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Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners - Gespräche für Skeptiker

Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners - Gespräche für Skeptiker

Heinz von Foerster, Bernhard Pörksen

 

Verlag Carl-Auer Verlag, 2023

ISBN 9783849783877 , 167 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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26,99 EUR

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Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners - Gespräche für Skeptiker


 

II. Perspektiven der Praxis


1. PÄDAGOGIK


Der Schüler als nichttriviale Maschine


B. P. Das ist ein guter Moment, um einige der konkreten Anwendungen, die den praktischen Bezug Ihres Denkens offenbaren, zu diskutieren. Vielleicht beginnen wir mit Fragen, die sich im weitesten Sinn auf das Gebiet der Pädagogik beziehen. Sie haben einmal einen Satz formuliert, der zeigt, daß sich Ihre Begriffe durchaus zur Gesellschaftskritik verwenden lassen. Dieser Satz lautet: „Der Großteil unserer institutionalisierten Erziehungsbemühungen hat zum Ziel, unsere Kinder zu trivialisieren.“

H. F. Das Schreckliche mit den Kindern ist, so glauben viele, daß sie sich auf eine nicht voraussagbare Weise gebärden. Sie agieren noch nicht wie triviale Maschinen, die auf einen bestimmten Input immer ein und denselben Output erzeugen. Da unser Erziehungssystem daraufhin angelegt ist, berechenbare Staatsbürger zu erzeugen, besteht sein Zweck darin, jene ärgerlichen inneren Zustände auszuschalten, die Unberechenbarkeit und Kreativität ermöglichen. Vielfach darf in der Schule eine Frage nur eine Antwort haben; es ist eben nicht gestattet, wie ich schon erwähnt habe, zu sagen, daß zwei mal zwei „grün“ ist. Eigentlich ist das aber doch ein wunderbarer Gedanke, der einen dazu anregen könnte, zu fragen: Warum sagt das Kind „grün“? Welche Vorstellungen hat es? Und ich vermute, daß mir dieses Kind etwas unwahrscheinlich Schönes oder Lustiges erzählen würde.

B. P. Sie wollen sich von der Idee der einzig richtigen Antwort verabschieden und eine Vielzahl von Lösungen als möglich erscheinen lassen.

H. F. Natürlich. Ich kann mich noch heute mit Vergnügen daran erinnern, daß wir im Gymnasium einen Geschichtslehrer hatten, der auf die Frage „Was waren die Griechen für ein Volk?“ nur eine einzige Antwort akzeptierte, die da hieß: „Ein heiteres Volk!“ Wenn man das nicht wußte, sondern sagte, die Griechen seien ein philosophisches, ein lyrisches oder ein sportlich interessiertes Volk gewesen, dann war man durchgefallen. Erlaubt war allein, auf den Input der Lehrerfrage mit dem monotonen und immergleichen Output zu reagieren: „Herr Lehrer, die Griechen waren ein heiteres Volk!“

B. P. Diese Versuche der Trivialisierung sind vergleichsweise harmlos: Sie entlarven sich selbst.

H. F. Ich kann Ihnen zahllose weitere Beispiele nennen, die alles andere als harmlos sind, sondern einfach schrecklich und erschütternd. Darf ich eine kleine Geschichte erzählen? Ich war einmal bei einer befreundeten Familie zum Mittagessen eingeladen – und der kleine Bub, der von der Schule hätte kommen sollen, kommt und kommt nicht nach Hause. Schließlich erscheint er doch, er weint und sagt: „Ich mußte nachsitzen! Die Lehrerin hat mich in der Ecke stehen lassen!“ Wir wollten natürlich von ihm wissen, was denn passiert sei. Er erzählte, daß die Lehrerin ihm gesagt habe, er sei frech gewesen, er habe freche Antworten gegeben. Der kleine Bub: „Sie hat mich gefragt, wieviel ist 2 x 3? Und ich habe ihr gesagt: Das ist 3 x 2! Alles hat gelacht – und die Lehrerin hat mich in der Ecke stehen lassen.“ Ich habe diesen kleinen Bub gefragt: „Deine Antwort ist völlig richtig, aber kannst du sie beweisen?“ Da nimmt er Papier und Bleistift, zeichnet zwei Punkte und – darüber – drei Punkte. Er sagt: „Das ist 3 x 2!“ Und dann dreht er das Papier um 90 Grad und meint: „Siehst du, Heinz, das ist 2 x 3!“ Dieser kleine Bub, der sieben Jahre alt war, hat auf die ihm eigene Weise das kommutative Gesetz der Multiplikation bewiesen: A x B ist B x A. Daß die Lehrerin diese Einsicht nicht als großartig erkannte, ist sehr traurig. Sie hat von ihm erwartet, daß er auf ihre Frage, was ist 2 x 3 „sechs“ sagt. Da er dies nicht tat, erschien seine Antwort als falsch, frech und aufsässig. Das nenne ich die Trivialisierung junger Menschen.

