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Religiosität in säkularen Gesellschaften - Zur Synthese von Freiheit und Religion in Europa

Religiosität in säkularen Gesellschaften - Zur Synthese von Freiheit und Religion in Europa

Gesine Domröse

 

Verlag Campus Verlag, 2023

ISBN 9783593453231 , 191 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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34,99 EUR

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Religiosität in säkularen Gesellschaften - Zur Synthese von Freiheit und Religion in Europa


 

2.Zur Säkularisierung Europas


Das Konzept der Säkularisierung ist ein komplexes und schillerndes Gefüge, dessen Anfänge in der Neuzeit liegen und dessen Bedeutung sich seitdem stark gewandelt hat. Das liegt zum einen an der Herkunft des Begriffs und zum anderen daran, dass die Säkularisierung Europas auf mehreren Ebenen stattgefunden hat. Das Begriffsverständnis von heute wurde von der Soziologie des 20. Jahrhunderts geprägt, vornehmlich durch die Säkularisierungstheorien, die vor allem den gesamtgesellschaftlichen Bedeutungsverlust von Religion ins Zentrum rückten. Allerdings sind die ihnen zugrunde liegenden soziologischen Studien nahezu ausschließlich dem Christentum und der Entkirchlichung der Gesellschaften gewidmet.10 Ursprünglich war das Attribut »säkular« jedoch ein Ausdruck, der ausschließlich christlichen Mönchen zugeschrieben wurde, die außerhalb ihrer Klostermauern lebten, um das religiöse Leben in die Welt hinauszutragen, wie José Casanova mit Verweis auf die Arbeiten von Charles Taylor hervorhebt:

Wie Charles Taylor klar gezeigt hat, beginnt der historische Prozess der modernen Säkularisierung als ein Prozess der inneren säkularen Reform innerhalb des lateinischen Christentums, als ein Versuch, das Zeitliche zu ›spiritualisieren‹ und das perfekte religiöse Leben aus den Klöstern in das Säkulum hinauszutragen, also buchstäblich als ein Versuch, das Religiöse zu säkularisieren.11

Der Ausdruck »säkular« wird vom lateinischen Wort »saeculum«, dem »Weltlichen«, abgeleitet. »Säkularisierung« steht anfänglich für einen Prozess der Verweltlichung im Sinne der innerchristlichen Entwicklung, das Religiöse der außerklösterlichen Welt zugänglich zu machen.

Es ist bereits anhand der Wurzel des Begriffs ersichtlich, dass die gängige, polarisierende Gegenüberstellung der Ausdrücke »religiös« und »säkular« irreführend ist – eine These, die ich im Laufe dieses Kapitels weiter untermauern werde. Denn nicht nur Mönche der Neuzeit, sondern auch Menschen der Gegenwart können sowohl religiös als auch säkular sein, ohne eine selbstwidersprüchliche Haltung einzunehmen. Es ist zu bestreiten, dass die Moderne jedweder Religion bzw. Religiosität als solcher unvereinbar gegenübersteht.12 Mein Anliegen, das Religiöse zu bestimmen und neu zu verorten, geht schließlich auf die Beobachtung zurück, dass sich die Religiosität der Menschen der Gegenwart in den letzten 70 Jahren stark gewandelt hat, sowohl qualitativ als auch quantitativ, und zwar aufgrund der voranschreitenden Säkularisierung der europäischen Gesellschaften, wie ich später aufzeigen möchte. Wenden wir uns nun aber erst einmal der weiteren Entwicklung der Begriffsgeschichte zu.

Erst während der Zeit der europäischen Religionskriege (1618–1648) bekam der Begriff der Säkularisierung seine heute dominierende politische Konnotation, wonach er das Auseinandertreten13 von kirchlicher und staatlicher Hoheit in einem Staatsgebiet bezeichnet. Allerdings ging aus diesen Kriegen weder der säkulare Staat noch Religionsfreiheit im heutigen Verständnis hervor, wie es der europäische Mythos von der Säkularisierung unseres Kontinents glauben macht.14 Das Auseinandertreten von Kirche und Staat bewirkte zunächst lediglich die Stärkung der weltlichen Macht, wenn auch unter Einbeziehung der religiösen Kräfte der Zeit. Denn der Staat bedurfte der Kirche aufgrund ihrer Integrationsleistungen weiterhin:

Die religiösen Praktiken, die vormals den Sinn der Gesellschaft definierten und ausdrückten, sind zum Mittel für eine anderswo, das heißt außerhalb ihrer selbst beheimateten Sinnproduktion geworden. Der Hausherr wird nach seiner Vertreibung wieder eingeladen: Unter der Logik ›sozialer Zweckdienlichkeit‹ ist er als gut zahlender Dauermieter im Haus der Staates durchaus willkommen!15

