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Unser Haus dem Himmel so nah

Unser Haus dem Himmel so nah

Shahla Ujayli

 

Verlag Kupido Literaturverlag, 2022

ISBN 9783966750257 , 350 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR

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Unser Haus dem Himmel so nah


 

Abendgesellschaften


Am 28. April 1947, einem Montag, erlebte Aleppo einen strahlenden Frühlingstag. Die Sonne spendete trotz der dichten weißen Wolkendecke schon so viel Wärme, dass viele ihre Angelegenheiten für diesen Nachmittag ruhen ließen und in den Grünflächen am Fluss spazieren gingen, dort, wo Jahre später nach dem Vorbild der Gärten von Versailles der berühmteste öffentliche Park des Orients entstehen sollte.

Am Nordufer, im Herzen der Stadt, lag das Viertel Azizieh, und dort, wo man zum Bahnhof abbog, stach die elegante Villa aus roséfarbenem Aleppo-Stein des Rechtsanwalts Bahdjat al-Haffar hervor, von deren Balkon aus man den Park überblicken konnte.

Noch zwei Stunden blieb der Aprilhimmel den Spaziergängern gewogen, dann blitzte und donnerte er los. Gerade als es aus den Wolken zu schütten begann, klingelte Bahdjat Beys Telefon. Seine Frau Madiha Hanim betrat mit zwei Tassen Kaffee und einem Glas Wasser auf einem Tablett sowie einer kleinen Vase, in der zwei schneeweiße Jasminblüten standen, das Zimmer. Ihr Mann legte auf. Alle Zuversicht war aus seinem Gesicht gewichen. Er wartete, bis sie Platz genommen und den Kaffee abgestellt hatte. Zuerst nahm er einen Schluck, dann sie: »Mach dich und die Kinder bereit, wir fahren nach Damaskus!«, sagte er nüchtern.

Madiha Hanim geriet in Aufregung, bewahrte jedoch die Fassung. Sie hatte schon mehrere Tage mit einer solchen Nachricht gerechnet. Seit ihr Mann seine politische Laufbahn angetreten hatte, war sie auf Notfälle gefasst.

Das Jahr 1946 war für das Leben der Syrer ziemlich chaotisch gewesen, und es sollte auch in den folgenden Jahren so bleiben. Mehrere Mitglieder des Nationalen Blocks hatten sich abgespalten und die Volkspartei gegründet, während die Verbliebenen den Namen »Nationaler Block« für ihre Partei behielten. Die Volkspartei wurde von einem Zusammenschluss wohlhabender Bürger unterstützt, an vorderster Front Nazim al-Qudsi und Ruschdi al-Kichya, die aus persönlichem Interesse für eine Wirtschaftsunion mit dem Irak plädierten. Obwohl Aleppo, die Geburtsstadt von Bahdjat Bey, eine Hochburg seiner Partei war, hatte er sich der Union deutlich entgegengestellt und in Kauf genommen, dass sich die Parteibasis, wie auch ihre Führer von ihm abwendeten. Vielleicht gingen die Reaktionen sogar über eine Ächtung und den Beziehungsabbruch hinaus, jedenfalls hatte er beschlossen, Aleppo deshalb zu verlassen und mit seiner Familie in Damaskus zu leben, bis sich die Parteienlandschaft in Syrien wieder stabilisiert hatte.

Kaum hatte sich Bahdjat Bey in Damaskus eingerichtet, gingen seine alten Freunde aus Aleppo, hohe Regierungsbeamte, Politiker und Professoren der Syrischen Universität, in seinem Haus ein und aus. Sie suchten dort den lebendigen Geist ihrer Stadt und fanden ihn in Unterhaltungen und Diskussionen, die sich in erster Linie um Politik und die Kochkunst drehten. Denn, was Geschmack, Können und Vielfalt betraf, waren sich die Aleppiner ausnahmsweise über die weltweite Einmaligkeit ihrer Küche einig.

