die Generation seines Vaters geprägt hatte. Montaigne trotzte den Wirrnissen seiner Zeit, bewirtschaftete sein Landgut, nahm als Gerichtsrat an Prozessen teil und führte Bordeaux als Bürgermeister mit so leichter Hand wie niemand vor und wie niemand nach ihm. Und während dieser ganzen Zeit schrieb er introspektive, ziellos mäandernde Texte, denen er schlichte Titel gab:

Über die Freundschaft

Über die Menschenfresser

Über den Brauch, Kleider zu tragen

Wie wir über ein und denselben Gegenstand lachen und weinen

Über Namen

Über Gerüche

Über Grausamkeit

Über die Daumen

Wie unser Urteilsvermögen sich selbst behindert

Über die Ablenkung

Über Wagen

Über die Erfahrung

Insgesamt verfasste er einhundertsieben solcher Essais. Manche sind ein, zwei Seiten lang, andere sehr viel umfangreicher, so dass neuere Gesamtausgaben als dicke Wälzer daherkommen. Diese Essais wollen weder rechtfertigen noch belehren. Montaigne präsentiert sich in ihnen als jemand, der alles notierte, was ihm durch den Kopf ging, sobald er die Feder zur Hand nahm, um Begegnungen und Bewusstseinszustände festzuhalten. Diese Erfahrungen bildeten für ihn den Ausgangspunkt, um sich Fragen zu stellen, allen voran die große Frage, die ihn wie viele seiner Zeitgenossen bewegte und die sich in vier Worte fassen lässt: «Wie soll ich leben?»

Das ist nicht dasselbe wie die ethische Frage: «Wie sollte man leben?» Moralische Zwickmühlen interessierten Montaigne zwar auch, aber sein Interesse galt weniger dem, was die Leute tun sollten, als dem, was sie tatsächlich taten. Er wollte wissen, wie man ein gutes Leben führen kann: ein richtiges und redliches Leben, das gleichzeitig zutiefst menschlich, befriedigend und gedeihlich ist. Diese Frage drängte ihn zum Schreiben und Lesen über das menschliche Leben in Gegenwart und Vergangenheit. Er machte sich unablässig Gedanken über die Gefühle und Motive, die hinter dem steckten, was die Menschen taten. Und da er mit sich selbst das Exemplar eines solchen Menschen vor Augen hatte, der seinen alltäglichen Geschäften nachging, machte er sich ebenso viele Gedanken über sich selbst.

Titelblatt der 1588 in Paris gedruckten Ausgabe der «Essais»

«Wie soll ich leben?» ist eine pragmatische Frage, die sich in eine Vielzahl gleichermaßen pragmatischer Fragen aufsplittert. Wie alle Menschen rang auch Montaigne mit den großen Rätseln der menschlichen Existenz: mit der Todesangst, dem Tod seiner Kinder und dem Verlust eines geliebten Freundes, mit dem eigenen Scheitern und der Frage, wie man aus jedem Augenblick das Beste machen kann, um das Leben voll auszuschöpfen. Aber auch alltäglichere Fragen beschäftigten ihn: Wie entgeht man einem fruchtlosen Streit mit seiner Frau oder einem Bediensteten? Wie ist ein Freund zu beruhigen, der sich einbildet, er sei verhext worden? Wie kann man eine weinende Nachbarin aufmuntern? Wie sein eigenes Haus schützen? Was ist die beste Strategie, wenn man sich in der Gewalt bewaffneter Räuber befindet, die nicht wissen, ob sie einen töten oder als Geisel festhalten sollen? Ist es klug, sich einzumischen, wenn man die Erzieherin seiner Tochter etwas sagen hört, was den eigenen Grundsätzen widerspricht? Wie geht man mit einem üblen Raufbold um? Was sagt man seinem Hund, der zum Spielen ins Freie will, während man selbst lieber am Schreibtisch sitzen und an seinem Buch weiterarbeiten möchte?

Montaigne gibt keine abstrakten Antworten, sondern teilt uns mit, was er selbst in der jeweiligen Situation getan hat. Er liefert uns die konkreten Details – und manchmal noch viel mehr. Ohne besonderen Grund teilt er uns mit, das einzige Obst, das er gern esse, seien Melonen; dass er Sex lieber im Liegen als im Stehen mache; dass er nicht singen könne, anregende Gesellschaft schätze und im Eifer des Gefechts manchmal Rundumschläge austeile. Er beschreibt aber auch Gefühle, die schwerer in Worte zu fassen oder auch nur wahrnehmbar sind: Wie es ist, faul zu sein, mutig oder unentschlossen; wenn man seiner Eitelkeit nachgibt oder versucht, sich von einer alles beherrschenden Angst zu befreien. Er schreibt sogar über das schiere Gefühl, am Leben zu sein.

Montaigne beschäftigte sich mehr als zwanzig Jahre lang mit solchen Phänomenen, er stellte sich selbst immer wieder in Frage und zeichnete schreibend ein Bild seiner Person. Auf diese Weise entstand ein sich beständig veränderndes Selbstporträt, das bis heute so lebendig ist, dass der Leser das Gefühl hat, Montaigne trete aus den Buchseiten heraus, setze sich neben ihn und lese mit. Montaigne sagt zuweilen überraschende Dinge. Vieles hat sich verändert, seit Montaigne vor fast fünfhundert Jahren geboren wurde, und weder die von ihm geschilderten Verhaltensweisen noch die Ansichten und Überzeugungen sind für uns heute immer nachvollziehbar. Dennoch: Montaigne zu lesen bedeutet, erschrocken festzustellen, wie vertraut er uns ist. Der zeitliche Abstand zwischen ihm und dem Leser des 21. Jahrhunderts scheint aufgehoben. Viele Leser erkennen sich in ihm in ähnlicher Weise wieder, so wie die Besucher der Webseite «The Oxford Muse» in der Geschichte der gebildeten russischen Putzfrau oder in der Beschreibung eines Menschen, der aufs Tanzen verzichtet, Facetten ihrer selbst erkennen.

Die meisten Menschen, die Montaignes...