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Reisen in die Welt des Wahns - Ein Psychiater erzählt von inneren Stimmen, bizarren Botschaften und gefährlichen Doppelgängern

Reisen in die Welt des Wahns - Ein Psychiater erzählt von inneren Stimmen, bizarren Botschaften und gefährlichen Doppelgängern

Achim Haug

 

Verlag Verlag C.H.Beck, 2019

ISBN 9783406727443 , 256 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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14,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet freigegeben

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Mehr zum Inhalt

Reisen in die Welt des Wahns - Ein Psychiater erzählt von inneren Stimmen, bizarren Botschaften und gefährlichen Doppelgängern


 

Die traurige Geschichte der Tamara Grünfeld


Auch eine Geschichte über uns


Die Geschichte der Tamara Grünfeld handelt von Trillionen von mikroskopisch kleinen Menschen, die an seltsamen Orten wohnen. Sie handelt von Fabriken, die Straßengerüche kopieren können, und von klitzekleinen Lebewesen, die die Kleider von Königinnen klauen. Es ist eine spannende Geschichte, meist ziemlich bizarr, manchmal humorvoll und oft auch ein wenig melancholisch. Es ist aber vor allem die Geschichte der Tamara Grünfeld, meiner Patientin, der fröhlichen Russin, die fest auf dem Boden steht, auch als dieser zu wanken beginnt. Und die tapfer kämpft gegen den Verlust von sicher geglaubten Einschätzungen über ihre Welt. Es ist auch eine Geschichte über das, was sicher ist, und das, was wir nur für sicher halten. Damit ist es auch eine Geschichte über uns. Wenn der eine oder andere Leser vielleicht am Schluss selbst etwas verunsichert ist, würde mich das freuen, denn dies bringt uns näher an das Verständnis von Menschen mit Wahn.

Es ist eine wahre Geschichte. Ich habe nur gerade so viel verändert, dass Tamara nicht identifiziert werden kann. Obwohl es ihr wahrscheinlich nichts ausgemacht hätte. Vermutlich hätte sie mich nur lächelnd angesehen und spitzbübisch bemerkt, dass das aber nur ein Teil der Geschichte sei, nur der, den sie mir erzählt habe. Immer nur einen kleinen Teil erfahren wir vom anderen. Nur über einen Teil von diesem Teil kann ich hier berichten. Das Lächeln, wenn sie merkte, dass ich mehr von ihrem Erleben verstehen wollte, kann der Leser nicht sehen. Die Sorgenfalten, wenn sie über ihre Gewichtszunahme sprach, auch nicht. Das Parfüm, das sie an einem der guten Tage aufgelegt hatte, kann man nicht mehr riechen. Die vielen kleinen Gesten und Gesichtsausdrücke können in dem Bericht nicht vorkommen. Sie sehen nicht das blaue Faltenkleid mit dem großen weißen Blumenmuster und nicht den groben braunen Wollpullover im Winter. Es ist nicht dasselbe, als hätten Sie sie gekannt. Ich selbst sehe ihr Gesicht noch oft vor mir und überlege mir, ob ich ihr nicht hätte besser helfen können. Aber auch ich habe nur wenig von ihr gekannt. Vielleicht gelingt es, einen kleinen Teil davon festzuhalten.

Es ist eine wahre Geschichte, und am Ende ist es auch eine traurige Geschichte.

Stimmen von Leuten in mir


Tamara Grünfeld, meine Patientin, ist im Herbst in die psychiatrische Klinik eingeliefert worden. Es war ein sonniger Herbst, aber sie konnte die farbige Vielfalt an den Bäumen und auf den Wegen nicht genießen, die Stimmen hatten überhandgenommen. Sie ließen sie nichts mehr ohne Kommentare tun und machten ein selbstbestimmtes Leben unmöglich. Es sollte sich herausstellen, dass sich hinter dem Wort «Stimmen» viel mehr verbarg als Halluzinationen und viel seltsamere Geschichten, als sie in manchen Märchen beschrieben werden.

Es begann erst, als sie von Russland in den Goldenen Westen kam. Und es begann langsam und irritierend. Irgendein komisches Geräusch im Ohr. Eine Stimme, die gar nicht da sein konnte, weil niemand im Raum war. Tamara erinnerte sich nicht, wann es das erste Mal aufgetreten war. Es war kein sensationelles Elementarereignis, kein plötzlicher Vorgang, der mit einem Schlag ihr Leben verändert hätte. Es war reine Einbildung, das war klar, und zum Glück war es ja auch schnell wieder vorbei. Was blieb, war die Irritation über ein seltsames Erlebnis. Aber diese Irritation wurde rasch von der Praxis des Alltags verdrängt.

Dann kam es wieder. Es war nicht nur eine Stimme, es waren mehrere. Sie sprachen miteinander und Tamara konnte sogar verstehen, was die Stimmen sagten. Am Anfang war es noch etwas vage, aber als sie sich ein wenig darauf konzentrierte, wurde es ganz deutlich. Die Stimmen unterhielten sich über sie. Sie kommentierten, was Tamara gerade tat, und lachten darüber verächtlich. Wenn sie sich bückte, sagte eine hohe Frauenstimme:

Schau dir die dicke Matrone an, kommt kaum auf den Boden.