Vorrausschauend hatte Bahdjat Bey ein geräumiges, freistehendes Haus gekauft. Es lag an der neuen Verbindungsstraße zwischen den alten Damaszener Vierteln Muhadjirin und Salihiye und führte mitten durch das Viertel Abu Rummana, am Mausoleum des unbekannten wohltätigen Heiligen vorbei. Dort hatte der Legende nach vor langer Zeit ein Granatapfelbaum, auf Arabisch »Rummana«, Schatten gespendet und dem Viertel seinen Namen gegeben. Später, als die französischen Streitkräfte abzogen, nannte man das Viertel zwar in Scharia l-Djalaa um, also: »Straße des Abzugs«, doch, wie so oft, hielten die meisten an dem gewohnten Namen fest.

Bahdjat Bey kam nach Damaskus, als das staatliche Rundfunkhaus gerade seinen Betrieb aufnahm. Und in dem angegliederten Musikinstitut hatte sein Freund, der Scheich Umar al-Batsch, seine Dozentenstelle für die Kunst des arabisch-andalusischen Strophengedichts, die »Muwaschschaha«, angetreten.

Scheich Umar al-Batsch kannte mehr als tausend Muwaschschahas auswendig und hatte einige später sehr berühmte Strophen vertont, an denen der große ägyptische Musiker Sayed Darwisch gescheitert war. Außerdem hatte Umar al-Batsch den Samah-Tanz studiert und ihn aus dem Derwischkloster geholt und im Musiktheater etabliert. Im Haus von Bahdschat Bey wurde Umar al-Batsch zum häufig gesehenen Gast. Dank seines Genies ließ sich der Geist ihres alten Freundeskreises in Aleppo erwecken. Umar al-Batsch nahm dann wie früher vor den Freunden Platz, im Arm seine kostbare Oud, die ihm der syrische Gouverneur Cemal Pascha als Kind geschenkt hatte, stimmte sie und begann zu singen.

Wann immer bei diesen Abendgesellschaften, die an jedem Donnerstag bei Bahdschat Bey stattfanden, ein neuer Gast zu begrüßen war, forderte der Hausherr seinen Freund auf, eine bestimmte Anekdote über den Sänger Muhammad Abd al-Wahab zu erzählen. Dann begann Umar al-Batsch, den roten türkischen Tarbusch auf dem Kopf, aber in einem europäischen Anzug, mit seiner melodischen Stimme, wobei er stets besonderen Wert auf die Betonung des arabischen Buchstaben »Gim« legte:

»Im Jahre 1934 besuchte Muhammad Abd al-Wahab Syrien und gab Konzerte in Aleppo und Damaskus. Als er zu seinem ersten Konzert in unserer Stadt kam, stutzte er, denn der Saal war fast leer. Höchstens zehn, zwanzig Zuhörer hatten sich eingefunden. Unwillig begann er zu singen, denn er war es gewohnt, vor großem Publikum aufzutreten. Trotzdem sang er wunderbar. Nachher versammelten wir uns um ihn und erklärten zu seinem Erstaunen, dass er die Prüfung bestanden habe. Bei seinem nächsten Konzert werde der Saal vor Kunstliebhabern förmlich aus den Nähten platzen.

Diese Prüfung verzieh uns Abd al-Wahab nicht, und als wir ihn daraufhin zum tatsächlichen Konzert einluden, wo er seine Meisterwerke vor echtem Publikum vortragen sollte, bat er Scheich Ali Darwisch und mich in aller Öffentlichkeit, auf der Oud eine Muwaschschaha nur im Maqam Sikah vorzutragen. Alle waren erstaunt über diese Bitte, denn keine Muwaschschaha konnte nur im Maqam Sikah vorgetragen werden, man musste die Maqams Sikah und Chuzam, wie sie bei den Arabern heißt, beziehungsweise Hüzzam, wie die Türken sie nennen, abwechseln. Eine reine Sikah Komposition ist fast unmöglich. Tapfer akzeptierte ich die Aufgabe und prahlte:

