Suchen und Finden

Titel

Autor

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Lehrpersonenethos (E-Book) - Professionsbewusstsein und berufsethische Kompetenzen

Lehrpersonenethos (E-Book) - Professionsbewusstsein und berufsethische Kompetenzen

Claudio Caduff

 

Verlag hep verlag, 2023

ISBN 9783035517019 , 100 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz DRM

Geräte

24,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

Derzeit können über den Shop maximal 500 Exemplare bestellt werden. Benötigen Sie mehr Exemplare, nehmen Sie bitte Kontakt mit uns auf.

Mehr zum Inhalt

Lehrpersonenethos (E-Book) - Professionsbewusstsein und berufsethische Kompetenzen


 

Kapitel 3

Gesellschaftliche Zusammenhänge

Wolfgang Schulz (1980) entwarf in seinem lehrtheoretischen Modell zur Strukturierung der Unterrichtsplanung (siehe Abbildung 5), das er aus seinem Berliner Modell der 1960er-Jahre weiterentwickelte und modifizierte, ein politisch-emanzipatorisches Bildungsprogramm, das für einen lernendenorientierten Unterricht plädierte.

Hier sollen nicht die für das Modell zentralen Planungsebenen für den Unterricht von Interesse sein, sondern die beiden äußeren Ringe der Abbildung: Einerseits spielen institutionelle Bedingungen für die Planung und mithin auch für den Unterricht eine wesentliche Rolle; dazu gehören Lehrpläne, Schul- und Klassenorganisation ebenso wie die Lehrpersonenqualifikation, die materielle Ausstattung in Schulhäusern sowie Unterrichtsräumen und vieles mehr. Die Bedeutung dieses Rings für den Unterricht ist offensichtlich, und klar ist auch, dass die Wirkung nicht einseitig von außen nach innen verläuft; vielmehr beeinflussen auch der Unterricht und die unterrichtsbezogenen Vorstellungen und Haltungen der Lehrenden und (eher in begrenztem Maße) der Lernenden und deren Eltern beziehungsweise Erziehungsberechtigten die institutionellen Bedingungen. Auf dem äußersten Ring beziehungsweise Einflussfaktor siedelt Schulz das «Selbstverständnis der schulbezogen Handelnden» und die «Produktions- und Herrschaftsverhältnisse» an. Während der erstgenannte Faktor in der wissenschaftlichen Diskussion über Unterricht und Lehrpersonenbildung eine bedeutende Rolle einnimmt (dieser Faktor wird in Kapitel 5 aufgenommen), so wird der zweite Faktor des äußersten Rings in der Schulpädagogik eher marginal thematisiert. Zwar misst Schulz der Emanzipation, die er als «Befreiung von überflüssiger Herrschaft und zu möglichst weitgehender Verfügung aller über sich selbst» (Schulz 1980, S. 81) versteht, hohe Bedeutung zu, doch glaubt er nicht, dass die Schule an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligt sei. Dennoch kann die Schule emanzipatorisch wirken: «Und wenn mit Hilfe der Lehrer die unkritische Verinnerlichung bestehender Verhältnisse relativiert wird und die Befähigung zur Frage an die Verhältnisse, zum Durchspielen alternativer Antworten gegeben ist und erhalten bleibt, dann macht das und nur das meiner Ansicht nach die emanzipatorische Relevanz von Unterricht aus» (ebd.).

Obwohl der Begriff «Produktions- und Herrschaftsverhältnisse» eine gewisse Nähe zum Historischen Materialismus anzudeuten scheint, distanziert sich Schulz doch von jenem damals nicht unbedeutenden Teil der deutschen Pädagogik, der der kritischen Theorie nahestand und für den Adornos berühmtes Diktum «Es gibt kein richtiges Leben im falschen» zentral war. Schulz’ Haltung ist damit überraschend modern und steht für die «zeitgemäße» Mainstream-Erziehungswissenschaft, die sich nicht sehr stark mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und deren Implikationen für Schule und Unterricht auseinandersetzt. Ihre Orientierung an Bildungsstandards und Kompetenzen, der Digitalisierungshype und die Konzentration auf empirische Forschungsmethoden lassen gesellschaftskritische Aspekte des Bildungswesens in den Hintergrund treten, vielmehr wird es in den Dienst gesellschaftlicher – und das heißt heute ökonomischer – Anforderungen gestellt. Entsprechend werden auch – im Gegensatz zu den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – in der Lehrpersonenbildung gesellschaftskritische Aspekte beinahe völlig ausgeblendet.

Hier wollen wir ansetzen, denn wir sind überzeugt, dass Professionsethos auch Professionswissen im gesamtgesellschaftlichen Bereich bedingt. Das heißt, nur vor dem Hintergrund eines tiefen Verständnisses der gesellschaftlichen Verhältnisse, die in vielfältiger Weise das Unterrichtsgeschehen beeinflussen, können Lehrerinnen und Lehrer pädagogisch verantwortlich arbeiten. Dabei geht es nicht darum, über den Unterricht die Schülerinnen und Schüler zu gesellschaftskritischen Subjekten zu erziehen. Für das Berufsethos ist es hingegen hochbedeutend zu verstehen, in welchem Verhältnis schulpädagogische Werte und Normen zu jenen der gesellschaftlichen Realität stehen.