Das war nicht lustig, und am liebsten wäre es Tamara gewesen, sie hätte weiter davon ausgehen können, dass sie sich das nur einbilde. Aber das konnte nicht sein. Die Stimmen sprachen ganz deutlich. Es war auch nicht irgendetwas innerhalb ihres Kopfes, nicht wie ein Gedanke. Die Stimmen hörte sie mit ihren Ohren.

Stellen Sie sich vor, es gelingt jemandem, ganz dicht hinter Ihnen zu gehen. Er begleitet Sie, wohin Sie auch gehen, immer ist da jemand nah bei Ihnen. Sie drehen sich nicht um, aber Sie wissen, dass da jemand mit Ihnen läuft. Und diese Person flüstert Ihnen etwas ins Ohr. Nehmen wir an, die Person beschreibt, was Sie gerade machen. Jetzt sagt sie:

Sei doch ein bisschen konzentrierter. Der Text ist interessant, lies doch ein bisschen schneller!

Sie würden sich vermutlich bald doch umdrehen und sagen:

Lass den Quatsch und verschwinde!

Aber nehmen wir an, Sie könnten sich aus irgendwelchen Gründen nicht umdrehen. Die Stimme bleibt einfach da, egal was Sie tun. Das wäre doch ziemlich irritierend, oder? Aber das ist noch lange nicht alles, was Ihnen passieren kann.

Tamara wurde ziemlich schnell klar, dass da etwas Besonderes mit ihr vorging. Da waren die Stimmen, ohne dass jemand da war. Es waren Männer- und Frauenstimmen, sie hörte Kinder und Erwachsene, manchmal weinten auch Babys. Alle sprachen Deutsch. Sie beschimpften sie immer schwerer, an nichts ließen sie ein gutes Haar. Und sie schienen zu wissen, was bevorstand. Wenn sie vorhatte, ein Buch zu lesen, dann sagte eine Stimme:

Ach, mach’ doch lieber das Radio an.

Und wenn sie das Radio anmachte, sagte eine knurrige Männerstimme:

Radio, Radio, immer nur Radio. Die Musik stört doch nur, mach aus, mach aus!

Meist sprachen die Stimmen wie die Menschen, die Tamara kannte, gelegentlich hatten sie einen verspielten, albernen Tonfall.

Ha, ha, hi, hi, da ist ja unsere kleine Tamara, Tamilein, Tamuschka, hi, hi, ha, ha.

Zuerst war es völlig irritierend, aber im Vergleich mit dem, was noch kommen sollte, war es in der ersten Zeit nicht ganz so schlimm. Sie hatte sich langsam an die Stimmen gewöhnt. Und es war auch gar nicht mehr so unerklärlich. Sie hatte einen Verdacht, wie das alles zusammenhängen könnte. Vor allem aber waren die Stimmen nur immer wenige Minuten da, zusammengenommen vielleicht eine Stunde am Tag. Außerdem kamen sie meistens am Abend und ließen sie bei der Arbeit in Ruhe.

Einmal fragte ihre Kollegin in der Fabrik, ob alles in Ordnung sei, sie wirke so abwesend. Tamara schob Sorgen um ihren Onkel vor, sie habe einige Zeit nichts von ihm gehört und erreiche ihn nicht. Die Kollegin war nicht ganz überzeugt, fragte aber nicht wieder. Auch dann nicht mehr, als Tamara immer unkonzentrierter wurde, immer mehr Fehler machte und auch die Krankheitszeiten sich immer mehr häuften. Die Stimmen waren jetzt viel häufiger da. Sie ließen sie kaum einmal in Ruhe und lenkten sie fast dauernd ab. Nur im Schlaf hatte sie Ruhe, aber auch das Einschlafen wurde immer mühsamer. Immer noch waren es meist Beleidigungen, die sie sich anhören musste, aber immer wieder sagten die Stimmen auch etwas Schmeichelhaftes, etwas, was sie erstaunte. Allerdings passte es zu ihrer Vermutung, wie das alles zusammenhängen könnte. Die Stimmen sagten:

Wir können ohne dich nicht leben.

Irgendwann war es mir klar, woher kommen diese Stimmen, sagte sie in meiner Sprechstunde, Sie kommen aus mir!

Ich konnte das nicht verstehen.

Wieso aus Ihnen heraus, Sie haben doch erzählt, dass Sie die Stimmen in Ihren Ohren hören, so wie jetzt meine Stimme?

Ja, das stimmt, aber es sind die Leute, die in mir leben, sie sprechen über mich und das höre ich in meinen Ohren.

Welche Leute?, fragte ich.

Sie lehnte sich zurück, versuchte, sich zu entspannen wie vor einer langen, komplexen Erzählung, und begann, mir die ganze Geschichte zu erklären.

Was wirklich ist


Tamara erlebte die Stimmen als völlig real. Sie hörte sie mit den Ohren, es war nicht einfach ein laut empfundener Gedanke. Die Stimmen kamen von außen, sie bildete sich diese nicht ein, sondern sie hörte sie einfach. Die Stimmen waren mit der gleichen Sicherheit vorhanden wie die ganzen anderen Erlebnisse, die sie hatte.

Woher nehmen wir die Sicherheit, dass manches real ist, das wir erleben, und manches ...