B. P. Jeder Lehrer muß, so lautet die Schlußfolgerung, mit der prinzipiellen Nichttrivialität seiner Schüler rechnen.

H. F. Selbstverständlich. Und wenn die Trivialisierung schon erfolgt ist, dann heißt die Aufgabe für die Pädagogik: Enttrivialisierung, auf andere Antworten aufmerksam machen, zu einer Vielfalt der Lösungen und Sichtweisen anregen. Man könnte diesem kleinen Bub zum Beispiel zeigen, daß sich eine Zahl auf äußerst vielfältige Weise beschreiben läßt. Wenn die Lehrerin die gewünschte Antwort „sechs“ erhalten hat, könnte sie weiterfragen: „Was ist sechs?“ Mögliche Antworten sind: Sechs ist die Wurzel aus 36, sechs ist 5 + 1 und 8 - 2, 6 ist 2 x 3 und 3 x 2.

B. P. Die Vielfalt der Sichtweisen ließe sich – und ich greife hier einen Vorschlag auf, den der Pädadoge und Medienkritiker Neil Postman einmal gemacht hat – auch dadurch stärken, indem man strikt beginnt, selbst die hard sciences als geschichtliche Disziplinen zu unterrichten, um eben diese Differenzerfahrungen zu machen, um zu zeigen, daß dieselbe oder eine ähnliche Frage im Laufe der Geschichte auf ganz verschiedene Weise behandelt wurde. Das heißt konkret: Wenn man in der Schule über Atome spricht, auch Demokrit zu erwähnen, Elektrizität mit dem Namen Faraday in Verbindung zu bringen, optische Phänomene mit den geschichtlichen Vorstellungen vom Sehen und Blicken zu verknüpfen, die bis in die Antike zurückreichen. Und so weiter. Neil Postman empfiehlt strikt, jedes Fach als Geschichte zu unterrichten. Allerdings wird es dann schwierig, wenn eine Vielfalt der Antworten prinzipiell gestattet ist, Prüfungen durchzuführen. Wie will man feststellen, was der Schüler weiß?

„Tests test tests“


H. F. Die übliche Methode besteht natürlich darin, Klausuren schreiben zu lassen, Hausaufgaben zu verteilen, die dann eingesammelt und bewertet werden. Aber das geht so nicht, das funktioniert nicht. Meine Auffassung ist, daß man niemals wissen kann, was der Schüler weiß. Da dieser Schüler ein nichttriviales System ist, muß er als analytisch unzugänglich gelten. Ich behaupte, daß all diese Prüfungen und Tests nicht den Schüler prüfen, sondern daß diese Prüfung sich selbst prüft. Mein diesbezügliches Theorem lautet: „Tests test tests.“

B. P. Mir leuchtet diese Formel noch nicht ein, sondern eher die übliche Annahme: Tests testen die Getesteten.

H. F. Ich werde Ihnen, um meine Überlegungen verständlich zu machen, ein Beispiel geben, das von einem der genialsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts erfunden wurde. Die Rede ist von dem Engländer Alan Turing, der sich mit der Frage konfrontiert sah: Können Maschinen denken? Gibt es künstliche Intelligenz? Um eine Antwort zu finden, schuf er den sogenannten Turing-Test, der einige Berühmtheit erlangte. Er ist für mich das Urparadigma eines Tests und wird noch heute von den Vertretern der Künstlichen Intelligenz tief verehrt. Worin besteht er? Man stelle sich vor: Da ist ein kleines Theater mit einem roten Samtvorhang. Und hinter dem Vorhang ist etwas, befindet sich eine nicht näher bekannte Entität. Vor dem Vorhang sitzen mehrere Gelehrte mit Zwickern, Brillen und langen Bärten. Diese Gelehrten dürfen jetzt diesem Etwas, dieser Entität Fragen stellen. Nach einiger Zeit werden sie sagen, daß sich hinter dem Vorhang eine Maschine oder ein Mensch befindet oder daß diese Frage unentscheidbar ist.

B. P. Wenn sie aufgrund der gegebenen Antworten glauben, daß sich hinter dem Vorhang ein Mensch befindet, es sich aber um eine Maschine handelt, dann muß der Maschine Intelligenz zugesprochen werden.

H. F. Genau, das ist die Idee. Meine Auffassung ist jedoch – und damit komme ich auf mein Theorem zurück – daß nicht die eventuelle Intelligenz der Maschine geprüft wird, sondern daß sich die Gelehrten selbst prüfen. Sie testen sich selbst, ob sie in der Lage sind, einen Menschen von einer Maschine zu unterscheiden. Und wenn ihnen dies nicht gelingt, dann sind sie eben durchgefallen. Meine Behauptung, die ich hier vertrete, lautet, daß im Grunde genommen die Prüfer geprüft werden – und nicht diese Entität, die hinter dem Vorhang sitzt und brav auf die Fragen Antworten gibt. Also nochmal: „Tests test tests.“

B. P. Was ist demgemäß ein gutes Zeugnis, das ein Schüler nach Hause bringt?

H. F. Dieses gute Zeugnis ist ein Beleg für eine geglückte Trivialisierung. Wenn man wirklich immer – klick, klick, klick – die gewünschten Antworten gibt, dann kriegt man gute oder hervorragende Noten, das ist alles. Einer meiner Studenten, ein Computerwissenschaftler, hat einmal ein sehr lustiges...