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Die Atempause - Das wirtschaftspolitische Sofortprogramm der Wende von 1982

Die Atempause - Das wirtschaftspolitische Sofortprogramm der Wende von 1982

Hendrik Böttcher

 

Verlag De Gruyter Oldenbourg, 2023

ISBN 9783111005232 , 386 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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109,95 EUR

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Die Atempause - Das wirtschaftspolitische Sofortprogramm der Wende von 1982


 

2 Das sozialdemokratische Jahrzehnt


Um die Wirtschaftspolitik der Wende von 1982 und ihre Hintergründe vollständig verstehen zu können, ist ein Blick auf die vorangegangenen Jahre unerlässlich. Im Folgenden werden daher zunächst die Wirtschaftspolitik der sozialliberalen Koalition, dann die Entwicklungen in den sie bestimmenden Parteien und schließlich die politische Wende von 1982 selbst beleuchtet.

2.1 Die Wirtschaftspolitik von Willy Brandt zu Helmut Schmidt


Als Willy Brandt am 21. Oktober 1969 zum Kanzler gewählt wurde, befand sich die Bundesrepublik in einer Phase des Umbruchs. Nach dem kurzen Intermezzo der großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger war die SPD ein Bündnis mit der FDP eingegangen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik stellte die Union damit nicht mehr den Kanzler. In der Regierungserklärung zu Beginn seiner ersten Amtszeit kündigte Brandt an, „mehr Demokratie wagen“1 und die Bevölkerung in einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Reformprozess einbinden zu wollen.2 Helmut Schmidt, neben Brandt und Herbert Wehner einer der einflussreichsten Sozialdemokraten, bekam das Amt des Verteidigungsministers. Zum Kanzleramtschef machte Willy Brandt seinen Vertrauten Horst Ehmke, Wirtschaftsminister blieb der bisherige Ressortchef Karl Schiller.3 Trotz eines angespannten Verhältnisses zwischen Koalition und Opposition verlief die Regierungsarbeit in den ersten Jahren alles in allem erfolgreich. Insbesondere die zügige Verbesserung des Verhältnisses zum Ostblock steigerte Brandts Ansehen erheblich.4

Zu Beginn der Regierungszeit Willy Brandts etablierte sich außerdem ein neuer Kurs in der Wirtschaftspolitik, der bereits zur Zeit der großen Koalition erste Erfolge gezeigt hatte und dessen Voraussetzungen schon seit Beginn der 1960er Jahre schrittweise geschaffen worden waren. Eine immer besser arbeitende Verwaltung schien mittlerweile präzise wissenschaftliche Vorhersagen über die ökonomische Entwicklung zu ermöglichen. Die vorangegangenen Regierungen hatten diesen Ausbau der Analysemöglichkeiten gezielt gefördert. So war etwa 1963 auf Betreiben Ludwig Erhards der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ ins Leben gerufen worden.5 Dieses unabhängige Gremium sollte regelmäßig die wirtschaftliche Lage untersuchen und Handlungsvorschläge unterbreiten, an denen sich sowohl die Politik als auch die Öffentlichkeit und die Tarifpartner orientieren konnten. Die Regierung sollte ihrerseits schriftlich auf die Gutachten des Sachverständigenrates antworten. Dass man diesen Rat nicht bereits früher eingerichtet hatte, führt etwa Alexander Nützenadel auf das große Interesse an dem Projekt und die kontroversen Diskussionen darüber zurück. So forderte beispielsweise die FDP seit 1955 einen „Konjunkturbeirat“, der unter anderem bei Tarifkonflikten als Schlichter auftreten sollte, während Konrad Adenauer auch einen Bundeswirtschaftsrat nach Vorbild des Vorläufigen Reichswirtschaftsrates der Weimarer Republik in Erwägung zog. Darin wären dann allerdings die verschiedenen wirtschaftspolitischen Interessensverbände vertreten gewesen, was Erhard ablehnte. Letztendlich bemühte man sich um eine möglichst von allen Seiten mitgetragene Ausgestaltung des Sachverständigenrates, um damit zu gewährleisten, dass seine Vorschläge allgemein akzeptiert wurden. 1966 wurde das Gremium der Wirtschaftsweisen weiterentwickelt und konnte von da an auch in Eigeninitiative Sondergutachten erstellen.6

Die wissenschaftliche Durchdringung der Wirtschaft eröffnete dem Staat in den Augen zahlreicher vor allem sozialdemokratischer Politiker die Möglichkeit, lenkend in ökonomische Prozesse einzugreifen. Gleichzeitig sah sich die Politik, ebenso wie in vielen anderen Ländern, auch zunehmend in der Verantwortung für die Sicherung der allgemeinen Wohlfahrt.7 Die gesetzlichen Voraussetzungen dieser „Globalsteuerung“ waren ebenfalls bereits in den 1960er Jahren geschaffen worden. So begannen schon die Kabinette Ludwig Erhards mit der Ausarbeitung eines „Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“, das der Regierung zumindest grundlegende Eingriffsmöglichkeiten eröffnen sollte.8 Da Erhard für das Vorhaben die Verfassung ändern musste, war er auf die Zustimmung der Sozialdemokraten angewiesen. Die kritisierten die Pläne allerdings zunächst und forderten Nachbesserungen. Karl Schiller stelle Mitte September 1966 fest, der Entwurf sei in seiner gegenwärtigen Form ein „Tisch mit zwei Beinen“9, der umfallen müsse. Eine Bedingung für die Unterstützung durch die SPD war dementsprechend, dass man das Gesetz um zusätzliche Eingriffsmöglichkeiten erweiterte. Aus Erhards Defensivgesetz wurde auf diesem Wege bis zum folgenden Jahr ein Werkzeugkasten der Globalsteuerung.10

