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Die Weisheit des Traumas - Mit Herz und Gehirn zur Heilung

Die Weisheit des Traumas - Mit Herz und Gehirn zur Heilung

Anouk Bindels

 

Verlag EchnAton Verlag, 2022

ISBN 9783964420459 , 424 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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19,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Die Weisheit des Traumas - Mit Herz und Gehirn zur Heilung


 

1. Im Trauma gefangen



Der buddhistischen Lehre zufolge bereitet uns
das Leben selbst auf Leben und Tod vor.
Sie besagt, dass wir nicht auf den schmerzhaften Tod
eines Menschen warten müssen, um unser eigenes
Leben zu betrachten.

Auch müssen wir nicht auf eine Krise oder ein
traumatisches Erlebnis warten.

Sie sagt außerdem, dass wir,
je bewusster wir leben, dem Schmerz des Verlustes
nicht mit leeren Händen gegenüberstehen müssen.1


Wir alle können hier und jetzt den Sinn des Lebens finden! Nach jenem Tag, an dem mein Liebster sich das Leben nahm, stand ich leider doch mit leeren Händen da. Ich verlor den Sinn meines Lebens ganz und gar und fand keinen Ansatz, um mit dieser überwältigenden Erfahrung, mit dem emotionalen Schmerz umgehen zu können. Das Erlebnis warf mich um und versetzte mich in eine vollkommen neue, entsetzliche und sehr schmerzhafte Realität.
Seit über 25 Jahren arbeite ich mit traumatisierten Menschen und Familien und weiß, dass viele geistige und körperliche Beschwerden aus traumatischen Erfahrungen entstehen. Die Spuren, die diese hinterlassen, liegen oft im Unbewussten verborgen. Im Kern eines jeden Traumas stecken Isolation und Angst. Beide verursachen starke Veränderungen in Gehirn und Körper.
Mein Leben lang war ich auf der Suche nach einem Ausweg aus einer mir unverständlichen Angst, einer Angst, die ich immer bei mir trug. Sie äußerte sich in Form von körperlicher und emotionaler Taubheit und dem Unvermögen, mich an Begebenheiten aus meiner Kindheit zu erinnern. Es fiel mir schwer, Vertrauensverhältnisse aufzubauen, mich in meinem Körper zu Hause zu fühlen und ein Gefühl der Kontrolle über mich selbst zu haben.
Weil ich meine eigenen inneren Kämpfe besser verstehen wollte, beschloss ich, nach meiner Pflegeausbildung Verhaltenswissenschaften und Psychologie zu studieren. Den Schlüssel zu meinen versteckten Kammern der Angst und Unsicherheit fand ich allerdings nicht während der verschiedenen Therapien, die ich im Zuge meiner Ausbildung machte, ich entdeckte ihn erst nach der traumatischsten Erfahrung meines Lebens. Nach dem Suizid meines zweiten Mannes lernte ich, mich aus dem Gefängnis meiner Vergangenheit zu befreien.
Als professionell arbeitende Therapeuten erzählen wir unsere eigene Geschichte meist nicht. Das sei unprofessionell, heißt es. Meiner Meinung nach ist das falsch. Ich wäre beruflich niemals zu dem Punkt gelangt, an dem ich jetzt stehe, wenn ich nicht selbst die zerstörerischen Auswirkungen traumatischer Erlebnisse kennengelernt hätte. Immer wieder suchte ich nach erhellenden Erkenntnissen über Ursachen und Folgen der Verletzungen, die ich selbst erlebt hatte. Als Mensch und als Therapeutin forschte ich solange, bis ich neue Spuren entdeckte, ihnen folgte und Wege zur Heilung fand. Meine Suche als Individuum verlief daher zu einem großen Teil parallel zu meiner Suche als Therapeutin und meine persönlichen Erfahrungen und Erkenntnisse trugen wesentlich zu meiner Entwicklung als Therapeutin bei. Darum nehme ich den Leser zunächst mit in meine eigene Geschichte, zu dem Augenblick, an dem für mich ein neuer Weg begann. So zeige ich, wie ich neue Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft mit körperorientierter Psychotherapie und Meditation verbunden habe und wie ich das Ganze in mein persönliches Leben und in meine therapeutische Praxis integriert habe. Ich sehe mich in erster Linie als (Mit-)Mensch und erst danach als Therapeutin.