Nicht Säkularisierung, sondern Konfessionalisierung und Territorialisierung folgten aus dem Westfälischen Frieden.16 Andersgläubigen wurde im Zuge dessen die Wahl zwischen Konversion und Emigration gelassen,17 denn ethno-religiöse Säuberungen waren das Ergebnis des neuen Verhältnisses zwischen Staat und Kirche innerhalb der konfessionellen Territorialstaaten, wie die Historikerin Susanne Lachenicht analysiert:

Mit der Reformation nahm die Verfolgung und Flucht Andersgläubiger in Europa bislang unbekannte Ausmaße an. Die Angst vor Häresien und ihren Auswirkungen nicht nur auf die ›Rechtgläubigen‹ und ihre Kirchen, sondern auch auf frühneuzeitliche Staaten und ihre Herrscher führte dazu, dass zwischen dem frühen 16. und dem späten 18. Jahrhundert Tausende von Menschen vertrieben wurden bzw. vor Verfolgung flohen[.]18

Lediglich Minderheiten, deren Existenz im wirtschaftlichen Interesse der jeweiligen Staaten lag, wurden geduldet.19 Toleranz, Religionsfreiheit und religiös-weltanschauliche Neutralität kennzeichnen das zeitgenössische politische Verständnis von »Säkularisierung« im Sinne eines politischen Prinzips, das ich in Anlehnung an Heiner Bielefeldt im Folgenden »Säkularität« nenne.20

Säkularität als politisches Prinzip beinhaltet laut Bielefeldt zum einen die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates, das heißt dessen »respektvolle Nicht-Identifikation« mit irgendeiner Religion oder Weltanschauung.21 Sie spiegelt ihm zufolge den »Respekt [des Staates] vor der religiös-weltanschaulichen Mündigkeit des Menschen« wider und stellt auf diese Weise einen »normativen Anspruch« dar.22 Zum anderen soll der Staat gemäß dem Prinzip der Säkularität nicht nur neutral agieren, sondern auch seine Legitimation muss religiös-weltanschaulich neutral sein, das heißt seine Begründung darf nicht auf einem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis ruhen.23 Das politische Prinzip der Säkularität wird im ersten Abschnitt dieses Kapitels genauer erläutert, um zu zeigen, dass es sich nicht um ein starres Gebot, sondern um eine Richtlinie bzw. eine Norm handelt, die auf unterschiedliche Weise erfüllt werden kann, ohne ihren Sinn einzubüßen.

Das Konzept der Säkularisierung hat also mehrere Dimensionen, die aus seiner historisch-begrifflichen Entwicklung hervorgegangen sind. So haben zum Beispiel auch die reformatorischen und gegenreformatorischen Bewegungen des 16. Jahrhunderts einen bedeutenden Einfluss auf das Auseinandertreten von kirchlicher und weltlicher Herrschaft sowie auf die Konfessionalisierung der Staaten gehabt,24 was bis heute die verschiedenartigen Säkularitäten der europäischen Staaten prägt.25 Anders als die Religionskriege bewirkte die Reformation – aber auch die Gegenreformation, wie Charles Taylor hervorhebt – die europäische Säkularisierung vornehmlich auf kulturell-gesellschaftlicher Ebene.26 So führte die Kirchenspaltung unter anderem zu einer ersten Pluralisierung der Weltdeutungs- und Erklärungsmuster (ein bedeutender Faktor der Säkularisierung, wie ich später noch genauer zeigen werde), wodurch die christliche Religion in Europa laut Bogner …

… ihren Status als Einheitsband ein[büßt], das notwendigerweise alle umfasst und außerhalb dessen zu existieren schlechterdings unvorstellbar ist. […] Die Kirche als eine Aufgespaltene verliert ihren Platz als glaubwürdige und letztgültige ›Übersetzerin‹ von Welt und Existenz. Diese interpretatorische Wirkmächtigkeit hat sie nur ›im Singular‹ inne: Bei mehreren Heilsorten mit einer Vielzahl an Wahrheitsmöglichkeiten schwindet die Gewissheit, die sie einstmals verbürgen konnte. Das Unerhörte ist also die Möglichkeit einer ›Außenperspektive‹ auf die Religion.27

Säkularisierung bedeutet während und nach der Reformation auf kulturell-gesellschaftlicher Ebene also den Verlust des Interpretationsmonopols der Kirche durch die ausdrückliche Pluralisierung der christlichen Religion, wodurch ein externer Blick, eine »Außenperspektive« auf die Kirche als etwas »Unerhörtes«, ermöglicht wurde, wie Bogner es pointiert ausdrückt.28

Eine weitere bedeutende Folge der reformatorischen Bewegungen ist laut Bogner die »Unterteilung der Religion in praktizierten...