Auch in der großen Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger konnte Schiller die Politik maßgeblich mitbestimmen. Er grenzte sich dabei als Wirtschaftsminister scharf von wirtschaftspolitischem Dirigismus oder dem Konzept der Planwirtschaft ab. Es gehe nicht darum, so Schiller, dem Markt sein Handeln vorzuschreiben, sondern die wirtschaftliche Entwicklung mit marktkonformen Mitteln zu steuern. Obwohl das Stabilitätsgesetz von 1967 der Regierung dafür zahlreiche konjunkturpolitische Instrumente in die Hand gegeben hatte, waren ihre Möglichkeiten nicht unbeschränkt. So blieb beispielsweise die Bundesbank unabhängig und auch die Einflussmöglichkeiten auf die Tarifverhandlungen waren begrenzt. Die hier angesetzte Konzertierung des Vorgehens von Regierung, Zentralbank, Gewerkschaften und Arbeitgebern sollte schnell an den Partikularinteressen der verschiedenen Gruppen scheitern.11

Das Stabilitätsgesetz erleichterte unter anderem nachfrageorientierte Eingriffe in die Wirtschaft, wie sie beispielsweise John Maynard Keynes vorgeschlagen hatte. Der Kerngedanke dieses Konzeptes war, konjunkturelle Schwächephasen durch eine gezielte Stimulation der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage auszugleichen und die Wirtschaft damit auf einem beständigen Wachstumskurs zu halten. Dafür sollten bei konjunkturellen Einbrüchen die Ausgaben des Staates gesteigert werden. Dieser sollte so die ungenutzten Produktionskapazitäten durch die Krise bringen und damit ein Anwachsen der Arbeitslosigkeit verhindern. Die dabei entstehenden Kosten erhoffte man in guten Phasen durch höhere Abgaben wieder einnehmen und damit gleichzeitig ein Überhitzen der Konjunktur verhindern zu können. Das Stabilitätsgesetz sah dafür unter anderem eine Konjunkturausgleichsrücklage vor, mit deren Hilfe der Staat in Wachstumsphasen Mittel für schlechtere Zeiten zurücklegen sollte. Als es 1966/1967 erstmals seit der Nachkriegszeit zu einer ernsten Krise kam, konnte ein schlimmerer Wirtschaftseinbruch auf diese Weise allem Anschein nach verhindert werden.12 Die Unterstützung für Schillers Kurs war in der Bevölkerung dementsprechend groß.13

Eine wichtige Voraussetzung und zugleich ein großer Schwachpunkt der Globalsteuerung und der auf ihr aufbauenden Wirtschaftspolitik war die Verfügbarkeit verlässlicher Daten. Wurde eine Maßnahme zur Verstetigung der Konjunktur aufgrund von Fehleinschätzungen zum falschen Zeitpunkt wirksam, wie es später mehrfach geschehen sollte, konnte das prozyklisch wirken und die Konjunkturschwankungen damit noch verstärken. Als Willy Brandt Kurt Georg Kiesinger als Kanzler ablöste, legte er daher großen Wert auf den Ausbau der für die wissenschaftliche Durchdringung der Wirtschaft notwendigen Strukturen. Ab 1969 gestaltete Horst Ehmke das Bundeskanzleramt dafür zügig zu einer modernen Regierungszentrale um. Die inhaltliche Verzahnung der einzelnen Abteilungen wurde ausgeweitet, vermehrt Berater hinzugezogen und die Ausstattung verbessert. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch in den Ministerien und im öffentlichen Dienst insgesamt feststellen. Im Wirtschaftsministerium nahm der Anteil an Juristen tendenziell ab, dafür wurden mehr Wirtschaftswissenschaftler eingestellt. Nachdem die Wissenschaft die Globalsteuerung ermöglicht hatte, sorgte diese nun ihrerseits für eine noch umfassendere Forschung. Die „Verwissenschaftlichung“ des Politikbetriebes konnte dabei nicht nur der Effektivitätssteigerung dienen, sondern die Regierung auch in ihrer Außendarstellung unterstützen. Insgesamt wuchs die Beschäftigung im öffentlichen Dienst zwischen 1969 und 1975 jährlich um etwa 3,5 %. Zusammen mit den rapide steigenden Gehältern hatte das zur Folge, dass schon Mitte der 1970er Jahre die Personalausgaben etwa ein Drittel des Gesamthaushaltes des Staates ausmachten.14

Trotz der wachsenden Aufwendungen für die Wirtschaftsanalyse blieb es ausgesprochen schwer, die konjunkturelle Lage auch nur annähernd vollständig zu erfassen. Das lag nicht zuletzt an der inneren Heterogenität der Wirtschaft. Während eine Branche unter starkem konjunkturellem Druck stand,...