In den folgenden Ausführungen werden deshalb zentrale Aspekte und Konsequenzen der Ökonomisierung beziehungsweise der «kapitalistischen Landnahme» für unsere Gesellschaft allgemein und für das Bildungswesen im Besonderen dargelegt. Danach folgt eine kritische Auseinandersetzung mit der Meritokratie im anerkennungstheoretischen Kontext, bevor am Ende des Kapitels der Capability-Ansatz und die Theorie der positiven Psychologie und deren pädagogische Rezeption als Lösungsansätze kritisch diskutiert werden.

Abbildung 5: Interdependente Faktoren der lehrtheoretischen Didaktik (nach Schulz 1980, S. 66)

3.1 Zentrale Aspekte unserer modernen Gesellschaft

Das herausragende sozialpsychologische Signum unserer Zeit ist die Verunsicherung der Menschen, die in besonderem Maße durch die Ökonomisierung bewirkt wird.

3.1.1 Verunsicherung

Unsere moderne Zeit ist geprägt von Ambivalenz (vgl. dazu z.B. Beck 1983, Baumann 2003), die einen starken Einfluss auf Individualisierungsprozesse ausübt und das Leben der Menschen prägt (Heitmeyer 2018, S. 79):

Die Vielfalt der Möglichkeiten nimmt zu, und besonders die Gestaltungoptionen der eigenen Lebensplanung werden zahlreicher. Das führt allerdings dazu, dass die Berechenbarkeit abnimmt und die Lebenswege brüchig werden.

Wir haben heute in zahlreichen Lebensbereichen viele Entscheidungsmöglichkeiten, ohne dass wir die Folgen eines Entscheides absehen können. Zudem entsteht damit auch ein hoher Entscheidungszwang.

Die Chancengleichheit nimmt zwar zu, gleichzeitig steigt damit auch die Konkurrenz um Status und soziale Stellung.

Das autonome Leben überfordert viele Menschen, es bewirkt nicht selten Orientierungslosigkeit.

Die Lösung aus einem stark vorgegebenen Lebenslauf bewirkt den Verlust sozialer Verortung.

Gewissheiten, über die man früher nicht nachdenken musste, gehen verloren, doch das Bedürfnis nach Gewissheiten, die auch der Selbstberuhigung dienen, bleibt.

Die Lockerung und gar das Wegfallen von Normen und die großen Wahlmöglichkeiten erhöhen die Freiräume. Allerdings kann der damit einhergehende Verlust des Konsenses über die Geltung von Normen bewirken, dass das Recht des Stärkeren als neue «Norm» gesellschaftsfähig wird.

Diese Ambivalenzen sind von außen auf das Individuum einwirkende Anforderungen, die durch Widersprüchlichkeit geprägt sind, und der moderne Mensch ist gefordert, damit umzugehen. Eine wichtige Fähigkeit dazu ist die sogenannte Ambiguitätstoleranz als Fähigkeit, unklare, mehrdeutige und unentschiedene Situationen auszuhalten (darauf werden wir in Kapitel 5 genauer eingehen). Thomas Bauer (2018) hat in einer Studie nachgewiesen, dass diese Ambiguitätstoleranz in der Bevölkerung abnimmt. Zunehmend gewinnen Menschen Orientierung und vermeintliche Realitätskontrolle, indem sie sich dem Autoritären zuwenden – mit schwerwiegenden Folgen, wie Wilhelm Heitmeyer (2018, S. 81) ausführt:

«Viele Menschen reagieren auf diese Verunsicherungen, indem sie versuchen, die Kontrolle zurückzugewinnen, und es mangelt nicht an politischen Akteuren, die die (Wieder-)Erlangung einer solchen Kontrolle verheißen. Der Erziehungswissenschaftler Kurt Müller (2018) hat Suchbewegungen von jungen Menschen nach Kontrolle dokumentiert. Jugendliche und junge Erwachsene finden, so Möller, häufig in rechtsautoritären Szenen und Gruppierungen vermeintliche Sicherheit und Standfestigkeit. Dies geht freilich zulasten der Angehörigen schwächerer Gruppen, über die man sich sozusagen erhebt. Eine solche Flucht in die vermeintliche Sicherheit ist ‹flüchtig› im doppelten Sinne des Wortes, und sie hat zudem hohe individuelle, soziale und politische Kosten.»

Diese Flucht in die Sicherheit gelingt jedoch nie, was oft zu noch mehr Verunsicherung und gar Hass führt.

Während die Ambivalenz der Moderne hauptsächlich Verunsicherungen auf individueller Ebene beschreibt, gibt es zusätzlich dazu auf der Strukturebene der Gesellschaft «Entsicherungen» (ebd., S. 90), die zu weiteren Verunsicherungen bei den Menschen führen. Solche Entsicherungen sind einerseits Ereignisse, die globale Dimensionen aufweisen und große (mediale Beachtung) finden und die sich im Bewusstsein der Menschen festsetzen. Im 21. Jahrhundert sind solche Entsicherungen der Terroranschlag auf das World Trade Center im Jahr 2001, die Finanz- und Staatsverschuldungskrise 2008, die meist islamistisch geprägten Terroranschläge in europäischen Städten und der Aufstieg des «Islamischen Staates» 2004–2017, Große Bürgerkriege in Nordafrika und im Nahen Osten (besonders in Syrien ab 2011) und die damit verbundene Flüchtlingswelle mit ihrem...