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Lieblingstochter - Roman

Lieblingstochter - Roman

Sarah Jollien-Fardel

 

Verlag Aufbau Verlag, 2023

ISBN 9783841232175 , 208 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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16,99 EUR

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Lieblingstochter - Roman


 

1


Plötzlich hat er ein Gewehr in der Hand. Noch vor einer Minute haben wir Kartoffeln gegessen. Beinahe in Ruhe. Meine Schwester quasselte. Wie so oft. Und mein Vater sagte: »Warum kann diese Göre nicht einfach mal die Klappe halten?« Doch sie plapperte weiter. Sie war naiv, fröhlich, ein bisschen einfältig, witzig und lieb. In der Schule ging ihr das Lernen nicht so leicht von der Hand. Sie spürte nicht, wenn sich die Atmung meines Vaters veränderte, wenn sich in seinem Blick abzeichnete, dass wir eine gehörige Tracht Prügel beziehen würden. Sie redete ununterbrochen. Ich dagegen war immer auf der Hut, unruhig, hatte furchtbar Schiss, und die Angst klebte mir am ganzen Körper.

Ich sah die Schwäche meiner Mutter, die Dummheit und Grausamkeit meines Vaters. Ich sah die Unschuld meiner älteren Schwester. Ich sah alles. Und ich wusste, dass ich aus einem anderen Holz geschnitzt war als sie. Meine Schwäche war mein Stolz. Ein Stolz, der mich tapfer und aufrecht gehalten hat. Er hat mich auch zugrunde gerichtet. Ich war ein Kind. Ich verstand es, ohne es zu begreifen.

Es waren immer dieselben Szenen. Er kam von seinem Arbeitstag auf den Straßen nach Hause. Er stank nach Alkohol. Wenn er sich im Wohnzimmer auf das rissige Ledersofa setzte und einschlief, dann wussten wir drei, dass wir für ein paar Stunden unseren Frieden haben würden. Wenn er seinen massigen Körper auf einen Küchenstuhl sinken ließ, ein Messer zur Hand nahm, um Nüsse zu knacken oder ein Stück vom Käse abzuschneiden, den er in unserem erdigen Keller reifen ließ, dann waren wir fällig. Diese Abgedroschenheit war erbärmlich. Ein bis zum Erbrechen durchgespieltes Drehbuch, in dem jeder in die ihm zugewiesene Rolle schlüpfte. Niemand konnte die Distanz eines Zuschauers einnehmen. Alle vier wurden wir in denselben Walzer hineingezogen, bei dem jeder die Füße an die richtige Stelle setzte. Um einen anderen Schritt zu wagen, fehlte es uns sowohl an Selbstbewusstsein als auch an Leichtsinn.

Es konnte das sehnige Fleisch im Ragout sein, eine Gewürznelke zu viel, ein zu hartes Lorbeerblatt, eine zu weich gekochte Karotte, zu grob geschnittene Zwiebeln. Es konnte der Regen oder die stickige Hitze in der Fahrerkabine seines Lkw sein. Es konnte nichts sein. Und schon ging es los. Die Schreie, die Angst, die vulgären Ausdrücke, ein Glas gegen die Wand, eine Ohrfeige ins Gesicht meiner Schwester oder meiner Mutter. Ich huschte unter den Tisch, starrte auf die Fußbewegungen in diesem nur allzu bekannten Familientanz. Manchmal fiel meine Mutter vor mir auf den Boden, zu einer Kugel zusammengerollt. Ihre Augen schrien vor Angst, sie schrien »Hau ab«, und ich verdrückte mich unter mein Bett. Mit ansehen, beobachten. Einschätzen. Bleiben oder weglaufen. Aber mir nie, wirklich nie die Ohren zuhalten. Meine Schwester presste sich die Hände auf ihre. Doch ich wollte es hören. Wollte auf jedes Geräusch achten, das ankündigte, dass es diesmal schlimmer werden würde. Wollte die Wörter verstehen, jedes einzelne: du dreckige Schlampe, du Nutte, ich hab dich aus der Scheiße geholt, schau dich nur an, wie hässlich du bist, du blöde Kuh, ich bring dich um. Hinter diesen Wörtern steckten Hass, Elend, Scham. Und Angst. Jedes Wort war wichtig. Ich musste sie alle mit anhören. Auch den Tonfall. Mit der Zeit konnte ich ausmachen, ob er zu betrunken oder zu müde war, um bis zum Äußersten zu gehen, bis zur Prügelei. Ob er erschöpft war oder ob er noch die Kraft haben würde, meine Mutter gegen die Wand oder ein Möbelstück zu drücken und auf sie einzuschlagen.