Es ist Sonntag, der 10. Juni 2007. Ein sonniger, warmer Tag. Ich sitze in meinem roten Ledersessel im Wohnzimmer und versuche, einen Artikel zur Weiterbildung zu lesen. Ich bin nicht wirklich bei der Sache.
Die Terrassentüren stehen offen, die Gardinen wehen leise im Wind. Draußen zwitschern die Vögel, Kinder spielen und lachen. Ich höre das spritzende Wasser in einem Pool im Nachbargarten. Fröhliche, entspannte Geräusche eines schönen Frühlingstages. Mein zwölfjähriger Sohn liegt auf dem Sofa und liest ein Buch, während meine elfjährige Tochter oben spielt und singt.
Ich frage mich, wo mein Mann ist. Ich habe ihn schon mehrfach auf dem Handy angerufen. Heute Morgen um 9:00 Uhr hat er das Haus verlassen, ohne zu sagen, wo er hinwollte. Als er ging, stand ich unter der Dusche, die Kinder schauten im Wohnzimmer einen Film. Er hatte sich aus dem Haus geschlichen, obwohl wir abgesprochen hatten, dass er warten würde, bis ich im Bad fertig bin. Wir hatten eigentlich vor, gemeinsam mit den Kindern und dem Hund im Wald spazieren zu gehen, damit der ruhelose, sich ständig drehende Geist meines Mannes in der Natur zur Ruhe kommen konnte. Das half ihm immer.
Während ich duschte, hörte ich, wie sich die Haustür schloss. Das Badfenster liegt direkt über dem Eingang und ich schaute umgehend nach draußen. Ich sah ihn mit seinem schwarzen Lederrucksack in der Hand zum Auto gehen. Er öffnete die hintere Autotür und legte den Rucksack auf die Rückbank. Ich öffnete das Badfenster und rief ihn, doch er drehte sich nicht um. Ich rief noch einmal, lauter. Er schaute nicht auf, blickte sich nicht um. Als er die Fahrertür öffnete, schrie ich regelrecht seinen Namen. Bewusst vermied er meinen Blick und ignorierte meine Rufe, als er einstieg. Er legte den Rückwärtsgang ein und wendete – jetzt schaute er mich im Wegfahren kurz an. Ich sah ein aschgraues Gesicht und einen leeren Blick. Voller Unruhe darüber, was gerade passiert war, zog ich mich an und lief, so schnell ich konnte, nach unten zu den Kindern. Sie erzählten mir, er habe ihnen gesagt, dass er nach Amsterdam zu einer Lesung fahren wollte. Sie wussten weiter nichts und ich wurde immer nervöser.
Um 11.00 Uhr rief ich dann vom Schlafzimmer aus in Panik meine Mutter an, weil ich meinen Mann nicht am Handy erreichen konnte. Ich schilderte ihr meine sorgenvollen Gedanken über die seltsame Situation, über sein plötzliches Wegfahren, sein Nicht-Beachten meiner Rufe. Ich erzählte ihr auch von meiner beängstigenden Vorahnung und meinen Gefühlen des Verlassen-Seins und der Einsamkeit. Die Angst fraß sich durch meinen Körper. Meine Mutter versuchte vergeblich, mich zu beruhigen. Im Anschluss rief ich meine Schwägerin an, die in Haamstede auf einer Familienfeier war, und dann noch eine Freundin.
Ich esse mit den Kindern zu Mittag. Immer wieder rufe ich meinen Mann an. Keine Reaktion! Die Zeit vergeht und es wird 15.00 Uhr. Er war seit morgens um 9.00 Uhr weg und hatte seit Stunden nichts von sich hören lassen.
Um 15.30 Uhr klingelt es. Ich gehe zur Haustür und sehe zwei Polizeibeamte davor stehen, einen Mann und eine Frau. Sehr höflich fragen sie, ob sie hereinkommen dürfen. Ich sehe an ihren Gesichtern, dass sie keine guten Nachrichten dabeihaben. Ich lasse sie ins Haus. In der Tat bringen sie sehr schlechte Neuigkeiten für mich und meine Kinder. Sie teilen uns mit, dass mein Mann, ihr Vater, um etwa 10.00 Uhr an diesem Vormittag Suizid begangen hatte, indem er vom Dach des Parkhauses am Bijenkorf sprang. Er war tatsächlich nach Amsterdam gefahren … aber nicht zu einer Lesung!


Die grausame Realität



Bis heute spüre ich den Augenblick, in dem ich die Nachricht erhielt. Ich habe die Bilder sofort vor Augen, wenn ich meine Gedanken zurückhole. Die Erinnerung ist so stark, dass ich immer noch spüre, wie mir der Atem in der Kehle stecken bleibt.
Als ich vom Tod meines Mannes erfuhr, begann ich zu zittern und fühlte eine riesige Stresslawine durch meinen Körper fließen. Ich versuchte, dies vor meinen Kindern zu verbergen. Auf der Stelle bekam ich pochende Kopfschmerzen, mein Hals und meine Schultern wurden steif. Meine Gedanken begannen zu rasen und wurden chaotisch. Die Kinder erlebten ähnliche Reaktionen im Körper, wie ich später von ihnen erfuhr.
Jetzt, da ich ›rückwärts verstehe‹, kann ich sagen, dass dies die Stressreaktion war, die uns in den Überlebensmodus versetzte. Mit allen Tricks nahm ich mich, um meiner Kinder willen, zusammen. Ich fühlte mich machtlos und zugleich in meinem innersten Kern irreparabel beschädigt, verlassen und verraten. Das Schlimmste war meine Furcht, dass es den Kindern genauso gehen könnte.

Neun Monate später, es war Karfreitag, der 21. März 2008: Ich liege mit gelähmten Beinen in einem Krankenhausbett, neben mir steht ein Rollstuhl. Eine Autoimmunreaktion hat mein Nervensystem angegriffen, im sogenannten Caudabereich, von der Mitte meines Körpers aus abwärts – in der Fachsprache wird dies Neuritis genannt. »Ursache unbekannt«, sagen die Neurologen und behandeln die Symptome intravenös mit einer hohen Dosis Corticosteroide. Das ist offensichtlich die Behandlungsleitlinie für dieses Krankheitsbild.
Kurze Zeit später ergreift ein unangenehmes Bakterium Besitz von meinem Körper und ich muss über einen langen Zeitraum erneut intravenös behandelt werden, diesmal mit Antibiotika. Als ich nach mehreren Wochen das Krankenhaus verlasse, ist das Gefühl in eins meiner Beine zurückgekehrt, in das...