›Aber gern! Kommen Sie morgen Abend ins Konzert, dann werden Sie so etwas von uns hören!‹

Nach dem Konzert machte mir Scheich Ali Darwisch heftige Vorwürfe wegen meiner Prahlerei: ›Du weißt doch genau, dass sich zu einer reinen Sikah Tonfolge keine Muwaschschaha schreiben lässt, warum also hast du uns das angetan?‹

›Wäre es nicht beschämend, wenn Abd al-Wahab in Aleppo kein Wunder erlebte?‹

Die ganze Nacht war ich aufgeblieben und hatte sogar zwei Muwaschschahas geschrieben, die ganz ohne den Wechsel zur Chuzam auskamen. Am nächsten Tag bestellte ich zwei Chöre zu mir, die meine Muwaschschahas einübten und schließlich ganz wunderbar sangen. Abd al-Wahab aber war überwältigt, als hätte er erst an jenem Abend das Komponieren erlernt.«

An diesen überschwänglich fröhlichen, nur von politischen Sorgen getrübten Abenden saß in einem kleinen, an den Hauptsaal angrenzenden Zimmer ein fünfjähriges Mädchen mit seiner Mutter und seinen Geschwistern und lauschte dem Gesang. Immer wieder sprang die Kleine von ihrem Platz auf, lief zur Tür, um zuzusehen, oder begann unbemerkt zu tanzen.

Dieselbe Kleine lernte später die Oud zu spielen und tanzte mit ihren Freundinnen bei der Jahresfeier ihrer Schule, der Dawhat-al-Adab, einen Samah auf der Bühne. Sie wurde von allen bewundert, als sie Ibn Zaiduns berühmteste Muwaschschaha »Ich ging nicht fort aus Hass, mein Schatz« anstimmte, die Scheich Umar al-Batsch vertont hatte, und erntete herzlichen Applaus für ihre von kindlicher Unschuld geprägte Stimme.

Aus dieser Kleinen mit dem rosa Band im blonden Haar und den weißen Söckchen wurde Frau Schahira al-Haffar. Heute war ihre Beerdigung.

*

Ich saß im Transitraum und wartete darauf, das Gate zum Flugzeug passieren zu dürfen. In der Zwischenzeit beobachtete ich durch die Glasscheibe das unablässige Kommen und Gehen der Angestellten und Fluggäste. Für einen unbeschwerten Beobachter sind Reisende ein ganz besonderes Vergnügen. Wenn die Menschen vorübergehend befreit sind aus dem Gravitationsfeld der Welten, denen sie sonst angehören, verhalten sie sich spontaner und verstellen sich weniger. Die meisten machen sich hier bereit für den Beginn einer neuen Geschichte, denn Flughäfen sind ein Trittbrett für Geschichten. Für uns Syrer gilt dies vielleicht ganz besonders. Allein die Tatsache, den letzten Schalter einer Passkontrolle passieren zu dürfen, bestätigt, dass wir bei keiner geheimdienstlichen, nationalen oder internationalen Stelle auf der Fahndungsliste stehen, und wir halten erleichtert das Dokument der Wiedergeburt in den Händen. Dieses Gefühl bleibt keinem von uns erspart, nicht einmal denen, die im Leben kein einziges Wort über Politik verloren haben, denn wir alle rechnen ständig damit, dem Geheimdienst in die Fänge zu geraten, und sei es auch nur aufgrund einer Namensverwechslung.

Als der Bodensteward erklärte, das Gate sei geöffnet, ging ich mit vier anderen zum Schalter der ersten Klasse, um mich dort anzustellen. Dabei passte ich meine Schritte dem gelassenen Gang des Mannes vor mir an. Nachdem unsere Reisepässe kontrolliert worden waren, sah ich sein Gesicht, das erschöpft und resigniert wirkte. Er war vielleicht in den Fünfzigern, mit heller Haut und hellem Haar, mittelgroß und recht schlank. In seinen Bluejeans, dem schwarzen Hemd und den schleifenlosen...