Ich nahm auch den billigen Honig wahr, mit dem er das Tremolo in seiner Stimme süßte. Es war schrecklich. Und ich weiß nicht, warum und wie meine Mutter und meine Schwester sich von dieser falschen Sanftheit einlullen lassen konnten. Wie sie glauben konnten, dass nicht auch diese nur ein Vorspiel für seine Gewalt war. Sie glaubten, und vor allem hofften sie, dass wir an diesem einen Abend darüber hinweggehen würden. Vielleicht war es noch schlimmer, ihn zu durchschauen. Ich hatte das Gefühl, seine Komplizin zu sein. Ich plante voraus und schob zu erledigende Hausaufgaben vor, um das Weite zu suchen. Oder ich deckte eilig den Tisch ab, um die Gegenstände wegzuräumen, die er uns ins Gesicht pfeffern könnte. Am schlimmsten waren Flaschen. Er schleuderte sie gegen die Wand, und wir mussten uns wegducken, um ihrer Flugbahn auszuweichen. Besonders fürchtete ich mich vor dem schweren Emaillekrug, in dem Mama immer Sirup zubereitete. Ich hatte es geschafft, im Kaufhaus eine Plastikkanne zu klauen. Wir waren einkaufen, meine Mutter und ich. An der Schläfe hatte sie am Haaransatz genäht werden müssen, wegen einer Scherbe von einer dieser verfluchten Flaschen, dem Arzt hatte sie gesagt, sie sei schwer gestürzt. Ihr Haar fand ich wunderschön. Glatt und dicht. Nicht so wie meins. Ich liebte es, darüberzustreichen, schmiegte mich an sie, wenn sie strickte oder las. Ich wickelte mir eine ihrer karamellbraun schimmernden Strähnen um den Zeigefinger. Mein eigenes Haar hatte keine Farbschattierungen, es war dunkel, stumpf und glatt. Widerspenstig und überhaupt nicht glänzend. Manchmal vergrub ich die Nase in ihrem Haar und sog mit geschlossenen Augen ihren Duft ein. Dann bat sie mich verschämt darum aufzuhören. Die Vorstellung, dass ich sie hübsch finden könnte, brachte sie in Verlegenheit.

Im Einkaufszentrum hatte ich sie mit sämtlichen Tricks zu überzeugen versucht, diese Plastikkanne für neun Schweizer Franken und neunzig Rappen zu kaufen, weil er uns damit nicht mehr würde verletzen können. Doch sie war zu teuer, und mein Vater kontrollierte jeden ausgegebenen Franken. Meine Mutter hatte sich geweigert. Als sie mich zwei Tage später losgeschickt hatte, um Butter und Polenta zu besorgen, hatte ich es geschafft, die Kanne zu klauen und in meinem Schulranzen zu verstecken. Ich schwitzte, und an der Kasse kam mein Herz völlig aus dem Takt, aber ich hatte es geschafft. Als ich sie auf den Holztisch stellte, der von den Gewaltausbrüchen meines Vaters ganz verschrammt war, sah ich meiner Mutter direkt in die Augen. »Wie hast du die denn bezahlt?« Ich hatte einen Plan ausgeheckt, hatte auf dem Heimweg angehalten, sie mit Erde dreckig gemacht, mit einem Kieselstein zerkratzt und im Dorfteich ausgespült. »Sophies Mutter wollte sie wegwerfen, und ich habe ihr erzählt, dass ich eine zum Malen brauche, da hat sie sie mir gegeben.« Dieser Moment, wenn man eine Lüge auftischt. Dieser für einen Sekundenbruchteil in der Luft hängende Augenblick. Es kippt in die eine oder andere Richtung. Ich konnte meinen Blick beherrschen, ihn aufrechthalten, ohne schwach zu werden, ihn mit Unschuld tarnen. Ich öffnete die Augen weit, zog die Lippen zu einem falschen, geschlossenen Lächeln auseinander. Das klappte immer.

Da meine Mutter und meine Schwester sich nicht nur körperlich ähnlich waren, sondern auch in ihrem Verhalten, glaubte ich mit der Zeit, dass ich, wenn ich nicht wie sie war, notgedrungen sein musste wie er. Wie sonst sollte man sich erklären, dass er den Blick senkte, wenn ich ihn anstarrte, ohne mit der Wimper zu zucken, dass er mich nie schlug, mich höchstens an den Haaren zog. Keine Ohrfeige, kein fester Griff an den Schultern wie bei den anderen, wenn er sie packte und kräftig schüttelte. Nur ein einziges Mal hat er es gewagt.

Ich saß am Küchentisch. Es war an einem Sonntag gegen Abend. Wie immer sonntags war er nach dem Mittagessen fortgegangen. Wir wussten nicht, was er mit seinen Sonntagnachmittagen anfing. Diese Stunden, in denen er von zu Hause weg war, machten mich neugierig. Wohin ging er und mit wem? Ich versuchte, meiner Mutter etwas zu entlocken, sie wich mir mit irgendeiner Belanglosigkeit oder einer Gegenfrage aus: »Kommen wir drei nicht gut allein zurecht?« Ich hielt mich von ihm fern, aber gleichzeitig drehte sich alles um ihn. Da er über die terrorisierende Macht verfügte, die Luft oder Atmosphäre zu verändern, war ich regelrecht von ihm besessen. Meine Mutter kochte ein Coujenaze, ein einfaches Rezept aus unserer Gegend. Kartoffeln und Bohnen, die man so lange auf kleiner Flamme köcheln lassen musste, bis das Wasser vollständig verdampft war. Dabei vermischte sich alles, ohne sich in einem Brei aufzulösen. Die Bohnen wurden zart, die Kartoffeln zergingen auf der Zunge. Meine Mutter zauberte ein Abendessen aus nichts. Da sie nichts hatte, schlug sie Rappen heraus, wo sie nur konnte. Jedoch rührte sie nie das Klimpergeld...